3

London war ein Tor für Lock. Er machte hier oft Zwischenstation auf dem Weg in seine Inselwelt, wo die Sonne schien und er die Kontrolle hatte. Doch in einem tieferen Sinn war London das Tor zu einem Leben, das ihm in Moskau verschlossen blieb. Er kaufte seine Anzüge dort – bei Henry Poole, dem ältesten Herrenschneider in der Savile Row, wie er einmal zu seiner Befriedigung entdeckt hatte – und auch seine Hemden und Krawatten, Schuhe und Socken, die ihn seiner Meinung nach von seinen russischen Kollegen abhoben. Dort konnte er seine Anwälte herumkommandieren, sich die Haare schneiden lassen, gut essen gehen mit den wenigen Freunden, die er noch hatte, und sich für kurze Zeit wie sein altes Ich fühlen, als Teil einer selbstbewussten, vornehmen Bruderschaft, Gleicher unter Gleichen. In London traf er sich auch gelegentlich mit seiner Familie.

Bei seinen letzten Besuchen hatte er Marina oder Vika jedoch nicht gesehen. Er redete sich ein, dass es gute Gründe dafür gab: Meist war er nur auf der Durchreise und gar nicht lange genug in der Stadt, und je größer Malins geheimes Imperium wurde, desto mehr Meetings musste er absolvieren, außerdem ging Vika um acht ins Bett, gerade wenn sein Arbeitstag normalerweise endete. Heute aber, als er sich auf den Weg von seinem Hotel zum Holland Park machte, um sie zu besuchen, waren seine üblichen Bedenken mit Schuldbewusstsein versetzt, während Szenen seines Riviera-Aufenthalts vor seinem inneren Auge abliefen.

Er hatte seinen Fahrer weggeschickt und war, um nach dem morgendlichen Flug seinen Rücken zu strecken, zu Fuß durch den Hyde Park gegangen, froh, den August und Monaco hinter sich zu lassen. Die letzten vier Tage dort waren ungemütlich gewesen: Er war reizbar, Oksana mürrisch. Er hatte ihr sagen wollen, was ihn bedrückte, doch er wusste, dass er das nicht konnte; sie hatte seine Nervosität als Misstrauen ihr gegenüber gedeutet. Es war heiß gewesen, ein Gewitter lag in der Luft. Monaco war ihm zu eng geworden, und Ausflüge nach Cannes und in die Berge um Grasse herum hatten keinerlei Entspannung gebracht. Das Gewitter blieb aus. Er hatte sich erleichtert gefühlt, als Oksana schließlich ihr Flugzeug bestieg, und zweifellos war es ihr ebenso ergangen. Zehn Tage in Monaco zu verbringen, war definitiv zu viel – vielleicht auch nur zu viel, um sie mit jemandem wie mir zu verbringen, dachte er.

Der Hyde Park war grün, lebendig, alt, voller Touristen. Um fünf Uhr stand die Sonne noch hoch, und Lock, in Hemdsärmeln und mit der Jacke über der Schulter, lief gemächlich am Mosaik des Reformers’ Tree Memorial und dem Old Police House vorbei über die Serpentine Bridge, in Richtung Kensington Palace. Er liebte London aus Gründen, die er nur teilweise verstand, und die etwas mit dem Selbstbewusstsein dieser Stadt zu tun hatten: London gab nie vor, etwas zu sein, das es nicht war.

Er ging zum ersten Mal zu Fuß zu ihrer Wohnung; langsam, erwartungsvoll und zögerlich zugleich. Er fragte sich, welche Marina ihn empfangen würde: die Romantikerin, die sich immer noch bemühte, ihre gescheiterten Hoffnungen zu verbergen, oder die kühle Rationalistin, die schon lange vor ihm verstanden hatte, dass sie scheitern mussten. Es war dieser innere Konflikt, den er an ihr liebte, und genau wegen dieses Konflikts hatte er auch Angst vor dem Wiedersehen: In ihrer Gesellschaft fühlte er sich entweder wie ein Mistkerl oder wie ein Verräter.

Sie hatten sich bald nach Locks Ankunft in Moskau kennengelernt. Sie war Anwältin – sie arbeitete im Moskauer Rathaus und verkaufte Staatsgrundstücke an Privatinvestoren – und Malins Patenkind. Malin war es, der sie einander vorstellte, er lud sie zu einem kleinen Essen in seine Datscha ein, wo er demonstrativ den Ehestifter spielte, was ihnen beiden sehr peinlich war. Später gab es Momente, in denen sich Lock fragte, ob das von vornherein Teil seines großen Plans gewesen war.

Damals hatte Lock zunächst über sechs Monate lang das Leben eines Expatriaten in einer Stadt geführt, die ihn vollkommen faszinierte, und nun fand er sich plötzlich auf dem russischen Land wieder. Es war Frühling, und die tiefstehende Sonne ließ die hellen jungen Blätter der Erlen und Weißbirken hervortreten. Als er Marina zum ersten Mal sah, spazierte sie mit Jekaterina Malin durch einen Hain von Apfelbäumen, und er dachte sofort, dass sie selbst an diesem Ort die Welt um sie herum überstrahlte. Sie war schmal und blond, mit klarer, weißer Haut und einer kleinen Nase, die ein wenig nach oben gebogen war. Ihre Augen waren grün, ebenmäßig und hell wie Peridot-Edelsteine.

In dieser Nacht sprachen sie über Russland. Lock war noch nie zuvor von einem Russen nach Hause eingeladen worden, und man gab ihm zu verstehen, dass es sich um eine Ehre handelte, die nur wenigen zuteilwurde. Die Russen, so sagte man ihm, seien von Natur aus ein offenes und freundliches Volk, doch ihre jüngere Geschichte – vielleicht auch ihre gesamte Geschichte – habe dazu geführt, dass sie länger zögerten, Freundschaften zu schließen, als sie vielleicht wollten. Lock hatte die Vermutung geäußert, dass sich Russland, das nun zum ersten Mal demokratisch war, auf eine Erwärmung seiner Beziehungen freuen konnte, sowohl auf diplomatischer wie auch auf persönlicher Ebene. Einer der anderen Gäste, ein Arzt und alter Freund von Jekaterina, dankte Lock für seine wohlmeinenden Worte, befürchtete aber, dass es mehr brauchen würde, um diese zerbrochene Nation zu reparieren, die gezeichnet war durch die jahrhundertelange Grausamkeit von Herrschern, die sie sich erwünscht und wahrscheinlich auch verdient hatte. Marina wehrte sich dagegen und wies die Vorstellung zurück, dass die Russen es liebten zu leiden; sie sah nun die Gelegenheit für eine echte Revolution des Volkes gekommen, die es Russland erlauben würde, endlich die Größe zu erlangen, für die es bestimmt war. Während sie sprach, färbten sich ihre Wangen rot. Der Anblick von Marina im Streitgespräch nahm Lock gefangen, und er beobachtete sie fasziniert, während sie leidenschaftlich ihre Argumente vortrug, scheinbar ohne sich um die Anwesenheit der Älteren zu kümmern. Malin, der damals noch nicht so furchteinflößend gewesen war, schien jeden Moment zu genießen und stachelte vergnügt beide Seiten an.

