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Manchmal, am Anfang eines Auftrages, suchte man den Boden ab, fand ihn unberührt und musste einfach zu graben beginnen, um zu sehen, was sich darunter befand; manchmal stellte man fest, dass er bereits von anderen durchwühlt worden war, und machte sich enthusiastisch in der lockeren Erde, die sie zurückgelassen hatten, an die Arbeit. Doch das hier war neu für Webster. Er konnte vermuten, was hier liegen musste und auch wo, fast konnte er es sehen, doch er kam nicht nahe genug heran, um mit dem Graben zu beginnen.

Nun saß er da, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, rutschte fast von seinem Stuhl, starrte an die Wand und fragte sich, was er tun sollte, wenn die Fläche zu klein wurde. Er hatte eine Skizze erstellt. Sie bestand aus acht großen Flipchart-Bögen und nahm eine ganze Wand seines Büros ein. Darauf schrieb er mit weichem schwarzem Bleistift alles Wichtige über das Projekt Schneeglöckchen (Ikertu, immer auf der Suche nach neuen Projektnamen, arbeitete sich derzeit durch die Blumenwelt). Er hatte oben links einen Kasten für Malin eingezeichnet, unten links einen für Faringdon; oben rechts stand Lock und unten rechts Gratschow. Jeder Kasten enthielt in kursiven Großbuchstaben wachsende Listen von Ideen, Merkmalen, Fakten. In der Mitte des Diagramms hatte er eine Art komplexes Molekül skizziert, das sich nach außen ausbreitete: Kreise von unterschiedlicher Größe, durch Pfeile verbunden und mit Namen von Menschen, Unternehmen, Organisationen und Orten versehen: Lock, Malin, Faringdon, Langland, Uralsknefteprom, Rosenergo, Ministerium für Industrie und Energie, Kreml, Berlin, Cayman Islands, Irland. Mindestens ein Dutzend Kreise waren rot untermalt: Dominic Swift, Ken McGee, Savas Onder, Mikkel Friis, Marina Lock, Dmitri Gerstman und andere.

Seine Rechercheure hielten seine Bleistift-und-Papier-Methode für primitiv, wenn nicht gar lächerlich; sie hatten Datenbanken, die solche Informationen in Sekundenschnelle abbilden konnten und niemals etwas übersahen. Webster erklärte ihnen geduldig, dass seine Notizwand keine Berechnung darstellte, sondern eine zentimeterweise Annäherung an die Wahrheit; etwas, das Erfahrung und Intuition, Geduld und ein sanftes Auge verlangte. Dies hier war gleichzeitig großartiger und düsterer als eine Untersuchung von etwas so Banalem wie einem Verbrechen: Es war eine Schlacht, die in der Stille ausgetragen wurde, eine Schlacht, bei der der Sieg demjenigen gehörte, der am besten die Schwächen seines Feindes erfasste. Hier lag Malins Welt ausgebreitet vor ihm, und bevor er diese nicht wirklich verstand – und wusste, wie sie für Malin selbst aussah –, konnte er nicht hoffen, sie auseinanderzunehmen.

Doch nach vier Wochen hatte er immer noch nicht mehr als eine frustrierend schwache Vorstellung davon. Er hatte vier Rechercheure jeden Zeitungsartikel in Englisch oder Russisch, den sie finden konnten, lesen lassen. Zwei hatten Malin und das Ministerium übernommen, einer Faringdon, Langland und alle Unternehmen, die damit verbunden waren, und der vierte hatte sich ganz auf Lock und Gratschow konzentriert. Zwei weitere hatten sich tief in die Handelsregister vergraben, das von Lock geschaffene Netzwerk rekonstruiert und anhand der spärlichen Information versucht zu analysieren, was diese Unternehmen eigentlich taten.

Begonnen hatten sie mit Faringdon. Das Handelsregister in Dublin gab ihnen die Namen der Direktoren (Lock und ein Schweizer Staatsbürger namens Ulrich Rast), eine Adresse und die Anteilseigner: neun weitere Offshore-Unternehmen, jedes davon um einige Grade obskurer als ihre irische Tochter. Ansonsten hatten sie nicht viel. Die Adresse gehörte zu einem Unternehmen, dessen Existenz einzig und allein dazu diente, andere Unternehmen zu gründen und zu verwalten und das deshalb ohne Bedeutung war; der Secretary des Unternehmens arbeitete für die gleiche Firma. Auch Rast war nur ein professioneller Verwalter, wenn auch von der eher teuren Schweizer Sorte. Der einzige interessante Anhaltspunkt waren die neun Anteilseigner; ihre hohe Anzahl war ungewöhnlich und der Zweck dieser Struktur nicht erkennbar. Es legte die Vermutung nahe, dass hier jemand entweder sehr clever oder sehr bedacht vorging. Zumindest war Faringdon selbst aktiv; zumindest tat es etwas. Es kaufte Unternehmen oder Anteile daran. Beim Durchforsten der Presse – in Russland, Aserbaidschan, Bulgarien, Kasachstan, der Ukraine – stießen Websters Rechercheure auf achtzehn Deals, die Faringdon abgeschlossen hatte, und notierten sich sorgfältig Zeitpunkt und Umstände jedes einzelnen. Dann untersuchten sie jeden der Vertragspartner, jeden Mit-Anteilseigner und hielten ihre Ergebnisse auf einem immer größer werdenden Plan fest, in der Hoffnung, Muster, Übereinstimmungen oder irgendetwas von Bedeutung zu finden.

Das Ergebnis war nicht sehr erhellend. Ging man von Faringdon aus nach unten, sah man achtzehn Investitionen ohne ein ersichtliches gemeinsames wirtschaftliches Thema oder einen logischen Zusammenhang, eher zusammengewürfelt als arrangiert. Blickte man nach oben, sah man praktisch gar nichts. Die neun Anteilseigner dazwischen hatten ihren Sitz auf winzigen Inseln, die alle souveräne Staaten waren und sich ausnahmslos wenig kooperativ zeigten, wenn es um die Herausgabe von Informationen ging. Alles, was Websters Leute hatten finden können, waren eine Adresse und die Namen einiger Direktoren (Locks Name war wieder darunter, der Rest bestand aus reinen Strohmännern). Es gab keine direkte Möglichkeit zu erfahren, wem diese Unternehmen gehörten, wie viel Geld sie umsetzten, wo das Geld herkam und wo es hinging. Jedes Projekt traf irgendwann auf eine solche Wand, und Webster war daran gewöhnt. Man hatte Mittel und Wege, sie zu umgehen, doch diese waren illegal und schwierig, und die Informationen, die man auf diese Weise erhielt, waren selten so nützlich wie erhofft. Was erwartete er auch dort zu finden, außer einer weiteren Schicht gleichen Musters?

In Russland selbst neigte er im Moment noch dazu, vorsichtig zu sein. Hammer und er hatten diesen Punkt ausführlich diskutiert. Hammer war dafür, vor allem Lock wissen zu lassen, dass Fragen über ihn gestellt wurden, doch Webster wollte lieber warten, bis er seine Zielperson besser kannte. Deshalb hatte er bisher lediglich Alan Knight, den seltsamsten Engländer im Ural, gebeten, vor Ort einiges zu recherchieren.

Folgendes stand also an der Wand: Erstens wusste er, dass nur sehr wenige Leute etwas über Malin wussten. In Russland musste man intensiv suchen, um überhaupt etwas über ihn zu finden, und im Westen gab es gar nichts. Sein Name erschien auf einer Liste von Teilnehmern eines Treffens im Kreml im Jahr 2000, das Manager von Energieunternehmen mit Wissenschaftlern und Politikern zusammengebracht hatte. 2002 hatte er als Teil einer russischen Delegation, zu der der damalige Minister für Industrie und Energie gehörte, an Gesprächen in Budapest teilgenommen; im darauffolgenden Jahr war er als Mitglied einer ähnlichen Gruppe in Almaty gewesen. Laut einem ukrainischen Blog zählte er zu den Kreml-Insidern, die die Entscheidung der Russen, im Jahr 2006 die Gaslieferungen an die Ukraine zu blockieren, beeinflusst hatten. Später im gleichen Jahr hatte er den Verdienstorden des Staates erhalten für »hohe Verdienste in der wirtschaftlichen Produktion und für die Förderung der wahren Werte von Russlands ökonomischen Ressourcen.« Echter Fünfjahresplan-Jargon, hatte Webster gedacht, doch die russische Presse hatte kaum Interesse gezeigt. Webster war davon ausgegangen, irgendwelchen Schmutz zu finden, weil jeder wichtige Mensch irgendwo Dreck am Stecken hatte. Wenn man mächtig genug war, hatte man Feinde, und diese Feinde schrieben schlechte Dinge über einen – oder erfanden notfalls welche. In Russland nannte man das Kompromat, kompromittierendes Material. Doch es gab kein Kompromat über Malin – schwer zu glauben, dass jemand, der so korrupt war, so makellos erscheinen konnte –, und ohne wusste man kaum, wo man anfangen sollte.

