8
Es war Mittwoch und Gerstman seit drei Tagen tot. Webster hatte im Büro ein wenig gearbeitet, aber nicht am Projekt Schneeglöckchen. Es gab ein paar kleinere Fälle, die seine Aufmerksamkeit erforderten: Ein Klient plante, eine Kugellagerfirma in der Tschechischen Republik zu kaufen, und wollte wissen, was er für sein Geld erhalten würde; ein anderer fragte sich, warum der Manager seiner Kiewer Niederlassung so viel Geld verlor (weil er es unterschlagen hatte, wie schließlich herauskam). Webster schaute sich an, wie alles lief, dankte der Vorsehung, dass sein Team so gut war, und verbrachte den Rest der Zeit in seinem Büro, wo er vagen Gedanken über seine Verantwortung anderen gegenüber und die Risiken des Weltenretterdaseins nachhing. Er fühlte sich von seinem Verdacht, von seinem Enthusiasmus betrogen, aber seine Theorie ließ sich nicht zur Seite schieben. Im Gegenteil: Sie war durch Gerstmans Tod eher noch stärker geworden; sie rieb ihm seine Hilflosigkeit unter die Nase und lockte ihn gleichzeitig, die Arbeit wiederaufzunehmen. Hammer ging mit ihm essen und versuchte, ihn davon zu überzeugen, sich weiter mit dem Fall zu beschäftigen. Seine Kollegen hielten sich auf Distanz.
An diesem Abend ging Webster mit Elsa ins Kino: Die Reise nach Tokio im Tricycle. Danach aßen sie in einem japanischen Restaurant in Hampstead, einem winzigen Lokal, wo er und Elsa an der Theke saßen und dem Koch am Hibachi-Grill zuschauten. Seine Hände, voller Schwielen und rot von der Hitze, bewegten sich mit unendlicher Geschmeidigkeit, legten Spieße mit Schweine- oder Hähnchenfleisch und Wachteleier auf den geschwärzten Rost, würzten und wendeten sie, und wussten exakt, wann sie durchgebraten waren. Webster betrachtete Elsa, während sie die Speisekarte las. Im Profil und mit gesenktem Kopf sah sie mädchenhaft aus. Das Haar, so dunkelbraun, dass man es für schwarz halten konnte, war weder lockig noch glatt und hing ihr ins Gesicht.
Sie bestellten. Einige Spieße, etwas Sushi, Meerbrasse und Makrele mit Salz. Sie bekamen Sake in eckigen Holzbechern und noch mehr Salz. Sie stießen an und tranken.
»Wie war das Mittagessen?«, fragte Elsa.
»Gut. Wir sind zu diesem schrecklichen Inder gegangen, den er so liebt.«
Sie lachte. »Leer?«
»Ein anderer Tisch war besetzt. Ich weiß nicht, wie die überlebt haben, bevor er sie entdeckt hat.«
Sie drehte sich auf ihrem Hocker, sodass sie ihm fast gegenübersaß. Er schaute weiter auf seinen Sake hinunter. »Und was hat er gesagt?«
»Du kannst es dir wahrscheinlich denken.«
»Irgendetwas Neues?«
»Eigentlich nicht.«
»Er will also, dass du weitermachst?«
Webster nickte. »Wenn ich es nicht tue, macht er es.« Er drehte sich zu ihr hin. »Es steht eine Menge auf dem Spiel.«
»Ich dachte, du hättest dich entschieden.«
»Das hatte ich auch.« Elsa schwieg. »Er war sehr überzeugend.«
»Wie immer.«
Er machte eine Pause. »Das sieht dir nicht ähnlich.«
»Was?«
»Gegen Ike zu sticheln.«
»Ich stichle nicht. Du weißt, dass ich Ike wirklich mag. Aber er hat andere Prioritäten im Leben.« Sie machte eine Pause, während eine Kellnerin zwei Schalen Suppe brachte und sie auf die Theke stellte. »Zum Beispiel hat er keine Kinder.«
Webster rührte mit seinen Stäbchen in der Suppe. Helle kleine Tofuwürfel schwammen in der Brühe. Er runzelte die Stirn, verstand sie nicht. »Was hat das damit zu tun?«
»Ich will nicht, dass jemand dich von einem Dach wirft.«
»Das ist albern.«
»Ihr zwei hattet eine Unterhaltung in Berlin. Ein paar Wochen später ist einer von euch beiden tot. Warum solltest du nicht der Nächste sein?«
Er lachte. »Die bringen keine Berater um. Haben sie noch nie. Das gibt zu viel Ärger. Außerdem würde einfach jemand anderes an meiner Stelle auftauchen.«
Elsa sagte nichts. Sie schaute auf die Theke, spielte mit ihren Essstäbchen.