Mit den Gedanken immer noch in der Vergangenheit, kam er vor Marinas Wohnung an. Sie lag in der Straße Holland Park und blickte auf den gleichnamigen Park. Lock erinnerte sich, wie Vika ihm aufgeregt erzählt hatte, dass sie in der Straße Holland Park, im Stadtteil Holland Park und neben dem Holland Park wohne. Auch das war London: das Ignorieren jedweder Verpflichtung zur Logik. Er stand einen Moment lang vor der Tür und schaute an dem Gebäude hoch: weißer Stuck, symmetrische Front, riesig, aber dennoch diskret. Er atmete tief durch, ging die wenigen Schritte bis zur Haustür und drückte auf den Klingelknopf.

Auf dem Namensschild neben der Klingel sah er, dass sie immer noch Marina Lock hieß. Sie hatte seinen Namen behalten, als sie ihn verlassen hatte, und er sah in dieser Tatsache noch immer, trotz aller Versuche, realistisch zu sein, ein kleines, weltfremdes Hoffnungszeichen. In den wenigen Momenten, in denen er sein Leben ehrlich betrachtete, erkannte er, dass Marina zu gut für ihn war – vielleicht nicht für den Mann, der er einmal gewesen war, jedoch ganz sicher für den Mann, der er heute war. Dieses Wissen schmerzte ihn, teilweise um ihrer Willen, aber hauptsächlich, weil es das zerbrechliche Trugbild erschütterte, auf dem sein verbleibendes Selbstwertgefühl ruhte. Konnte er zeitweilig vergessen, wer er früher gewesen war, so gab es trotzdem immer Marina, die ihn wieder daran erinnerte.

Ihre Stimme tönte aus der Sprechanlage: »Hallo?« Jedes Mal, wenn er sie hörte, klang sie ein bisschen weniger russisch.

»Hier ist Richard.«

»Komm rein.«

Die zwei langen Treppen raubten ihm den Atem. Vika wartete auf dem Treppenabsatz auf ihn und rannte ihm entgegen, als er die letzten Stufen nahm.

»Papa!«

Er beugte sich zu ihr hinunter, um sie zu umarmen, fühlte jedoch ein kurzes Stechen im Rücken und kniete sich statt-dessen hin. Sein Kopf ruhte auf ihrer Schulter. Ihm fiel ein, wie lange es her war, dass er jemanden in seinen Armen gehalten hatte.

Marina stand in der Tür und lächelte, weniger reserviert, als sie noch vor einiger Zeit gewesen wäre. Er erhob sich und gab ihr einen Kuss auf jede Wange.

»Du siehst gut aus«, sagte sie. »Wo warst du?«

»Monaco, für zehn Tage. Es war heiß.« Eine Pause entstand. Er würde Oksana nicht erwähnen, und Marina würde nicht fragen. Und er war durchaus nicht davon überzeugt, dass er gut aussah.

»Komm in die Küche. Ich mache gerade Vikas Abendessen.«

Lock zauste dem Mädchen das Haar. Sie war blond wie ihre Mutter, hatte aber seine gerade Nase und seine blauen Augen. »Und, was gibt’s zum Essen, Häschen?«

»Daddy, ich bin kein Häschen. Ich bin acht Jahre alt. Und ich esse Fischstäbchen.«

»Sie ist so englisch geworden.« Vika ging in die Wohnung, und er folgte ihr.

Eine Stunde lang saß Lock am Küchentisch und redete mit seiner Frau und seiner Tochter. Vika war anfangs scheu ihm gegenüber, entspannte sich aber, als er sie nach der Schule und England und ihren Ferien fragte. Sie und Marina sahen rundum gesund aus. Sie waren drei Wochen lang mit Marinas Eltern in Kap Kolka in Lettland gewesen. Sie waren gewandert, geschwommen und hatten Beeren gesammelt. Vika hatte einen Bussard gesehen. Marina behauptete, es sei ein Adler gewesen, aber Vika glaubte ihr nicht. Lock erinnerte sich noch daran, wie er mit seinem Schwiegervater in ornithologischen Beobachtungshütten gesessen hatte; das war nie etwas für ihn gewesen.

»Daddy, wann kannst du mit uns in Urlaub fahren?«

»Naja«, sagte Lock, »vielleicht könnten du und ich nach Holland fahren und Opa besuchen. Wir könnten in den Herbstferien fahren.«

»Kommst du auch mit, Mami?«

»Mal sehen.«

Sie sprachen über Vikas Freundinnen, Marinas Eltern und ihre Weihnachtspläne. Lock hoffte, über Weihnachten in London zu sein. Marina kochte und spülte, Lock und Vika saßen am Tisch. Nach dem Essen ging Vika, um sich fürs Bett fertig zu machen.

»Wirst du noch einmal kommen?«, fragte Marina.

»Ich könnte schon. Ich habe endlose Meetings mit den Anwälten. Vielleicht bin ich auch am Wochenende da. Vielleicht an einem Abend in dieser Woche?«

»Enttäusche sie nicht, Richard. Es wird immer schwerer, ihr zu erklären, warum du uns nie besuchst.«

»Ich werde sie nicht enttäuschen.«

»Lass uns einen Tag festlegen.«

»Das kann ich nicht, bevor ich den Anwalt getroffen habe. Morgen weiß ich mehr.«

»In Ordnung. Rufst du an?«

»Ich rufe an.«

Marina schaute im unverwandt in die Augen und fragte: »Wie geht es dir?«

»Gut. Alles bestens.«

»Also nichts Neues?«

»Marina, komm schon.«

»Warum ziehst du nicht nach London? Ich vermisse Moskau nicht. Ich schäme mich, es zu sagen, aber ich vermisse es wirklich kein bisschen. Hier könntest du freier sein.«

»Das würde nicht funktionieren. Das weißt du. Er braucht mich dort, wo er mich sieht.«

»Weißt du, früher dachte ich, Konstantin sei der wundervollste Mann der Welt. Wie mein Vater, nur ernsthafter. Engagiert. Ich verstehe nicht, was aus ihm geworden ist.«

Lock schwieg.