Auch über Lock fand er wenig Interessantes. Sein Name stand auf ein paar Tausend Unternehmensdokumenten und in zahllosen Zeitungsartikeln, aber nichts davon war aufschlussreich. Jedes Mal, wenn Faringdon etwas kaufte oder verkaufte oder eine Kooperation ins Leben rief, tauchte er als Sprecher für das Unternehmen auf und lieferte ein Zitat – immer uninteressant, immer der abgesegneten Pressemitteilung entnommen. Websters Rechercheur hatte zwei Fotos im Moskauer Klatschmagazin Profil gefunden, die Lock zusammen mit unglaublich glamourösen jungen Frauen auf Partys zeigten. Webster war froh, zumindest zu wissen, wie er aussah: aschblond, breites Gesicht, die dünnen Lippen verschwanden fast vollkommen und erinnerten an jemanden, der der Welt zu oft »Nein« gesagt hatte. Seine Haut war um die Wangenknochen herum leicht pockennarbig, aber seine Augen waren blau und klar. Weniger verlebt hätte man sein Gesicht als attraktiv bezeichnet. Auf beiden Bildern lächelte er und trug eine einstudierte Unbekümmertheit zur Schau, und auf beiden trug er gut geschnittene Anzüge, die irgendwie zu seinem lässigen Gesichtsausdruck im Widerspruch standen und inmitten des Moskauer Glitters fehl am Platz schienen.

Das war alles, was Webster derzeit über Locks Leben wusste. Er wusste auch ein wenig über das Leben, das er vor Russland geführt hatte, doch die beiden Enden waren nur schwer miteinander in Verbindung zu bringen. Er war 1960 in Den Haag geboren. Seine Eltern waren Holländer, aber Ende der 60er Jahre nach London gezogen, als sein Vater von der Royal Dutch Shell dorthin versetzt worden war. In Großbritannien hatte Lock eine normale Mittelklasse-Bildung genossen – Internat, Geschichtsstudium an der Nottingham University, Jura-Aufbaustudium in Keele – und nach dem Abschluss in einer angesehenen, wenn auch nicht prominenten Londoner Anwaltskanzlei namens Witney & Parks angefangen, die auf Handels- und Versandrecht spezialisiert war. Er hatte eine Schwester, die Webster jedoch noch nicht ausfindig gemacht hatte. In seinem letzten Schuljahr waren seine Eltern zurück nach Holland gezogen, aber er war in England geblieben. 2002 starb seine Mutter im gleichen Krankenhaus, in dem Lock geboren worden war; sein Vater lebte seitdem in dem Küstenstädtchen Noordwijk.

Ansonsten gab es nichts: kein Profil in den Zeitungen, keinen öffentlichen Zank mit Konkurrenten, keinerlei Skandale. Niemand hatte sich bisher die Zeit genommen, diesen Mann interessant zu finden – zumindest nicht in der Öffentlichkeit. Bei Gratschow war es noch schlimmer, eine komplette Nicht-Existenz; und auch wenn die Unternehmen sich reger verhielten, geschah nichts, was Websters Instinkte weckte. Seine Rechercheure hatten ihm die Geschichte von Faringdon und Langland aufbereitet, aber in beiden Fällen war das lediglich eine Liste von Transaktionen: hoffnungslos trocken an der Oberfläche und darunter undurchdringlich. Er stellte sich vor, dieses wenige an Tourna zu berichten, und erkannte, wie viel sie sich mit diesem Fall eigentlich vorgenommen hatten.

Er hatte noch keine Story, obwohl er wusste, dass die Story entscheidend war. Was er zu entdecken hoffte, war ein Weg, die ersten Meter eines Pfades: sei es ein Hinweis auf einen Charakter oder die Andeutung eines geheimen Vorkommnisses. Er hatte es noch nicht. Hammer sagte oft, wenn das, was man brauchte, nicht in Reichweite auf einem Stück Papier zu finden war, dann war es in jemandes Kopf. Also würde er vielleicht einfach früher als geplant mit Leuten reden müssen. Die Namen, die an der Wand eingekreist waren, kannten Lock oder Malin und hatten mit ihnen Geschäfte gemacht. Einige von ihnen würden loyal ihnen gegenüber sein, andere nicht, und Webster hätte es vorgezogen, sich erst mit ihnen zu befassen, wenn er sich über seinen Plan und über die Loyalitäten der zu Befragenden im Klaren war. Sei’s drum. Und bis dahin gab es immer noch Alan Knight.


Die einzigen Anzeichen dafür, dass Alan Knight Engländer war, waren sein Name, seine Aktentasche und sein Akzent, ein sanftes Derbyshire-Schnurren, das, wenn er nervös wurde, zu einem Murmeln herabsank. In allem anderen hatte er sich während der letzten zwanzig Jahre kontinuierlich zum Russen entwickelt. Selbst jetzt, im kaum herbstlichen London, trug er schwere schwarze Schuhe mit Gummisohlen und einen dicken Steppmantel, der weit unterhalb der Knie endete. Darunter befanden sich, wie Webster wusste, ein Blazer, und ein kurzärmeliges Hemd. Seine Hose war mindestens einen Zentimeter zu kurz, mittelgrau und mit militärischer Präzision gebügelt. Er trug eine Brille mit Metallrahmen und hellbraunen Gläsern, und die einzigen Farbtupfer in seinem Gesicht waren die rote Nase und, gerade eben sichtbar, seine graublauen Augen. Er war etwa fünfzig und hatte einen gebückten Gang, gebeugt vom Gewicht der Dinge, die er wusste.

Knight lebte in Tjumen im östlichen Ural, der Hauptstadt der russischen Ölindustrie, mehr als 1500 Kilometer von Moskau entfernt, am Rand der reichen kahlen Ebene Westsibiriens. Es gab viele Westler in Tjumen, doch sie alle lebten in Wohnanlagen für Ausländer, schickten ihre Kinder auf die amerikanische Schule und verschwanden wieder, so schnell sie konnten. Knight war ein Einheimischer. Er hatte seine Frau dort kennengelernt, in den letzten Tagen der Sowjetunion. Er hatte sie geheiratet, sobald das möglich wurde, und war geblieben. Seine drei Kinder besuchten alle die russische Schule im Ort. Er ernährte seine Familie, indem er für westliche Zeitungen über Öl schrieb und für Unternehmen wie Ikertu arbeitete.

Webster hatte keine Ahnung, ob ihn das reich oder arm gemacht hatte, aber Knight war zweifellos wertvoll, er kannte das Geschäft mit Öl und Gas besser als irgendjemand anderes außer den Russen selbst. Wie es kam, dass man ihn so viel wissen ließ, hatte Webster schon immer interessiert: Entweder wurde er von jemandem bezahlt, oder er war einfach zu unwichtig, um wahrgenommen zu werden. Doch Webster kannte ihn seit fünfzehn Jahren, seit seiner eigenen Zeit in Russland, und hatte nie irgendwelche Parteilichkeiten in seinen Informationen bemerkt. Jedenfalls war das in diesem Fall auch ziemlich egal, denn wenn Knight ihm nichts Interessantes berichten konnte, war nichts verloren, und wenn er wusste, dass Ikertu Nachforschungen über Malin anstellte, und es weitererzählte, würde es die Sache nur beschleunigen.

Knight war seinen Wahl-Landsleuten noch in anderer Hinsicht ähnlich: Er hatte ehrliche Angst vor Macht. Ihm Anweisungen zu übermitteln, war umständlich und teuer. E-Mail-Korrespondenz mit seinem russischen Account über irgendetwas von Belang war verboten. Er kam regelmäßig nach London, und Webster kannte seinen Zeitplan, doch wenn er eine dringliche Aufgabe hatte, musste er ihm eine E-Mail mit der Frage senden, wann er wieder in England sein würde. Dann verließ Knight Tjumen und flog nach Istanbul, wo er von einem türkischen E-Mail-Account seinen eigentlichen Auftrag abrief, den Webster ihm zeitgleich zugeschickt hatte. Bevor Knight aus Russland herausflog, um seinen Bericht zu erstatten, war jegliche Korrespondenz über den Fall unmöglich, außer wenn Webster ihn zu diesem Zweck nach London einfliegen ließ. Klienten, die diese Regeln missachteten, wurden von Knights Liste gestrichen. Webster und andere akzeptierten dieses Maß an Vorsicht, weil Knight gut war und keine Konkurrenz hatte. Die russische Wirtschaft war legendär undurchsichtig und der Energiesektor ihr dunkles Zentrum. Knight gehörte zu den wenigen, die direkt vom Rand aus dort hineinschauen konnten.