»Was wäre, wenn du einen Ersatz finden würdest?«, sagte Marina. »Für dich?«

»Was denn, soll ich eine Anzeige im Kommersant aufgeben? Oligarch sucht Äffchen? Muss ruhig und stubenrein sein?«

»Richard, bitte nicht.«

Lock seufzte und stützte den Kopf in die Hände, massierte sich die Schläfen. »Tut mir leid. Tut mir leid. Ich habe selbst schon darüber nachgedacht. Es würde nicht funktionieren.«

»Aber Dmitri hat es geschafft. Nina hat mir im Frühjahr eine E-Mail geschickt. Sie sind jetzt in Berlin, und sie sind glücklich. Es ist wie ein neues Leben.«

»Bei Dmitri war das etwas anderes.« Lock schüttelte den Kopf. »Er war nur – wie viel? – vier Jahre, fünf Jahre dabei. Und Konstantin bevorzugte ohnehin Gratschow. Das Problem ist teilweise, dass er mich immer noch mag. Letztendlich sind wir einfach schon zu lange zusammen. Der Ballon fliegt zu hoch.«

Marina studierte ihn intensiv. Ihr Schweigen bedeutete, dass sie ihm nicht recht gab, aber auch nicht weiter auf ihrem Standpunkt beharren wollte. Er war ihr dankbar dafür.

Bevor er ging, las er Vika vor, er lag neben ihr auf ihrem rosafarbenen Bett. Er fragte sich, ob er es gut machte, ob er ausdrucksstark genug las. Er war kein Schauspieler. Das Buch handelte von einem palästinensischen Mädchen, das für ihr Land Fußball spielen wollte; es erschien ihm sehr erwachsen. Es war kühl und sicher in Vikas Zimmer, er wollte neben ihr einschlafen und nie mehr weggehen.

Als er sich von Marina verabschiedete, war es draußen fast Nacht geworden. Vom Treppenabsatz aus konnte er sehen, wie die Eichen im Park sich voll und schwarz gegen das dunkle Blau des Himmels abhoben.

»Hör zu«, sagte er. »Du hast recht. Zum Teufel mit den Anwälten. Lass uns am Wochenende verreisen. Wir könnten in dieses Hotel in Bath fahren. Wir drei.«

Marina verschränkte die Arme. »Nein, Richard. Das ist zu viel.«

»Vika fände es toll.«

»Bis sie wieder nach Hause kommt.« Sie schüttelte den Kopf. »Es ist nicht richtig. Und außerdem hat sie samstags Tanzen.«

Locks lächelte enttäuscht. Er steckte die Hände in die Taschen und schaute nach unten, drehte sich halb um, wie zum Gehen bereit.

»Du solltest hinkommen«, sagte Marina, »und sie tanzen sehen. Sie liebt es.«

»Wann?«

»Um zehn. In der Nähe der Schule.«

»Am Samstag?«

»Ja, am Samstag. Das würde ihr mehr bedeuten. Ehrlich.«

Lock nickte. Er küsste Marina auf die Wange, nur einmal, und ging.


Am nächsten Tag saß Kesler im grauen Nadelstreifenanzug am Tisch und machte ein ernstes Gesicht. Lock saß zurückgelehnt auf seinem Stuhl und aß einen Keks der Kanzlei Bryson Joyce, sein rechter Knöchel lag auf dem linken Bein, sein Fuß schlug einen ungeduldigen Rhythmus in die Luft.

Er hatte den Morgen damit verbracht, eine Detektivfirma zu beauftragen, Tournas Geschäfte auseinanderzunehmen. Kesler hatte sich entschieden, dabei im Hintergrund zu bleiben, und so war Lock allein hingegangen. Er hatte die Dienste dieses Unternehmens schon vorher genutzt und empfand seine Atmosphäre von Verschwiegenheit und Bedrohung als beruhigend; es erinnerte ihn stark an Moskau. Es hatte sogar einen russisch klingenden Kurznamen: InvestSol Ltd. – Investigative Solutions. Es gab drei Partner: Einer hatte für das MI5 gearbeitet, einer für Scotland Yards Special Branch, und der dritte schien keine einschlägigen Referenzen zu haben. Ihr Büro lag in einem großen Siebzigerjahre-Hochhaus im Stadtteil Victoria, es hatte die Atmosphäre eines leicht unterfinanzierten Ministeriums. Alle drei Partner waren heute Morgen dabei gewesen, zweifellos, weil sie einen großen Auftrag witterten. Lock hatte ihnen erzählt, was er von ihnen wollte, und sie hatten darauf überhaupt nicht viel erwidert, dennoch wusste er, dass bald Tournas Bankkonten, Telefonverbindungen, Kreditkartenabrechnungen, Mülltonnen und medizinische Unterlagen systematisch auf alles durchkämmt werden würden, was wie Munition aussah. Wenn Lock nach Moskau zurückkam, würde er die Russen beauftragen, sich Tournas russisches Profil vorzunehmen, vielleicht auch zu sehen, was der griechische Geheimdienst hergab. Er war nicht sicher, ob die Londoner das leisten konnten.

Und nun saß er in einem Büro im einundzwanzigsten Stockwerk eines Gebäudes nahe der Moorgate-Straße und beantwortete die vielen Fragen, die Kesler von einer vorbereiteten Liste herunterlas. Es schien mehrere Seiten zu geben, und sie waren immer noch bei der ersten.

»Also, wer ist letztendlich der Besitzer von Faringdon? Letztendlich?« Kesler blickte auf seine Notizen, als würde er dort eine Antwort suchen, von der er genau wusste, dass sie nicht dort stand. Griffin, der Partner, saß zu Keslers Linken, und ein weiterer Anwalt saß neben ihm. Lock hatte seinen Namen nicht verstanden. Sie alle machten sich Notizen.

»Wir sind das doch schon durchgegangen«, sagte Lock.