Diesmal trafen sie sich im Chancery Court Hotel in Holborn. Webster hatte es ausgewählt, weil es anonym und ruhig war und dort niemals Russen abstiegen. Knight weigerte sich, das Ikertu-Büro zu betreten. Es war Vormittag, und in der Hotellobby hielt sich kaum jemand auf. Webster war früh: Er nahm sich einen Stuhl und spielte gedankenverloren mit seinem BlackBerry. Dies war ein wichtiger Moment. Hoffentlich hatte Knight nützliche Informationen.

Fünf Minuten später erschien er. Er wirkte fahrig und erhitzt in seinem Mantel. Als Webster ihn begrüßte und seine Hand schüttelte, erinnerte er sich an seinen säuerlichen, sanften Geruch nach Tabak und Moder.

»Schön, Sie wiederzutreffen, Alan«, sagte Webster. »Sie sehen gut aus.«

»Hallo, hallo«, sagte Knight und schaute sich die drei oder vier Gäste an, die auscheckten oder selbst wartend herumsaßen. »Können wir woanders hingehen? Lassen Sie uns woanders hingehen.«

»Warum? Hier ist es doch in Ordnung. Es ist praktisch niemand hier.«

»Das ist es nicht. Wer weiß, dass wir uns treffen?«

»Ein oder zwei Leute von Ikertu. Alan, was haben Sie denn?«

»Nichts, nichts. Nein, nichts. Ich muss nur sichergehen.«

»Wirklich?«, fragte Webster mit einem Anflug von Gereiztheit in der Stimme. »Okay. Gehen wir.«

Sie verließen das Hotel, und Webster rief ein Taxi. »Zum Ludgate Circus, bitte.« Er drehte sich zu Knight um. »Ich kenne ein Café, ungefähr zehn Minuten von hier entfernt«, sagte er. »Dort sitzt zwischen Frühstück und Mittagessen nie jemand, und wenn doch, ist es groß genug, dass kein Mensch mithören kann. Wenn Sie den Eindruck haben, dass man uns folgt, lassen Sie es mich wissen.« Er lehnte sich zurück und betrachtete die Welt durch das Fenster, wobei er sich fragte, was in aller Welt in Alans Kopf vorging. Knight rutschte von Zeit zu Zeit in seinem Sitz hin und her und beobachtete die Autos, die ihnen folgten.

In dem Café, das von ihnen abgesehen tatsächlich leer war, bestellten sie Tee und setzten sich an einen Tisch in der hintersten Ecke, weit weg vom Fenster. Knight zog seinen Mantel aus und setzte sich mit dem Rücken zur Wand. Er ließ die Tür nicht aus den Augen.

»Ist es hier besser?«, fragte Webster.

»Tut mir leid. Ja, ja, hier ist es besser.«

»Haben Sie meine Mail bekommen?

»Das habe ich. Ich hätte sie löschen sollen. Und eigentlich hätte ich Ihnen gleich absagen sollen.«

Webster sah ihn verständnislos an.

»Haben Sie Ihr Handy dabei?«, fragte Knight.

»Ja.«

»Wir sollten die Akkus herausnehmen.« Knight holte sein Handy aus einer Innentasche und entfernte nach einem kurzen Kampf mit dem Gehäuse den Akku. Webster tat das Gleiche und wartete darauf, dass Knight anfing zu sprechen.

»Ihr russischer Freund – der große. Verdammt, Ben. Das ist eine richtig große Nummer. Kein Witz.«

»Sie meinen Malin?«

»Arbeiten Sie für Tourna?« Knight sprach jetzt Richtung Tischplatte und so leise, dass Webster ihn kaum verstehen konnte.

»Wollen Sie’s wissen?«

»Du lieber Gott. Nein. Nein, das will ich nicht.« Knight starrte auf seinen Löffel, den er zwischen seinen Händen hin und her drehte, und schaute nur gelegentlich hoch.

»Alan, ich weiß, dass Sie mich für ein Greenhorn halten, der mit Dingen spielt, die er nicht versteht, aber man kann die Vorsicht auch übertreiben. Hier ist niemand. Niemand kann uns hören. Selbst wenn jemand weiß, dass wir zusammen sind, weiß er noch nicht, worüber wir reden. Sie wissen offenbar etwas über die ganze Geschichte. Wie ich Sie kenne, ist das eine Menge. Und ich habe bisher praktisch nichts herausgefunden. Was können Sie mir erzählen?«

Knight hob den Kopf und schaute Webster an, als wollte er sich ein für allemal seiner Ehrlichkeit vergewissern. Nach einem Moment sagte er: »Ich will kein Honorar, keinen Kontakt, gar nichts. Was ich Ihnen hier sage, ist alles, was ich zum jetzigen Zeitpunkt weiß. Ich werde an dieser Sache nicht mitarbeiten. Und keine Notizen.«

»In Ordnung. Das ist enttäuschend, aber ich verstehe das. Sagen Sie mir einfach so viel Sie können.«

»Okay, okay.« Knight spielte immer noch mit seinem Löffel. »Okay.« Er lehnte sich wieder nach vorne, als säßen am Nachbartisch Leute, die jedes seiner Worte belauschten. Das Café war immer noch leer. »Zunächst einmal ist er mächtig. Er selbst. Mit vielen Befugnissen. Er ist länger im Ministerium als irgendjemand anderes. Er schmeißt den Laden. Das macht er bereits seit sieben oder acht Jahren.«

»Wie hat er das geschafft?«

»Neuer Minister, neue Regierung. Er hat seine Chance erkannt und sie ergriffen. Er wusste mehr als alle anderen. Kontrollierte sowieso schon alles. Und er verkaufte dem Kreml eine Vorstellung davon, was Russland sein könnte.« Knight schaute zur Tür und wieder zu Webster zurück, der seinen Tee trank und wartete, dass Knight weitersprach.

»Nochmals: Er ist mächtig. Kein zweitklassiger Weltbürger. Wussten Sie, wie viel Gas Russland besitzt? Ein Fünftel des Gesamtvorrats. An manchen Tagen produziert es mehr Öl als die Saudis. Schauen Sie sich den Anstieg der Produktion an, seit Jelzin weg ist. Das bewirkt nicht die Dynamik des Privatsektors, sondern Druck aus dem Kreml. Und Ihr Freund sitzt an der Schaltstelle. Er ist im Kreml, um die Politik mitzubestimmen, und im Ministerium, um sie dann in die Tat umzusetzen.«

Knight legte seinen Löffel hin und schaute Webster zum ersten Mal gerade in die Augen.

»Und warum ist er so Furcht einflößend?«, fragte Webster und erwiderte seinen Blick.

»Wegen dem, was er vorhat.«

»Und das wäre?«

»Jeden Winter dreht Russland der Ukraine die Pipelines zu, stimmt’s? Die Presse überschlägt sich, die Ukraine macht eine Menge Lärm, in den Verhandlungen selbst geschieht wenig, und dann wird das Ventil wieder geöffnet. Dabei geht es nicht darum, wie viel die Ukraine für ihr Gas bezahlt. Es geht um Russland, das die Welt daran erinnert, dass es da ist und dass man ihm nicht vertrauen kann. Alles kann passieren. Vielleicht hören die Russen ganz auf, Europa zu beliefern. Im letzten Winter haben die Rumänen gefroren, das nächste Mal sind es vielleicht die Deutschen.«

»Okay. Was hat Malin also im Sinn?«

»Sind Sie sicher, dass Sie das wissen wollen?«

»Ganz sicher.«

»Es wird Ihrem Fall nicht helfen.«

»Alan, sagen Sie’s mir einfach. Ich brauche etwas. Wenn ich es nicht verwenden kann, haben Sie nichts zu befürchten.«

»Okay«, sagte Knight und sah so aus, als sei er endlich bereit anzufangen, rief aber dann doch zuerst die Kellnerin herbei, um weiteren Tee zu bestellen. »Wollen Sie etwas?«

»Nein, danke.«

Als die Kellnerin wieder am anderen Ende des Raumes war, redete er weiter. »Okay. Er will Russland noch mächtiger machen. Das ist es, wozu Faringdon da ist. Ihre Freundin hatte recht.«

»Welche Freundin?«

»Das Mädchen. Die Journalistin. In ihrem Artikel.«

»Inessa?«

»Ja.«

»Welcher Artikel? Sie hat nie darüber geschrieben.« Er war verunsichert und verärgert bei dem Gedanken, dass Knight etwas über Inessa wusste, das ihm selbst verborgen geblieben war. Immer noch versetzte ihm jede Erwähnung von ihr einen scharfen Stich durcheinanderlaufender Emotionen: den Drang, ihr Andenken zu schützen, das schmerzhafte Bedürfnis, zu erfahren, wer sie getötet hatte, und die schreckliche latente Angst, inzwischen fast zur Gewissheit geworden, dass er es nie sicher wissen würde. Durch all diese Gefühle zog sich wie ein roter Faden die Beschämung, dass er nicht genug unternommen hatte, es herauszufinden. Er hatte das seit langer Zeit nicht mehr verspürt, aber hier war es wieder: vertraut und frisch zugleich.