»Das sind wir, und ich entschuldige mich dafür, aber wenn ich es nicht verstehe, kann ich Sie nicht verteidigen, und im Moment verstehe ich es noch nicht.«

Lock atmete tief ein und ließ die Luft wieder entweichen, fast wie bei einem Seufzer. In seiner Eigenschaft als Jurist hatte es ihm immer Freude bereitet, anderen Juristen zu sagen, was sie zu tun hatten, und im Laufe der Jahre hatte er sich daran gewöhnt. Diese neue Situation gefiel ihm ganz und gar nicht, aber noch weniger gefiel es ihm, sich die Gründe dafür auszumalen. Wo zum Beispiel steckte Emily? Hieß sie Emily? Oder Emma? Bei vorangegangenen Besuchen war Kesler jedenfalls immer von einer hübschen jungen Anwältin begleitet worden. Ihre Abwesenheit wies ohne Zweifel auf eine Veränderung in Locks Status hin.

»Ich fühle mich nicht wirklich wie der Klient hier, Skip.«

»Bei allem Respekt, Richard, Sie sind nicht mein Klient.«

»Faringdon ist Ihr Klient. Wessen Unterschrift steht auf der Honorarvereinbarung?«

»Ja. Und meine Verpflichtung besteht gegenüber Faringdon und nicht notwendigerweise Ihnen – also gegenüber dem Vorstand und nicht dem Aktionär, um genau zu sein.« Kesler hielt Locks Blick einen Moment lang stand. Er schaute zu seinen Kollegen hinüber. »Lawrence, David, können Sie uns bitte kurz alleinlassen?« Griffin zögerte. »Lassen Sie Ihre Sachen hier. Danke.«

Griffin und der Jüngere gingen aus dem Raum wie zwei Schuljungen, die sich fragten, was sie falsch gemacht hatten.

»Hören Sie«, sagte Kesler und blickte Lock fest an, die Handflächen offen auf dem Tisch, »von juristischen Feinheiten einmal abgesehen, können wir uns darauf verständigen, dass unsere Interessen in die gleiche Richtung gehen? Was für Sie gut ist, ist gut für Faringdon und damit auch gut für Konstantin. Das fürs Erste. Wir wissen beide, dass Faringdon Ihnen nicht gehört, und wir wissen beide, wem es gehört. Die Welt weiß es. Tourna weiß es definitiv. Aber ich muss wissen, was dazwischenliegt, weil ich wissen muss, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass Tourna das beweisen kann.«

»Ich habe Ihnen alles bis zu einem gewissen Punkt gesagt. Wenn nötig, kann ich Ihnen noch mehr sagen.«

Kesler schaute auf seine Uhr. Jetzt sprach er mit Nachdruck. »Richard, wir reden seit kaum einer Stunde. In Paris stehen Sie wahrscheinlich für mindestens ein oder zwei Tage im Zeugenstand. Glauben Sie, deren Kronanwalt wird sich irgendwann langweilen und einfach aufhören? Vielen Dank, Mr. Lock, ich glaube, das reicht jetzt? Er wird weitaus weniger freundlich sein als ich. Weitaus weniger. Wir werden Sie darauf vorbereiten, doch bis dahin«, er betonte jedes einzelne Wort, »müssen Sie sich ein wenig öffnen.«

»Konstantin hat nichts zu befürchten«, sagte Lock leichthin mit einem kleinen Abwinken seiner Hand. Er war nicht sicher, ob das den richtigen Eindruck von Unbekümmertheit vermittelte. Er war sich Keslers nicht sicher; oder genauer gesagt, er war nicht sicher, welchen Auftrag Kesler hatte.

»Ich weiß, Richard. Okay, ich verstehe. Herrgott.« Kesler schaute auf seine Notizen, wobei er die Stirn in seine Hand stützte, und richtete seinen Blick dann langsam zurück auf Lock. »Lassen Sie mich Ihnen versichern: Ich bin nicht hier, um eine Betriebsprüfung zu machen. Ich bin nicht hier, um die Qualität Ihrer Arbeit zu begutachten und ihm zu empfehlen, sich einen neuen Mann zu suchen, der die Löcher stopft. Sie hatten eine große Aufgabe für Malin zu erfüllen, aber Sie sind nicht der Boss, und es liegt nicht in Ihrer Entscheidung, was Sie mir erzählen. Das wurde bereits entschieden.«

Also war er nicht länger der Klient. Malin und Kesler redeten direkt miteinander. Das wusste er zwar bereits seit dem letzten Treffen in Théoule, aber er hatte dennoch erwartet, eine wichtigere Rolle zu spielen.

Es gab einmal eine Zeit, dachte Lock, in der er nicht so eingeengt war und seine erste Reaktion nicht von Angst gesteuert gewesen wäre. Er fragte sich, was sein altes Ich jetzt tun würde. Kesler herunterputzen und gehen? Neue Anwälte verpflichten? Sein altes Ich hätte Alternativen gehabt. Doch nun hatte er ebenso viel Angst vor Malin wie vor dem Gesetz, Kesler wusste das, und nicht mit Kesler zu kooperieren, hätte bedeutet, den Zorn beider auf sich zu ziehen.

Er lehnte sich vor und nahm sich noch einen Keks, weiter bemüht, Zuversicht auszustrahlen.

»In Ordnung. Aber Sie wissen, wie sensibel die ganze Sache ist.«

»Das weiß ich.«

Lock, immer noch zögernd, nickte in Richtung des leeren Stuhls, auf dem Griffin gesessen hatte: »Vertrauen Sie ihm?«

»Absolut. Er arbeitet seit fünf Jahren für mich.«

»Warum habe ich ihn noch nie gesehen?«

»Weil es bisher noch keine Strafverteidigungssache war. Was es jetzt ist.«

»Es ist ein Schiedsverfahren, um Gottes Willen. Ein Schiedsverfahren! Wir haben ein Dutzend von diesen Dingern durchgezogen oder mit Vergleichen beendet.« Lock wurde nun ein wenig lauter und sarkastischer, er fing an zu gestikulieren.