»Sie war die Einzige, die darüber geschrieben hat. Ist schon Jahre her.« Er sah Webster einen Moment lang an, ehrlich erstaunt. »Und Sie haben es nicht gelesen?«

Webster schüttelte den Kopf. Er kannte Inessas gesamte Arbeit. In den Monaten nach ihrem Tod hatte er alle ihre Artikel gelesen, sie auseinandergenommen, nach Themen sortiert, hinter jedem Wort nach irgendeiner Art von Gewissheit geforscht. Hatte er etwas übersehen? Oder hatten zwanzig Jahre Arbeit in einem Umfeld von Öl und Verschwörungstheorien dafür gesorgt, dass Alan langsam anfing, sich Dinge einzubilden?

»In Energy East Europe. Muss im Sommer ’99 gewesen sein«, sagte Knight.

»Nein.« Und außerdem: Wie kam es, dass seine Rechercheure das übersehen hatten?

»Lesen Sie es halt. Es war nicht viel, aber in meiner Welt hat es ziemliche Wellen geschlagen.«

Webster nickte. Er hasste es, sich dumm vorzukommen, und ganz besonders hasste er es, nicht vorbereitet zu sein. »Das werde ich.«

»Ich wollte nicht an alte Wunden rühren.«

»Ist schon okay.« Er öffnete den Verschluss seiner Armbanduhr, zog sie vom Arm und begann sie aufzuziehen. »Das werde ich.« Er schaute hoch zu Knight. »Erzählen Sie mir von Faringdon.«

Der ungläubige Blick hatte Knights Gesicht noch nicht völlig verlassen, doch er änderte bewusst den Tonfall und begann. »Es ist ein Vehikel. Es kauft Dinge. Schauen Sie sich alles an, was Faringdon besitzt. Raffinerien in Bulgarien und Polen, neue Ölfelder in Usbekistan, alte Ölfelder im Kaspischen und im Schwarzen Meer – du lieber Himmel, sogar PVC-Fabriken in der Türkei.« Knight war jetzt erregt und redete schneller, aber nicht lauter als vorher. »Förderung, Vermarktung, Verarbeitung. Es ist riesig. Es muss das größte private Energiekonsortium der Welt sein, ich kenne wahrscheinlich nicht einmal die Hälfte davon, und Sie ganz sicher weniger. Ihre Freundin bekam es zu fassen, als es mehr oder weniger neu geboren war. Seitdem ist es ständig gewachsen. Nun, was glauben Sie, wozu es dient?«

»Ein Sparstrumpf für Malin? Etwas, in das er das ganze Geld stecken kann, das er auf die Seite schafft.«

»Das stimmt zum Teil, aber trotzdem nein. Es ist da, um zurückzugewinnen, was Russland seit 1989 verloren hat. Es ist Teil des neuen Wirtschaftsimperiums. Nehmen Sie Faringdon mit allem, was den großen Ölfirmen gehört, und Gazprom und alles andere, und Sie erhalten ein Russland, das die Energieindustrie der Hälfte seiner Nachbarn kontrolliert – mindestens.«

»Erschreckender Gedanke.«

»Nicht wahr? Es bedeutet, dass sie über alles, was vor sich geht, Bescheid wissen. Und wenn die Kacke am Dampfen ist, gehört ihnen die Hälfte der wichtigen Unternehmen.«

Webster saß und dachte darüber nach. Er war nicht sicher, ob das alles einen Sinn ergab.

»Ich kann eine gewisse Logik darin erkennen. Allerdings verstehe ich nicht, warum sie sich diese Mühe machen. Wenn es eine richtige Krise gibt, werden sie nicht in der Lage sein, das zu kontrollieren, was ihnen gehört. Und wenn sie die Tatsache verheimlichen, dass es ihnen gehört, werden sie nicht erreichen, dass irgendjemand vor ihnen Angst hat.«

»Es geht um Einfluss, Ben. Und darum, Optionen zu haben. Und sie wissen, dass es ihnen gehört, das gibt ihnen das Gefühl, schlauer zu sein als die anderen. Was sie natürlich auch sind.«

»Und darum, Geld zu verdienen.«

»Und Geld zu verdienen.«

»Was ist mit Lock? Warum wurde er ins Boot geholt?«

»Der Strohmann? Weil das alles jemandem gehören muss. Zumindest nach außen.«

»Aber warum ausgerechnet er?«

»Warum ausgerechnet irgendwer von diesen Leuten? Es gibt immer einen. Ich glaube nicht, dass es zählt, wer es ist.«

Knight hatte recht, dachte Webster: Das hier nützte ihm überhaupt nichts, egal, wie viel davon stimmte. Er musste Malin Korruption nachweisen, nicht Größenwahn. Knights Tee wurde gebracht. Die ersten beiden Finger seiner Hand waren orange vom Nikotin. Normalerweise, dachte Webster, hätte er mittlerweile mindestens eine Zigarette geraucht. Er erinnerte sich daran, wie Knight sich ereifert hatte, als Aeroflot schließlich auf allen Flügen das Rauchen verboten hatte.

»Kennen Sie Gratschow?«, fragte Webster.

»Nikolaj? Ja. Er ist eine Marionette. Und ein Schnüffler. Er ist ein alter Geheimdienstmann, FSB. Nicht gerade ein Händler, im Gegensatz zu seinem Vorgänger.«

»Ja, worum ging es eigentlich dabei? Wenn das, was Sie sagen, tatsächlich stimmt, warum ließ man dann Gerstman gehen?«

»Das«, sagte Knight, »ist eine ausgezeichnete Frage. Ich habe einmal versucht, ihn zu interviewen, etwa ein Jahr, bevor er ging. Nicht besonders kooperativ. Außerdem nur ein junger Bengel. Er war anders, eher ein Technokrat. Ganz anderer Schlag, das – kein Ölmann. Er hätte auch in einer Bank sitzen können. Sogar in einer westlichen.«

»Haben Sie seither mit ihm gesprochen?«

»Seit er gegangen ist? Nein, gab keinen Grund dazu. Zu empfindliches Terrain. Ich habe gehört, dass er wirklich gegangen ist und nicht nur so getan hat, als ob. Er lebt jetzt in Berlin, glaube ich. Gott weiß, was er da macht, aber es gab das Gerücht, er und Malin hätten sich zerstritten.«

»Worüber?«

»Ich habe keine Ahnung, Ben. Nicht die geringste. Alles wäre möglich.«

Das war zumindest etwas.

Webster spielte in seinem Kopf alle Fragen durch, die er Knight stellen könnte, und verwarf die meisten, zum einen, weil er nicht zu viel verraten wollte, und zum anderen, weil er die Antworten vorhersagen konnte. Eine Frage hatte er dennoch.

»Wie sicher ist Malin? Ich meine, politisch gesehen?«

»Wieder eine gute Frage.« Knight trank einen Schluck Tee. »Absolut sicher, soweit ich weiß. Nun ja, so sicher, wie jemand wie er in Russland sein kann. Ich vermute, Trotzki fühlte sich damals auch ziemlich sicher. Sagen wir mal: Ich habe keine Idee, was ihn erledigen könnte.«

»Warum sind Sie dann so nervös?« Das war vermutlich die persönlichste Frage, die Webster ihm jemals gestellt hatte, und er achtete sorgfältig auf Knights Reaktion.