»Hier handelt es sich um etwas anderes, Richard. Weil es weitere Kreise ziehen kann. Weil man Ihnen vorwirft, ein Krimineller zu sein. Selbst wenn Tourna nicht in der Scheiße rührt – was er aber tun wird –, wenn dieses Tribunal Sie für einen Geldwäscher hält oder das auch nur andeutet, müssen Sie davon ausgehen, dass die Schweizer sich draufstürzen, die Amerikaner und Gott weiß wer sonst noch alles.«

Die Schweizer. Die Amerikaner. Die namenlosen Anderen. Mit unangreifbarer Autorität, unermüdlich, rechtschaffen, die die Bösen mit Stumpf und Stiel ausreißen und ins Gefängnis werfen wollen. Doch wenn Lock unterging, dann ging auch Malin unter, und deshalb würde Malin das nicht zulassen. Aus diesem Grund war er sicher. Das hatte eine gewisse Logik. Für einen kurzen Augenblick begrüßte er sogar den Gedanken, die Kontrolle über diesen ganzen Mist an Kesler abzugeben.


Im Laufe der nächsten sechs Tage versuchte Lock, Kesler alles zu erzählen. An sechs Tagen und fünf Abenden mit Kesler, Griffin und dem Junior beschrieb er ein Berufsleben voller routinemäßiger illegaler Transaktionen. Fast eine ganze Woche im Büro der Bryson-Kanzlei. Gelangweilt, aber dennoch nervös bestand er darauf, gegenüber dem großen Fenster zu sitzen, das nach Osten auf die Liverpool Street schaute, damit er während des Redens sehen konnte, wie London in Richtung Osten immer niedriger und leerer wurde, bis es schließlich verblasste und man die dahinterliegende Landschaft erahnte. Draußen war es offensichtlich heiß, doch in ihrem Konferenzraum lag die Temperatur konstant knapp über kalt. Wenigstens nutzten sie einen ziemlich großen Raum, wie Lock feststellte – er war vielleicht kein Klient mehr, vielleicht war er sogar ein Krimineller, aber zumindest war sein Boss wichtig genug, um beeindruckende Honorare auflaufen zu lassen.

Lock hatte keinen Zugriff auf seine Akten, aber das war kaum von Bedeutung, weil er ohnehin alles auswendig wusste. Er erklärte Kesler, dass er 1993 angefangen hatte, für Malin zu arbeiten, als dieser der Verkehrsabteilung im Ministerium für Industrie und Energie vorstand. Er hatte Lock gesagt, er wolle ein paar Chancen auf dem Privatsektor nutzen und brauche daher ein Offshore-Unternehmen, das fähig wäre, in Russland Investitionen zu tätigen. Dazu sei auch ein Offshore-Konto nötig, auf das Zahlungen erfolgen könnten. Dieses erste Unternehmen trug den Namen Spirecrest Holdings. Es war inzwischen aufgelöst worden, es hatte sich als ein kleiner Fehler erwiesen. Schnell war es durch ein zypriotisches Unternehmen namens Arctec Holdings ersetzt worden, das eine Zeit lang genau das tat, was Malin wollte: Geld aus Russland floss hinein und wurde dann zurück nach Russland geschleust, wo es in kleine unabhängige Gasproduzenten und Hersteller von Ölfördertechnik investiert wurde.

Kesler wollte wissen, woher das Geld kam. Lock erklärte ihm, dass er es am Anfang wirklich nicht gewusst hatte. Er sah nur die Zahlungen eingehen. Sein Job war es nicht, darüber nachzudenken, wo das Geld gemacht wurde, sondern einfach, es weiterzuleiten und sicherzustellen, dass es nicht die Aufmerksamkeit der Steuerbehörden – oder jemand anderes – erregte. Die Zahlungen erfolgten manchmal bar (in den Zeiten, wo Cash kein Problem war) und stammten manchmal von anderen Offshore-Unternehmen, manchmal auch von durchaus seriösen Unternehmen aus dem Westen, doch in jedem dieser Fälle konnte Lock über die genaue Herkunft nur Vermutungen anstellen.

Arctec hatte die denkbar einfachste Struktur gehabt. Das Unternehmen hatte wenige Vermögenswerte – hauptsächlich Bargeld, das sicher auf einem Schweizer Konto verwahrt war – und gehörte einer Liechtensteiner Anstalt, einem besonders undurchdringlichen Unternehmenstypus, der seinerseits einem Liechtensteiner Trust gehörte: Longway Trust, dessen Begünstigter nicht genannt wurde. Jeder Steuerfahnder oder Ermittler, der versuchte herauszufinden, wem Arctec gehörte, gelangte mit Glück bis Liechtenstein, stieß dort aber auf eine undurchdringliche Mauer mitteleuropäischer Diskretion.

Über Arctec zu sprechen, hätte allerhöchstens einen Vormittag in Anspruch genommen. Inzwischen aber war die ganze Sache sehr viel komplizierter geworden. Es war eine eigene Welt. Faringdon Holdings, das genau im Zentrum lag, hatte Anteile an mehr als vierzig verschiedenen Firmen in Russland und seinen Nachbarländern. Darüber stand ein Konsortium von neun Anteilseignern, von denen jeder einen etwa gleich großen Anteil hielt. Diese Gesellschafter waren Unternehmen, die auf den Britischen Virgin Islands, den Cayman Islands, in Malta, in Gibraltar und anderswo registriert waren. Lock hatte jedes dieser Unternehmen gegründet, und jedes davon hatte wiederum eigene Gesellschafter an vielen verschiedenen Orten. Und über allem gab es noch eine weitere Ebene, jedes Unternehmen sorgfältig von Lock eingerichtet. Zeichnete man das Ganze, ähnelte es etwa einer Sanduhr. Schließlich, wenn man den Eindruck gewonnen hatte, als würde es nie ein Ende nehmen, lief alles in der dünnen Höhenluft des Schemas wieder zusammen – in der einzigen Konstante, dem undurchdringlichen Trust, den Lock vor fast fünf Jahren gegründet hatte: Longway. Eine Art Finale.

Kesler und Lock gingen jedes Unternehmen in diesem Schema durch. Griffin hatte irgendwann einmal gezählt und verkündet, es seien dreiundachtzig. (Das waren nur die aktiven – die Dutzenden weiteren, die ihre Pflicht getan hatten und ausrangiert worden waren, ignorierten sie einstweilen.) Jedes hatte ein von Lock eingerichtetes Bankkonto. Jedes hatte seine Direktoren, die Lock hatte finden müssen. Jedes erforderte, dass seine Gebühren jährlich beim örtlichen Handelsregister gezahlt wurden; Lock schätzte, dass die jährlichen Ausgaben eine Million Dollar deutlich überstiegen. Die meisten hatten eine Geschichte, die kennenzulernen Kesler entschlossen war.