»Das ist der Teil, über den ich lieber nicht sprechen würde, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«

»Sie können das doch nicht einfach so stehenlassen!«

»Doch, Ben, das kann ich. Verdammt noch mal, Sie haben keine Ahnung, oder? Überhaupt keine.« Er nahm einen letzten Schluck Tee. »Das ist alles. Alles, was Sie bekommen.«

»Alan. Sagen Sie mir wenigstens so viel: Hat es mit etwas zu tun, das Malin schaden könnte?«

Knight seufzte frustriert. »Lieber Himmel, Ben.« Er machte eine Pause. »Nein, hat es nicht. Ganz im Gegenteil, zum Teufel. Das reicht jetzt aber.«

Webster schaute ihn einen Augenblick lang an und sah, dass er es ernst meinte. »Okay, Alan. Tut mir leid. Danke, dass Sie mir so viel gesagt haben. Ich weiß das zu schätzen.«

»Versprechen Sie mir einfach, keine E-Mails mehr zu schicken.«

»Versprochen. Und Sie sind wirklich sicher, dass Sie kein Geld wollen?«

»Ganz sicher, mein Junge. Ganz sicher. Sie können meinen Tee bezahlen.«

Webster zahlte den Tee, und sie trennten sich vor dem Café. Während Webster zurück zu Ikertu ging, trat Knight in die Sonne hinaus, um seinen nächsten Klienten zu treffen, tief in seinen Mantel vergraben.


Wieder im Büro angekommen, unterdrückte Webster den Drang, sein Team anzuschreien, schloss sich in seinem Büro ein und begann, nach Inessas Artikel zu suchen. Er durchforstete jede Datenbank, die er kannte, riesige Lagerstätten von Artikeln aus Zeitungen, Zeitschriften und unvorstellbar obskuren Handelsmagazinen aus aller Herren Länder. Das meiste von Inessas Schriften war hier zu finden – die gradlinigen frühen Artikel, die ihr wachsendes Engagement verrieten, die langen Investigativberichte für die Nowaja Gaseta, die Handvoll Artikel in englischer Sprache –, doch er schoss immer daran vorbei in der erfolglosen Suche nach dem einen Text, von dem er halb überzeugt war, dass er nicht existierte, außer vielleicht in der zunehmend verdrehten Vorstellung eines Alan Knight. Er suchte nach Inessas Namen, nach Faringdon, nach Lock, nach Malin, in lateinischen und kyrillischen Texten. Er probierte jede mögliche Transliteration ihres Namens und mehrere naheliegende falsche Schreibweisen. Der Artikel war einfach nicht da.

Schließlich, voller Angst, ihn zu finden, und voller Angst, ihn nicht zu finden, recherchierte er bei Energy East Europe selbst, einer Zeitschrift, die er nur vage kannte. Die ersten erfassten Artikel waren vom März 2001, hörten aber im April drei Jahre später wieder auf, was die Vermutung nahelegte, dass die Zeitschrift nicht mehr existierte. Einige der Artikel hatten in der Form von Verweisen oder nicht genehmigten Übernahmen auf anderen Seiten den Weg ins Internet gefunden, und mit dem, was er dort fand, konnte Webster sich erklären, warum er nicht früher auf das Gesuchte gestoßen war. Die frühesten Artikel, die er sah, waren 1998 veröffentlicht worden, was bedeutete, dass es in den ersten drei Jahren kein Artikel in ein digitales Medium geschafft hatte; die Datenbanken hatten ganz einfach eine Zeit lang gebraucht, um die Zeitschrift zu erfassen.

EEE schien weitgehend das Werk eines einzelnen Mannes zu sein. Die Hälfte der Artikel waren von Steve Elder geschrieben worden, der inzwischen für ein Lobbyunternehmen in Washington arbeitete. Webster glaubte, sich an ihn als einen der vielen Journalisten erinnern zu können, die für eine Saison oder zwei nach Moskau gekommen und dann wieder gegangen waren, bevor es voll von ihnen Besitz ergriffen hatte. Ob die Zeitschrift nun Elder gehört hatte oder nicht, das Magazin war jedenfalls in London erschienen, und das war immerhin einmal eine gute Nachricht.

Er fand den Artikel nach zwanzig Minuten an den Microfiche-Lesegeräten in der Westminster Reference Library. Er war selbst hingegangen, weil er der Erste sein wollte, der es las.

»Irisches Unternehmen kauft Firmen für den russischen Staat« lautete die Überschrift in der Mitte der Augustausgabe 1999. Es waren vier Seiten, wahrscheinlich zweitausend Wörter, und als Verfasserin wurde »Inessa Kirowa, Russland-Korrespondentin« genannt. Webster las den Artikel dreimal durch, zwang sich, sich auf den Text zu konzentrieren und die Stimme zu ignorieren, die ihn ständig fragte, warum er vorher nichts davon gewusst hatte.

Bei dem irischen Unternehmen handelte es sich um Faringdon, das in den letzten Monaten damit beschäftigt gewesen war, in den Ländern, die in dem Artikel als »Russlands nahe Nachbarn« bezeichnet wurden, Unternehmen aufzukaufen: eine rumänische Raffinerie am Schwarzen Meer, ein petrochemisches Unternehmen in Weißrussland und eine Gaslagerungsanlage in Aserbaidschan. Inessa hatte Faringdon so anonym vorgefunden wie er heute – vielleicht noch mehr, denn damals hatte es noch weniger Aktivitäten an den Tag gelegt. Sie gab die Adresse an, das Gründungsdatum, die Direktoren (Lock wurde in einem Absatz als »Jurist von geringem Ansehen« abgetan), ging aber nicht weiter darauf ein. Vielleicht hatte es ihr gereicht, es bei mysteriösen Andeutungen zu belassen.

Die zweite Hälfte des Artikels war faszinierend – nicht wegen dem, was er darin stand (Knight hatte das und mehr bereits angedeutet), sondern wegen dem, was ausgelassen wurde. Faringdon, schrieb Inessa dort, war ein Vehikel, gesteuert von einer Fraktion innerhalb des Energieministeriums, um den Einfluss Russlands auf die Energieindustrie seiner Nachbarn zu kanalisieren. Wo Unternehmen einst für Spionagezwecke genutzt worden waren, um Deckmantel oder Logistik zu bieten, erlaubten die nunmehr geöffneten Arme des Kapitalismus den Russen jetzt, das zu besitzen, was sie vorher nur beobachtet hatten. Der Plan hatte eine neue Dringlichkeit bekommen, weil im Gefolge der Finanzkrise von 1998 Vermögenswerte billig zu haben waren und Russland in den Augen der Welt schwach und dumm aussah. Der Artikel endete mit einigen fundierten Spekulationen darüber, welches Ziel Faringdon als Nächstes anpeilen würde.

Malin wurde nicht erwähnt. Es schien seltsam, dass Inessa aus einer derart guten Quelle offensichtlich so viel erfahren hatte, nur nicht den Namen der Person, die im Ministerium die Fäden zog. Aber andererseits hatte der ganze Artikel einen falschen Klang. Es war ungewöhnlich für Inessas Arbeit, dass sie keine der Quellen erwähnte, nicht einmal, um zu sagen, dass sie nicht genannt werden durften. Die Geschichte las sich, als sei sie ihr schon halb fertig von jemandem zugetragen worden, der ein Interesse daran gehabt hatte, sie gedruckt zu sehen. Doch wenn das der Fall war, warum stand sie dann in einem obskuren Londoner Handelsmagazin mit einer winzigen und spezialisierten Leserschaft? Warum wurde Malin nicht erwähnt? Warum war es ohne jegliche Belege geschrieben worden? Warum in aller Welt hatte man es ausgerechnet Inessa schreiben lassen?

Das war das Merkwürdigste von allem. Es las sich nicht wie Inessas Arbeit. Es war unausgewogen, es überzeugte nicht, es war nicht gut genug. Kein Wunder, dass niemand daran gedacht hatte, die Story aufzugreifen.

Webster verbrachte eine weitere halbe Stunde damit, frühere und spätere Ausgaben auf weitere Erwähnungen von Inessas Namen zu überprüfen, konnte aber keine finden. In Gedanken versunken und noch ratloser als nach seinem Gespräch mit Alan Knight, machte er sich auf den Weg zurück ins Büro.

Fast zehn Jahre zuvor, in den Tagen nach Inessas Beerdigung, hatte er eine Liste der Geschichten zusammengestellt, die Inessa umgebracht haben könnten. Am Ende hatte er sie unter den Aspekten Mittel und Motiv von einem Dutzend auf drei reduziert: eine Geschichte über ein korruptes Duma-Mitglied und den Anführer des organisierten Verbrechens in Swerdlowsk, einen Artikel über den Mord an einem Chemie-Manager in Moskau und die Serie über die Besitzer der kasachischen Aluminiumfabrik. Doch in allen drei Fällen tauchte das gleiche Problem auf: Für einen Russen war es unsinnig, eine Journalistin im Ausland zu ermorden, selbst wenn es nur über die Grenze in Kasachstan war, weil das einen Vorgang verkomplizierte, der in der Heimat beinahe zur Routine geworden war. In Russland starben Journalisten vor allem an zwei Orten: in Tschetschenien, wo es kein Gesetz gab und jeder mit Gewalt konfrontiert war, oder in ihrem Zuhause, in ihrem eigenen Treppenhaus – überfallen, ausgeraubt, über das Geländer gestürzt. Und Verurteilungen erfolgten entweder zu schnell oder gar nicht. Während seiner Zeit in Russland waren drei oder vier Journalisten pro Jahr auf diese Weise ums Leben gekommen, und für jeden Mord, der als Gelegenheitsverbrechen von Landstreichern oder betrunkenen Neonazis zu den Akten gelegt wurde, gab es ein halbes Dutzend, das einfach nie aufgeklärt wurde. Wer auch immer sich von Inessa bedroht gefühlt hatte, wäre klüger gewesen, sie zu Hause zu beseitigen, weil sie dort am wenigsten sicher und er selbst am besten geschützt war.

Doch diese Geschichte war anders. Hier standen so viele Dinge auf dem Spiel, und es gab ohnehin schon so viele seltsame Aspekte, dass dieses Ende definitiv eine Anomalie bedeutete. Webster stellte sich Malin zu Beginn seines großen Projekts vor: der geduldige Loyalist, für den nationaler Ruhm und unerhörter Profit in greifbare Nähe gerückt waren und der von einer jungen Frau bedroht wurde, die so viel mehr wusste, als sie wissen durfte. Vielleicht hatte es für ihn einen Sinn ergeben. Webster fühlte, wie sich die unsichtbaren Teile des Puzzles in seinem Unterbewusstsein neu ordneten, an ihren Platz fielen und ihn mit der Verheißung lockten, dass dies, endlich, das Wissen war, nach dem er seit zehn Jahren dürstete.


Es war natürlich nichts Ungewöhnliches, eine Theorie zu haben. Er hatte schon früher Theorien gehabt, die sich jedoch nie erhärten ließen. Das Wichtige bei einer Theorie war, sie ruhen zu lassen, ihren Verlockungen zu widerstehen, sie leise zu befragen und zu sehen, ob sie standhielt.

Doch er mochte jetzt nicht diszipliniert sein, sondern rief umgehend Steve Elder an seinem neuen Arbeitsplatz an und stellte fest, dass dieser gerne mit ihm reden wollte. Elder war tatsächlich in Moskau gewesen: als freier Korrespondent für die New York Times von 1993 bis 1994; sie hatten sich einmal bei einem Empfang der britischen Botschaft getroffen. Er konnte sich sowohl an den Artikel als auch an Inessa erinnern, obwohl er sie nie persönlich getroffen hatte. Sie hatte ihm den Artikel geschickt, halb fertig, als erste Folge einer Serie über die neue Politik der wiedererstarkenden russischen Energieindustrie. Eine Spezialistin für Energiefragen war sie nicht gewesen, aber er kannte ihre Arbeit, und ihm gefiel diese Story; die Ölpreise fingen nach der Krise des Vorjahrs wieder an zu steigen, und jeder wollte wissen, wie Russland seine Energiepolitik gestalten würde – und abgesehen davon war die Sache »pikant«. Er hatte nur für den ersten Artikel mit dem üblichen Satz bezahlt, aber versprochen, sich die nachfolgenden anzuschauen, sobald Inessa genauer wusste, wovon diese handeln sollten; zu der Zeit schien ihr das noch nicht ganz klar gewesen zu sein.

Der Artikel erschien im Spätsommer. Als er vielleicht zwei Monate später von ihrem Tod las, hatte er eine Notiz an die Nowaja Gaseta geschickt. Seine Frau hatte bemerkt, dass es eigentlich komisch sei, dass sie die erste ihm bekannte Journalistin war, die ums Leben kam. Es starben so viele.

Nein, es war ihm nicht merkwürdig vorgekommen, dass sie ihm den Artikel zugeschickt hatte. Selbst damals, in den Anfangstagen der Zeitschrift, hatten ihm alle möglichen Leute Ideen und Storys zugeschickt. Ob irgendjemand eine Verbindung zwischen dem Artikel und ihrem Tod vermutet hatte? Nein, niemand. Elder hatte immer angenommen, es sei einer der kleineren Oligarchen gewesen, die sie so oft geärgert hatte. Und nein, es war ihm nie aufgefallen, dass der Artikel nicht ausreichend mit Quellenbelegen versehen worden war. Im Gegenteil, er hatte es ganz anders in Erinnerung.

An dieser Stelle war die Unterhaltung mehr oder weniger beendet gewesen, Elder wurde ein wenig empfindlich, und Webster war überzeugt davon, dass hier nicht mehr zu erfahren war.

Seine Theorie würde sich einfach erst einmal setzen müssen. In der Zwischenzeit hatte er seinen Fall, und was das betraf, hatten ihm Alan Knight und Inessa das Gefühl gegeben, gleichzeitig viel mehr und viel weniger zu wissen als zuvor; als hätte er nach dem Weg gefragt und man hätte ihm den kompletten geschichtlichen Hintergrund seines Zielortes erklärt. Das Einzige, bei dem er ansetzen konnte, war das, was ihm Knight über Dmitri Gerstman erzählt hatte. Jeder Privatdetektiv liebte verärgerte Ex-Angestellte, und Gerstman war obendrein noch geheimnisvoll. Normalerweise passierte es nicht, dass jemand eine Organisation wie die Malins einfach so und ohne Konflikt verließ. Sie blieben oder wurden gefeuert, oder es gab Streit.

Was Webster nachdenklich stimmte, war, dass er nichts über diesen Mann wusste. Ein paar Dinge standen in dem Bericht, den Tourna ihm gegeben hatte, doch er entdeckte, dass diese Informationen der Website von Gerstmans neuem Unternehmen entnommen waren. Dort fand er immerhin auch ein Foto von ihm, sogar ein verhältnismäßig gutes in Schwarz-Weiß. Darauf sah er gepflegt, diszipliniert und ein wenig streng aus, aber nicht verfolgt, dachte Webster. Vermutlich Mitte dreißig. Einer der jungen russischen Technokraten, die mit Profitmargen und Geschäftsmodellen groß geworden waren anstatt mit strenger Zentralwirtschaft. Sein neues Unternehmen, Finist Advisory Services PartG, bot strategische Beratung für Energie- und Petrochemiefirmen an. Ihm war nicht ganz klar, was das bedeutete, doch es schien sich vor allem auf Mitteleuropa zu konzentrieren. Gerstman hatte einen Partner namens Prock und ein elegantes Büro in der Nähe des Kurfürstendamms in Berlin.

Webster hätte es vorgezogen, einen freundlichen Journalisten auf ihn anzusetzen, um ihm einen Hinweis zu entlocken, der vielleicht auf magische Weise enthüllen würde, was ihn antrieb. Gerstman war so kostbar – ihr einziger wirklicher Ansatzpunkt –, dass sie vielleicht nur eine Chance hatten, ihn für sich zu gewinnen. Hammer hielt das für Zeitverschwendung und eine Beleidigung Gerstmans. »Er verdient nicht irgendeinen Botenjungen, sondern Sie. Was können wir denn schon herausfinden? Wir wissen, dass er Malin nicht mag. Wir wissen, dass er Ihnen nicht sofort etwas sagen wird. Doch im Lauf der Zeit wird er es vielleicht tun, und vielleicht wird er mit Lock reden. Und es ist etwas, das wir Tourna sagen können. Sie müssen eine Beziehung zu ihm aufbauen. Besser, Sie fangen gleich damit an.«


In Berlin war es warm für Oktober, doch Webster, von der Wettervorhersage genarrt, hatte einen Mantel mitgebracht, der ihn jetzt nervte. Je mehr man bei sich trug, umso lästiger wurde das Reisen. Für eine einzige Übernachtung nahm er normalerweise seinen Aktenkoffer mit sich, der ein frisches Hemd, frische Unterwäsche, einen Rasierer und eine Zahnbürste, Notizbuch, Stift und etwas nicht zu Schweres zum Lesen enthielt; und niemals, wenn er es vermeiden konnte, einen Laptop. Er fühlte sich leichter und zielbewusster, agiler, wenn er ohne einen Koffer, den man herumkutschieren musste wie ein hilfloses Familienmitglied, durch den Flughafen gleiten konnte. Heute fühlte er sich durch den Mantel beschwert.