So ging es weiter. Als sie sich systematisch von der Mitte der Sanduhr bis ganz nach oben und dann wieder nach unten gearbeitet hatten, schickte Kesler seine Kollegen erneut nach draußen und wandte sich den drei Fragen zu, die ihn am meisten zu beschäftigen schienen.

»Also, Richard, woher bekommt Malin sein Geld?«

»Wie meinen Sie das?«

»Nun, im Ministerium verdient er – was? Tausend Dollar im Monat? Das erklärt nicht seinen Lebensstil. Woher bekommt er Cash?«

Lock schaute hinab auf seine Hände und dann wieder auf Kesler. »Es gibt zwei russische Beratungsfirmen, die Dienstleistungen für Unternehmen in der Gruppe anbieten. Sie leihen ihm manchmal Geld.«

»Das soll alles sein?«

»Die Unternehmen, um die ich mich kümmere, zahlen ihm nichts. Da ist er sehr vorsichtig. Von Geld, das in Russland verdient wird und in Russland zu ihm gelangt, kriege ich nichts mit. Das sehe ich nicht. Ich weiß nur über alles außerhalb Russlands Bescheid. Das ist mein Job.«

Dann wollte Kesler wissen, wem Longway gehörte. Lock sagte ihm, er selbst sei der Besitzer.

»Wollen Sie damit sagen, dass Faringdon Ihnen gehört?«

»Zu hundert Prozent«, sagte Lock.

»Dann sind Sie ein reicher Mann.«

»Das bin ich. Manchmal frage ich mich, warum ich mich dann nicht besser fühle.«

»Warum?«

»Nun, es ist nicht immer der gemütlichste Platz, um darauf zu sitzen.«

»Nein. Nein, das meine ich nicht. Warum wurde es so gemacht?«

»Warum wir es so gemacht haben? Wir haben es vor drei Jahren geändert. Überlegen Sie doch mal: Falls jemals jemand die Treuhandverträge des Trusts zu sehen bekäme und Malins Name darauf stünde, hätte er keinerlei Rückzugsmöglichkeit mehr. Alles gehörte dann eindeutig ihm. Es gäbe nichts mehr zu dementieren. Mein Name schafft eine zusätzliche Schutzschicht. Und so muss man erst einmal beweisen, dass Faringdon mir nicht gehört. Das wird schwierig.«

»Er scheint Ihnen sehr zu vertrauen.«

Lock lachte grimmig. »Es ist ja nicht so, als könnte ich das ganze Geld nehmen und abhauen.« Genauer gesagt, dachte er, wusste Malin, dass er ein Feigling war. Das gesamte System basierte darauf.

Doch den Rest des Tages, den Großteil des Nachmittags und des Abends, nahm Kesler Lock wegen etwas in die Mangel, das er »die echte Krux« nannte: wie das Geld verdient wurde. Woher kam es? Gegen welchen Wert wurde es eingetauscht? Konnten sie zeigen, dass es auf ehrliche Weise verdient wurde? Oder noch wichtiger: Könnte jemand beweisen, dass es genau das nicht wurde? Wieder und wieder sagte Lock, er habe tatsächlich keine Ahnung.

»Ich verheimliche Ihnen nichts, Skip. Wirklich. Ich bringe das Geld in Umlauf und wieder zurück und sorge dann dafür, dass es dort investiert wird, wo Konstantin es will. Das ist alles. Ich lebe zwar vielleicht seit fünfzehn Jahren in Moskau, aber ich bin kein Russe ehrenhalber. Es gibt eine Menge Dinge, die man mir nicht sagt.«

»Okay.« Kesler überlegte einen Moment lang. »Wenn Sie beweisen wollten, dass Malin den russischen Staat betrügt, wo würden Sie nachsehen?«

»Ich würde gar nicht erst damit anfangen.«

»Natürlich nicht.« Kesler verriet einen Anflug von Ungeduld, dann hatte er sich wieder unter Kontrolle. »Ich will Ihnen sagen, warum das wichtig ist. Tourna sagt, dass Faringdon nur existiert, um Geld zu verschieben und dass Sie ein Geldwäscher sind. Dazu müsste er belegen können, dass das Geld, das Faringdon durchläuft, schmutziges Geld ist. Und es muss ein Verbrechen geben, aus dem dieses Geld anfänglich hervorgeht – die Juristen nennen das ›Vortat‹. Ohne das haben sie nicht mehr in der Hand als etwas, das wie ein Apparat zur Geldwäsche aussieht, und das reicht nicht. Wenn also jemand Malin vernichten will – oder Sie –, dann muss er eine solche Straftat beweisen. Daran führt kein Weg vorbei. Also lautet meine Frage: Wo ist es? Wo ist das Verbrechen?«

Lock fühlte, wie sich seine Schultern entspannten, und spürte das Bedürfnis, sich zu strecken. Das war ermutigend. Die Verbrechen lagen tief in Russland verborgen, begraben unter mehreren Lagen Permafrost. Wenn er nichts über sie wusste – und er hatte wirklich keine Detailkenntnisse –, dann würden selbst die Amerikaner Mühe haben, in ihre Nähe zu kommen. Wie oft hatten Invasionsarmeen Russland eingenommen? Noch nie, da war er ziemlich sicher. Nicht seit den Mongolen jedenfalls. Russland war undurchdringlich. Das russische Innenministerium würde niemals mit dem FBI zusammenarbeiten, geschweige denn mit Privatermittlern. In Russland wurde kein Verbrechen jemals aufgedeckt, wenn nicht jemand, der mächtiger war als man selbst, einen verletzen wollte, und Malin würde sehr tief fallen müssen, um auch nur ansatzweise angreifbar zu werden.

»Ich weiß es nicht«, sagte er und lächelte Kesler zum ersten Mal in dieser Woche an. »Ich glaube, Tourna wird sich ziemlich anstrengen müssen. Das wird er wirklich.«


Am Samstagmorgen bekam Lock zwei Stunden frei, um seine Tochter tanzen zu sehen. Er kam zu früh und wartete draußen im kühlen Morgenlicht, er fühlte sich unwohl in den einzigen legeren Sachen, die er auf seinen Trip mitgenommen hatte: eine braune Cordhose, ein hellblaues Arbeitshemd und schwere braune Schuhe. Der Kirchensaal lag ein Stück nördlich von Marinas Apartment in einer weniger vornehmen, weniger makellosen Gegend. Er war ein Klotz aus fleckigen Backsteinen, der zwischen älteren Häusern stand, die gleichförmigen Wände durch lange schmale Milchglasfenster unterteilt. Lock beobachtete die Mütter und Väter, die mit ihren Kindern ankamen, und fragte sich, wie viele von ihnen allein lebten.

»Daddy!« Vikas Stimme durchschnitt den Lärm des vorbeifahrenden Verkehrs. Er drehte sich um und sah, wie sie von der Ecke aus auf ihn zurannte. Als sie ihn erreichte, bückte er sich ein wenig und breitete die Arme aus, einen Augenblick später hob er sie hoch, sein Rücken steif und schwach. Sie war unerwartet schwer, und die Weichheit, an die er sich erinnerte, war Rippen und Muskeln gewichen. Sie war stark.

»Hallo, Häschen.« Er setzte sie ab und lächelte Marina zu, die ihnen entgegenkam. »Guten Morgen.«

»Morgen. Wie geht’s dir?«

»Daddy, bleibst du hier und schaust zu?«

»Natürlich. Wenn ich darf.«

Vika schubste ihn spielerisch, als ob er Witze machte.

»Mami, er darf doch, oder?«

»Ich wollte nicht …«, sagte Lock.

»Kein Problem«, sagte Marina und lächelte. »Ich weiß. Wir schauen von oben zu.«

Vika nahm Locks Hand und führte ihn in die Halle. »Komm, Daddy.« Innen verabschiedeten sich Eltern von ihren Kindern oder stiegen die Treppe zu einer Empore hinauf, die sich über die ganze Länge des Gebäudes erstreckte. Die Wände bestanden aus rohem Backstein, der Boden aus abgewetztem Parkett.

»Musst du nicht was anderes anziehen?«, fragte Lock.

»Was denn?«, sagte Vika.

»Ich weiß nicht. Tanzkleidung.«

»Das ist meine Tanzkleidung.« Sie trug Turnschuhe, graue Leggings und ein grasgrünes T-Shirt mit einer stilisierten Eiche auf der Brust, deren Wurzeln in das Wort Wachsen übergingen, das in weißen Großbuchstaben aufgedruckt war.

»Komm«, sagte Marina und führte Lock an der Hand bis zur Treppe. »Viel Spaß, mein Schatz.«

Vika rannte in die Halle, drehte sich auf halbem Weg noch einmal um und winkte. Ihr Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, und Lock dachte, wie viel älter sie aussah und wie sehr sie ihrer Mutter glich – ihre gerade Nase, ihr schmaler, aber starker Hals. Sie ähnelte ihm weniger als früher.

Er und Marina saßen auf einer Bank auf der Empore. Er legte seine Arme auf die Balustrade vor ihm und schaute auf Vika hinunter. Sie stand in einer Gruppe Kinder, die über ihre Ferien plapperten und Tanzbewegungen übten, auf den Fersen saßen und Posen einnahmen. Sie stand am Rand der Gruppe, hörte zu, wie sich die anderen in dem Bedürfnis, zu Wort zu kommen, gegenseitig unterbrachen, und wartete auf den geeigneten Zeitpunkt.

Marina legte ihre Hand auf seinen Arm. »Danke, dass du gekommen bist. Es ist schön, dich zu sehen.«

»Ich hätte schon früher kommen sollen.«

Marina antwortete nicht, sie beobachtete Vika. Nach einem Moment sagte sie: »Sie freut sich so, dich zu sehen.«

»Ich weiß, das erleichtert mich.«

»Ich habe mich bemüht, dir nicht die Schuld zu geben.«

Lock wollte ihr danken, empfand das jedoch als unpassend. Sie schwiegen eine Weile.

»Was ist denn aus dem Ballettunterricht geworden?«, fragte er.

»Das macht sie mittwochs. Aber jetzt liebt sie das hier. Sie übt die ganze Zeit.«

»Ich wette, sie ist gut.«

Marina lächelte und sah auf die Tänzerinnen hinunter. Sie hatten sich in zwei Reihen von zehn Kindern aufgestellt und hörten ihrer Lehrerin zu, einer Frau von etwa zwanzig, die ein graues Schlabber-T-Shirt trug und sich auf eine Weise hielt, die irgendwie gleichzeitig locker und gespannt wirkte. Das Schnattern war verstummt, und die Kinder schauten ihr aufmerksam zu, während sie hin- und herging. Vikas Gesicht war ernst und konzentriert.

»Guten Morgen, alle miteinander.« Sie hatte die Stimme einer Lehrerin, durchdringend und klar. »Schön, euch hierzuhaben. Ihr seht alle sehr erholt aus. Wollen wir hoffen, dass ihr euch fit fühlt.« Ein oder zwei Kinder grinsten, aber Vikas Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. »Wir haben eine ganze Menge neuer Gesichter bei uns, das ist klasse. Willkommen bei St. Luke’s Dance. Ich bin Jennifer. Ich denke, wir zeigen heute den neuen Tänzerinnen einmal das, was sie auch bald können werden. Also – alle, die letztes Jahr hier waren, probieren jetzt unsere Nummer aus der Show. Mal schauen, woran wir uns noch erinnern. Ein paar Tänzerinnen fehlen, aber tanzt einfach euren Part und macht euch nicht zu viele Gedanken.«

Lock sah zu, wie Vika auf die linke Seite der Gruppe lief, sich geschmeidig auf ein Knie niederbeugte und zu einer Kugel zusammenkauerte, die Hände über dem Kopf verschränkt. Neben ihr nahmen die anderen Kinder sorgfältig ihre Startpositionen ein, einige zusammengerollt wie Vika, andere zu Sternen gruppiert, wieder andere nach hinten gebeugt, die Arme zu allen Ecken des Raums ausgestreckt. Auf ein Nicken der Lehrerin hin füllte sich die Halle mit dem Wummern basslastiger Musik. Vier Takte lang blieben die Tänzer still, beinahe unheimlich still, bis sie mit großer Präzision in einen synkopierten Rausch von Bewegungen, Drehungen, Sprüngen, Tritten, komplizierten Arm- und Beinbewegungen in die Luft explodierten, wobei einige den Takt besser hielten als andere. Jede Tänzerin hatte ihren eigenen Stil. Vikas Stil war ernsthaft, aber leicht, die Entschlossenheit in ihren Augen widersprach der Grazie ihrer Schritte, selbst hierin glich sie ihrer Mutter. Sie war ein paar Zentimeter größer als die anderen und trotz ihrer Natürlichkeit würdevoller, so als ob etwas aus all ihren Ballettstunden, vielleicht auch etwas von Russland, sie nie verlassen hätte.