Egal. Er würde direkt ins Hotel gehen. Es war ungewöhnlich, dass er nur ein Meeting in Berlin hatte, und auch dieses war noch nicht arrangiert. Durch eine kleine List hatte er von Gerstmans Sekretärin erfahren, dass dieser bis Freitag in Berlin und danach für mehrere Wochen unterwegs sein würde. Heute war Donnerstag. Er hatte sich bemüht, einen gemeinsamen Bekannten zu finden, der ihm den Weg zu Gerstman hätte ebnen können, doch ohne Erfolg. Also war er nun planlos angekommen, mit der einzigen Hoffnung, dass es Gerstmann schwerer fallen würde, ein Treffen auszuschlagen, wenn der Besuch schon einmal in Berlin war.

Webster kannte die Stadt nicht – er war erst einmal zuvor hier gewesen und das für ein Meeting auf dem Flughafen mit einem Klienten aus Ecuador –, und auch jetzt nahm er sie nicht wirklich in sich auf. Seine Gedanken waren mit dem beschäftigt, was er von Gerstman wollte. Malins Schwächen sehen, Lock verstehen, Knights Theorie überprüfen. Idealerweise die Spur finden, die Tournas Vorwurf der massiven Korruption erhärten würde. Während der Gedanke durch seinen Kopf ging, wusste er, wie lächerlich es war, so viel zu erwarten. Vielleicht hatte der wahre Wert des Gesprächs mit Knight darin gelegen, ihm die Hoffnung zu rauben. Er warf sich vor, nicht früh genug den einzigen Einwand gegen diesen Auftrag erkannt zu haben, der wirklich zählte: nämlich, dass er unmöglich war. Es schien lachhaft, sich einzubilden, er und Hammer und ein zusammengewürfelter Haufen von abgehalfterten Spionen und verkrachten Journalisten könnten für einen Mann wie Malin irgendeine Bedrohung darstellen. Sie waren nichts weiter als ein Instrument für Tournas Eitelkeit und dabei selbst eitel genug.

Trotzdem würde er es versuchen. Man wusste ja nie. Wenn Gerstman einen alten Groll hegte und die Gelegenheit sah, Rache zu nehmen – man wusste wirklich nie. So etwas kam vor. Was ein Mann weiß, kann einen ganzen Konzern stürzen. Das gab es immer wieder.

Es war Mittag, als sein Taxi sich dem westlichen Stadtzentrum näherte. Er beschloss, zunächst sein Zielobjekt in Augenschein zu nehmen und erst später im Hotel einzuchecken, also bat er den Fahrer, ihn zum Kurfürstendamm zu bringen, wo Gerstmann in einer Seitenstraße sein Büro hatte, nahe dem Theater am Kurfürstendamm. Webster bezahlte den Taxifahrer und setzte sich auf eine Bank gegenüber dem Bürogebäude aus dem neunzehnten Jahrhundert. Mit etwas Glück würde Gerstmann zum Mittagessen das Büro verlassen; Kontinentaleuropäer taten das vernünftigerweise meistens.

Mit der Eingangstür fest im Blick hörte er seine Handy-Mailbox ab. Tourna hatte angerufen, während er im Flugzeug saß. Er wollte in zwei Wochen nach London kommen und die Fortschritte besprechen. Wenn es bis dahin keine Bewegung gab, dachte Webster, wäre das der richtige Zeitpunkt, um die Sache zu beenden. Schon der Gedanke daran ließ seinen Mut sinken.

Um Viertel nach zwölf verließen Menschen allein oder zu zweit das Gebäude. Webster hoffte, dass er Gerstman anhand des Fotos erkennen würde; allerdings hatte er keine Ahnung, wie groß er war und welchen Teint er hatte. Kurz nach halb eins erschien ein hochgewachsener, auffallend gepflegter Mann, der einen dunklen Anzug, ein weißes Hemd und eine dunkelblaue Krawatte trug; es war Gerstman. Neben ihm ging ein etwas kürzerer und breiterer Mann, in dem Webster Gerstmans Partner Prock erkannte. Webster folgte ihnen in einer Entfernung von vielleicht zwanzig Metern. Die beiden Männer gingen zügig und unterhielten sich dabei die ganze Zeit. Nach fünf Minuten betraten sie ein nicht besonders vornehm aussehendes italienisches Restaurant. Webster beendete die Verfolgung und kehrte zu seiner Bank zurück.

Exakt eine Stunde später kamen Gerstman und Prock wieder. Webster wartete fünf Minuten und wählte dann die Nummer der Bürozentrale von Finist. Er sprach zuerst mit der Empfangsdame und dann mit Gerstmans Sekretärin; er erklärte, sein Name sei Benedict Webster, er rufe von einer Firma namens Ikertu Consulting an und würde gerne mit Mr. Gerstman über ein Thema sprechen, das für sie beide von Interesse sei. So, dachte er, jetzt sind wir aus der Deckung getreten. Sie erklärte ihm, dass es ihr sehr leidtue, aber Mr. Gerstman sei nicht erreichbar. Ob er ausgegangen sei? Ja, genau. Wann er zurückkehren werde? Das könne sie leider nicht sagen. Webster dankte ihr und legte auf.

Finists Nummer war Berlin 69745600. Webster wählte 69745601 und erreichte ein Faxgerät. 5602 klingelte eine Weile, bevor es zu Procks Sekretärin umgeleitet wurde. Er legte auf und wählte 5603.

»Gerstman.«

»Herr Gerstman, hier spricht Benedict Webster. Ich arbeite für ein Unternehmen namens Ikertu Consulting. Ich würde mich gerne mit Ihnen …«

»Woher haben Sie meine Durchwahl?«

»Ich würde mich gerne eine halbe Stunde mit Ihnen unterhalten.«

»Ich spreche nicht mit Leuten, die ich nicht kenne«, sagte Gerstman und legte auf.

Webster wählte die Nummer erneut. Gerstman hob beim ersten Klingeln ab und legte sofort wieder auf.

Webster schaute sein Handy an, hob eine Augenbraue und stand auf. Es war nicht weit bis zu seinem Hotel. Er ließ seinen Aktenkoffer und seinen Mantel dort und ging aus, um etwas zu essen.

Um vier Uhr nahm er wieder seinen Posten auf der Bank ein, die inzwischen in der Sonne lag, und schaute den Berlinern zu, die ihren Geschäften nachgingen. Es fiel ihm schwer, sie einzuordnen: In London und Moskau konnte er die Zeichen fließend lesen, die Hinweise darauf gaben, welchen Beruf jemand hatte, wo er wohnte, was ihm wichtig war – der Schnitt des Anzugs, die Qualität der Schuhe, die Zeitung unter dem Arm, der Akzent, die unbewusste Körperhaltung –, aber hier war die Sprache eine andere und die Menschen, wie er vermutete, nicht so leicht in Gruppen einzuteilen. Diese Beobachtungen hielten Webster eine Weile beschäftigt, doch um fünf fing das Büro an, sich zu leeren, und seine Gedanken wanderten gegen seinen Willen zu Inessa.

Er hatte sie in Rostow im Süden Russlands kennengelernt, wo sie beide über Streiks berichteten, die sich im Laufe des Sommers von Osten her ausgebreitet hatten. Sie waren im Flugzeug von Moskau aus miteinander ins Gespräch gekommen und zusammen in die Bergarbeiterstadt Schachty gefahren. Inessa hatte empört gegen die Behandlung der Bergleute gewettert – viele dort hatten seit sechs Monaten keinen Lohn mehr erhalten. Ihr rundes Gesicht war umrahmt von kurz geschnittenem dichtem Haar, das so schwarz war wie ihre Augen, und sie ging immer so schnell, als würde sie marschieren.

Nach Rostow sahen sie sich oft in Moskau, fanden sich von Zeit zu Zeit an den gleichen Nachrichtenbrennpunkten in entfernten Landesteilen wieder, halfen einander mit Informationsquellen und Ideen. Inessa lieferte ihm Storys in der Hoffnung, dass diese ihren Weg in die Times finden würden, und manchmal taten sie das wirklich. Sie redete davon, ihre eigene Zeitschrift zu gründen, und erklärte ihm, er müsse ein paar wohlhabende ausländische Mäzene für sie finden, damit sie zusammen den russischen Journalismus umkrempeln konnten. Er lernte ihre Freunde kennen und war drei Monate vor ihrem Tod zu Gast bei ihrer Hochzeitsfeier in Samara, wo sie aufgewachsen war.

Irgendwann wurde ihm klar, dass Inessa das verkörperte, was er in Russland zu finden gehofft hatte: Inmitten all des rasenden und chaotischen Wandels war sie eine Konstante der Wut, des Mutes und der Hoffnung gewesen. Solange es Menschen wie sie gab, hatte er gedacht, gab es Hoffnung für Russland.