Lock spürte Tränen in seiner Brust aufsteigen; er wusste nicht, warum. Er war kein sentimentaler Mann. Wenn er alleine in Moskau war, vermisste er Vika, doch am stärksten vermisste er die praktischen Dinge des Alltags: mit ihr zusammen zu sein, mit ihr zu reden, ihr Dinge beizubringen, sie lachen zu hören. Er begriff, dass er ein völlig veraltetes Bild von ihr hatte. Sie war jetzt ein anderer Mensch, anders, weil sie in London war, anders, weil sie acht Jahre alt war, anders, weil sie auf diese Art tanzte, die so neu und doch so ganz sie selbst war. Als er sah, wie sie sich zur Musik bewegte, gleichzeitig frei und souverän, verspürte er einen kleinen Anflug von Panik bei dem Gedanken, dass er sie vielleicht nie wieder richtig kennen würde. Doch die Tränen, die er zurückhielt, galten nicht ihm selbst und hatten nichts mit Traurigkeit oder Angst zu tun.

Er schluckte einmal bewusst, lächelte Marina an und schaute wieder weg. Unter ihm ging der Tanz zu Ende, Vika rutschte auf den Knien, Kopf und Arme zurückgeworfen, und kam zum Halten. Er klatschte, und die Handvoll Eltern auf der Empore fiel in den Applaus mit ein. Vika stand auf und lächelte zu ihm hoch.

»Alles in Ordnung?«, fragte Marina.

Er wandte sich ihr wieder zu und lächelte erneut, womit er nicht einmal sich selbst überzeugen konnte. »Es ist einfach schön, sie zu sehen.«

»Wir haben großes Glück.«

»Das haben wir.«

Lock machte eine Pause. Ihm war vage bewusst, dass er eine Frage stellen musste, die er nicht formulieren konnte. »Ist sie glücklich? Hier in London?«

»Ich glaube schon. Sie liebt London.« Marina blickte ihn forschend an, ein leichtes Runzeln auf ihrer Stirn. »Trifft das deine Frage?«

»Ich weiß es nicht.« Er schaute nach unten. Die Lehrerin forderte die Kinder auf, einen Kreis zu bilden. »Ich mache mir Sorgen darüber, was ich ihr angetan habe.«

»Sie sieht es nicht als deine Schuld.«

»Das heißt nicht, dass es nicht meine Schuld ist. Sie wird es eines Tages wissen.«

Marina verschränkte die Arme und schaute den Tänzerinnen zu. »Worauf willst du hinaus?«

»Ich … ich nehme an, ich würde mich gerne bei ihr entschuldigen.«

»Sie würde es nicht verstehen.«

»Ich meine nicht mit Worten.«

»Wie sonst?« Marina schaute ihn an und wandte sich dann wieder dem Unterricht zu.

Lock dachte nach. Er konnte es nicht in Worte fassen, weil er selbst noch nicht wusste, was er eigentlich sagen wollte. Marina wusste immer, was in ihrem Herzen vor sich ging, und je komplizierter die Situation war – wenn er selbst in Wünschen und Ängsten herumstocherte, die immer im Schatten blieben, still und unauffällig –, desto klarer wusste sie es. Daran erinnerte er sich von ihren Streitigkeiten. Erst später war ihm klar geworden, dass diese leichten Siege Marina keinen Triumph gebracht haben konnten, im besten Falle mussten sie eine weitere Enttäuschung für sie gewesen sein. Inzwischen war ihm bewusst, dass er ihr zumindest zeigen wollte, dass er sich geändert hatte.

Was also wollte er? Irgendein Wissen musste aus dem langsamen, tröpfelnden Prozess der letzten vier Jahre destilliert worden sein. In seinem Kopf standen sich zwei Bilder gegenüber: seine Wohnung in Moskau, hart und hell mit glänzend poliertem Marmorboden, die lederbezogenen Möbel fast unbenutzt, die Küche überflüssig, das ganze Ding im Moment und auch ansonsten leer; und seine Tochter in ihrem T-Shirt, die unter ihm tanzte und sich drehte.

Er wollte weg vom Geld. So viel wusste er. In seiner Welt war jeder Akt eine Transaktion, jede Beziehung ein misstrauischer Vertrag. Er hatte sich immer für einen kleinen, aber gerissenen Spieler in diesem Spiel gehalten, doch in Monaco war ihm zum ersten Mal klar geworden, welchen Preis das Mitspielen forderte, welchen hohen und wahrscheinlich unvermeidlichen Preis.

Er schaute Marina an. Wie oft hatte er so dagesessen, ihr Profil im Blick und unfähig, die richtigen Worte zu finden, damit sie sich ihm zuwendete? Er spürte eine Welle von Schuldgefühlen und dann von Versagen in sich aufsteigen.

»Ich … ich würde euch gerne mehr sehen«, sagte er. »Euch beide.«

»Das hast du schon gesagt.«

»Nein, habe ich nicht. Ich habe gesagt, dass ich euch gerne öfter besuchen würde. Das ist etwas anderes.« Marina schloss die Augen und massierte ihren Nasenrücken. Er fuhr fort: »Ich will euch öfter sehen. Nicht nur besuchen, sondern Zeit mit euch verbringen. Etwas zusammen unternehmen.« Marina antwortete nicht. »Ganz normale Dinge eben.«

Sie wandte sich ihm zu, und er spürte die Kühle, die manchmal in ihren Augen lag.

»Du hast deine Arbeit zu erledigen, Richard. Das weißt du.« Sie machte eine Pause. »Geh weg aus Moskau. Finde einen Weg. Ich will das nicht mehr in unserer Familie haben.«

Lock nickte sanft, mit gesenktem Blick. »Und wenn ich das tue?«

Ihre Augen wurden weich. In solchen Momenten schienen sie zu sagen, dass es größeren Kummer gab als ihren eigenen. »Das Schlimmste daran war, zu sehen, wie du deine Orientierung verlierst. Das hasse ich immer noch.«

Er nickte wieder. Unter ihm zählte die Tanzlehrerin einen Viervierteltakt, und Vika, die sie aufmerksam betrachtete, versuchte, eine neue Schrittfolge zu tanzen. Orientierungslos. Das war ein gutes Wort für ihn. Er war weit vom Kurs abgekommen, vielleicht zu weit.