Sie war das genaue Gegenteil von Malin – die beiden schienen als Gegensätze geschaffen worden zu sein, und es bot sich geradezu auf verführerische Weise an, ihn mit ihrer Geschichte zu verknüpfen. Sein Instinkt sagte ihm, dass er dorthin gehörte, und seine Logik stimmte dem zu. Von all den Kandidaten, die für ihren Mord infrage kamen, war er der Einzige mit makellosem Ruf. Er hatte bereits damals mehr Macht angesammelt als die anderen, auf dem Weg zu großen Dingen, doch sein Name war unbekannt und sein Projekt noch immer ein Geheimnis. Keiner von Inessas Feinden hätte Angst gehabt, erwischt zu werden; Malin war der Einzige, der fürchten musste, in Verdacht zu geraten. Und so brach er mit der Tradition. Töte eine Journalistin in Russland, und es ist jedem klar, dass sie wegen ihrer Arbeit gestorben ist; töte sie in Kasachstan, und es wird als tragischer Schicksalsschlag in Vergessenheit geraten. Es war eine Täuschung gewesen, und Webster selbst war, wie er von Anfang an vermutet hatte, das Instrument gewesen, das den Trick erst möglich machte: Warum sollte er bei ihrem Tod dabei sein, außer, damit er hinterher darüber schrieb und sprach?

Man hatte ihn also dafür ausgewählt, diese Gewissheit zu rechtfertigen, bis sich alle Argumente in Luft auflösten, und eine Zeit lang spielte er in Gedanken mit der Frage, wie er das alles beweisen könnte. Wenn dies ein Auftrag wäre, wie würde er vorgehen? Den Kasachen interviewen, der für den Mord verurteilt worden war, die Gerichtsakten durchgehen, Malins Sicherheitsleute identifizieren, die Immigrations- und Flugdaten für Kasachstan in den Tagen vor Inessas Tod ausgraben, vergeblich hoffen, eine zuverlässige Informationsquelle zu finden. Auf seiner Bank in Berlin schnaubte Webster verächtlich und schüttelte langsam und frustriert den Kopf. Nichts davon würde funktionieren. Man würde es nicht zulassen. Es gab einfach Dinge in Russland, die nicht dazu bestimmt waren, bekannt zu werden.

Um sechs rief er zu Hause an und sprach mit seinen Kindern. Elsa war noch auf der Arbeit, und das Kindermädchen machte ihnen gerade Abendessen. Er wünschte, er hätte sich eine Flasche Wasser mitgenommen. Es war fast acht, als Prock die Nummer 20 verließ, und noch etwas später, als Gerstman selbst auftauchte. Er ging geradewegs Richtung Kurfürstendamm. Webster folgte ihm, diesmal in einem leichten Trab, und hatte ihn eingeholt, als er gerade die Hauptstraße erreichte.

»Herr Gerstman?«

»Ja?«

»Mein Name ist Benedict Webster. Ich habe vorhin angerufen.«

»Ich habe mit Ihnen nichts zu besprechen«, sagte Gerstman und ging weiter. Er überquerte die Straße durch den langsamen Verkehr hindurch. Webster war von seiner Kaltblütigkeit beeindruckt. Er entschied sich, ein Risiko einzugehen.

»Es geht um Richard Lock. Ich glaube, dass er möglicherweise in Gefahr ist.«

Gerstman blieb stehen und schaute Webster zum ersten Mal richtig an.

»In welcher Art von Gefahr?«

»In der Art, bei der man ins Gefängnis muss. Oder bei der man nie die Chance dazu bekommt.«

Gerstman starrte Webster weiter an und studierte sein Gesicht mit ausdrucksloser Miene.

»In Ordnung. Ich habe jetzt keine Zeit. Wir treffen uns um elf in der Bar im Hotel Adlon. Die Bar in der Lobby.«


Webster ging in sein Hotel zurück, duschte und zog sein frisches Hemd an. Er aß in dem Restaurant zu Abend, in dem Gerstman und Prock zu Mittag gegessen hatten, und nahm um zehn ein Taxi zum Adlon. Was für ein nobles Hotel – und wie viel nobler musste erst das Original gewesen sein. In der Bar der Lobby gab es tiefe Sessel, gedämpftes Licht und sanfte Klaviermusik, die von der Decke herabschwebte; es waren kaum Gäste da. Er setzte sich an die Bar, bestellte einen Whisky mit Eis und wenig Wasser und rief Elsa an. Es waren seltsame Gespräche – je weiter er sich von London entfernte, desto besser waren sie gewöhnlich. Sie sprachen nicht länger als zehn Minuten.

Gerstman war pünktlich. Webster sah, wie er durch die Lobby kam, und bemerkte seine langen, eleganten Schritte. Sein Gesicht war gebräunt und schmal, fast hager, und an seiner Schläfe stand eine Ader heraus. Hammer hatte auch eine solche Ader, und Webster fragte sich, was sie wohl bedeutete.

Webster stand von seinem Barhocker auf – selbstverständlich lederbezogen und mit niedriger Lehne – und streckte Gerstman seine Hand entgegen, der sie jedoch ignorierte und sich stattdessen auf dem benachbarten Hocker niederließ, den er so drehte, dass er Webster fast gegenübersaß.

»Was wollen Sie mir sagen?«, fragte Gerstman mit kalten, ungeduldigen Augen. Sein Akzent klang abgehackt und stark russisch.

»Nun – zuerst einmal, danke, dass Sie gekommen sind. Kann ich Ihnen etwas zu trinken bestellen?«

»Kein Drink, danke. Sagen Sie mir einfach, warum Sie mich verfolgen.«

Webster nahm einen Schluck von seinem Whisky und versuchte zu ergründen, was hinter dieser Feindseligkeit steckte, die offener war, als er erwartet hatte. Es musste einen Weg geben, sie zu umgehen. Gerstman hatte Malin gekannt, hatte täglich für ihn gearbeitet, mit ihm in Meetings gesessen, sein Vertrauen genossen. Er wusste, wie sein Geschäft organisiert war, wer wo saß, woher das Geld kam. Er war die beste Informationsquelle, die man sich vorstellen konnte, und Webster spürte, wie er ihm entglitt.

»Ich arbeite für ein Unternehmen namens Ikertu Consulting«, sagte Webster und schaute Gerstman direkt in die Augen, in der Hoffnung, offen und aufrichtig zu wirken.

»Ich weiß.«

»Gut. Das ist hilfreich. Wir wurden beauftragt, etwas in Erfahrung zu bringen, was mit Konstantin Malin zu tun hat. In Folge dieses Auftrags wurde uns klar, dass die Position von Richard Lock ausgesprochen gefährdet ist.«

»Ich weiß nicht, was das bedeutet.«

Webster nahm noch einen Schluck. »Nun, kurz gesagt, Behörden auf der ganzen Welt wollen Ermittlungen gegen ihn einleiten. Wenn sie das tun, werden sie wahrscheinlich zu der Überzeugung kommen, dass er ein Geldwäscher ist. Was vermutlich zutrifft.«

»Sie meinen, Sie wollen, dass gegen ihn ermittelt wird.«

»Nein, das wollen wir nicht. Es ist nicht in unserem Interesse. Ich würde ihm gerne die Chance geben, dem aus dem Weg zu gehen.« Gerstman reagierte nicht. »Kann ich Ihnen ein paar Fragen über Malin stellen?«

»Nein, das können Sie nicht. Sie sagen mir nicht, für wen Sie arbeiten, und ich weiß nicht, wie Sie Richard helfen wollen. Aber ich spreche sowieso mit niemandem über meine Vergangenheit, insofern ist es egal. Ich spreche nicht darüber, egal unter welchen Umständen. Ich habe mich mit Ihnen getroffen, damit Sie genau das wissen. Ohne jeden Zweifel.«

Webster tat sein Bestes, um unbekümmert auszusehen. »Ich verstehe. Nicht einmal, um Lock zu helfen?«

»Bitte machen Sie sich nicht lächerlich.« Gerstman stand auf. »Lock ist Ihnen doch egal. Sie schieben ihn nur vor, aus Gründen, die ich nicht kenne. Also belästigen Sie mich nicht weiter. Und sagen Sie Ihrem Klienten, dass ich nicht rede. Ist das klar? Ich rede nicht.«

Webster blickte ihm nach, als er durch die Lobby ging, seine Absätze klapperten auf dem Marmorfußboden. Mit seinen langen Schritten und dem gebeugten Kopf wirkte er seltsam ferngesteuert, vorwärtsgetrieben von etwas, das Stolz hätte sein können, das für Webster aber wie Angst aussah.