Er legte seine Hand auf ihren Rücken. »Hast du Angst?«
»Es gefällt mir nicht. Ich kenne dich, wenn du so bist. Es ist besser, wenn du einen Fall hast, den du nicht magst.«
»Sobald ich glaube, dass ich in Gefahr bin, höre ich auf. Aber das bin ich nicht. Wirklich. Nach dem, was in Budapest passiert ist, werden die mir nichts antun. Wie würde das aussehen?«
»Es könnte ihnen egal sein.«
»Vielleicht. Aber einen Engländer umzubringen, bedeutet richtig viel Ärger. Die Polizei macht eine genaue Untersuchung. Das sind sie nicht gewohnt.«
Mehr Essen wurde gebracht. Elsa nahm einen Spieß und begann, mit den Stäbchen das Fleisch auf ihren Teller zu schieben.
Ohne ihn anzusehen, sagte sie: »Denkst du nicht, dass du aufhören solltest?«
»Ja und nein.«
»Anstandshalber.«
Er zögerte. »Ich habe einen Artikel gefunden, den Inessa über Malin geschrieben hat. Zwei Monate, bevor sie starb. Ich wusste nichts davon.«
»Und?«
»Damit ergibt alles einen Sinn. Er hatte genug zu verlieren. Und Freunde in der ganzen Regierung. Er könnte es getan haben.«
»Du glaubst, er hat Inessa umgebracht?«
»Er wäre ein Kandidat.«
Elsa schüttelte den Kopf und seufzte. »Das ist neu. Aber auch altbekannt.«
»In gewisser Weise ist es unwichtig.« Er sah, wie Elsa überrascht die Augenbrauen hob. »Ich weiß, dass ich es niemals wissen werde. Ich bin hier nicht auf einem Kreuzzug.«
»Nein. Du suchst nach einer Art Absolution.«
»Ich hätte nicht einfach weggehen sollen. Du weißt, dass ich das bereue.«
»Sie haben dich hinausgeworfen.«
»Ich meine aus Russland.«
Elsa nickte. »Also geht es um Gerechtigkeit.«
Webster spürte, wie seine Entschlossenheit zerbröselte. »Ich weiß es nicht.«
»Du attackierst den Großen Russen – in der Hoffnung, dass er damals schuld war.«
»Er verdient es ohnehin. Und so wie es aussieht, wäre er dazu fähig.«
»Und was hättest du in der Hand? Einen Artikel und ein Gefühl.«
»Wenn er stürzt, werden Dinge herauskommen«, sagte er. »Dann ist er nicht mehr geschützt. Vielleicht kommt dann sogar alles heraus.«
»Und wie wahrscheinlich ist das?«
Webster schwieg. Eine der Eigenschaften, die er an Elsa liebte, die ihm jedoch nicht immer Vergnügen bereitete, war, dass sie ihm keinen Raum ließ, sich selbst etwas vorzumachen. Nur in diesem Punkt wirkte sich ihre Arbeit auf ihr Privatleben aus. Sie war Psychologin und Familientherapeutin, und ihre Entschlossenheit zur Ehrlichkeit wankte nie.
Eine Kellnerin kam, um ihre Suppenschalen abzutragen und zu fragen, ob sie noch mehr Sake wollten. Elsa lächelte geistesabwesend und lehnte höflich ab.
»Schatz«, sagte sie, beugte sich zu ihm hinüber und legte ihre Hand auf seinen Arm, »du schuldest ihm nichts. Gerstman. Genau wie Inessa. Damit hat Ike recht.«
»Ich glaube, doch.« Er hob seinen Becher, sah, dass er leer war, und stellte ihn wieder ab. »Es wäre schön, wenn jemand zur Verantwortung gezogen würde. Nur ein Mal. Wenn nicht für Inessa, dann für alle anderen.«
Elsa sagte nichts. Er fuhr fort: »Hör zu, ich werde nach Berlin fliegen und mit seiner Witwe sprechen. Ich muss. Und dann treffe ich mich nächste Woche mit unserem Klienten. Er wird die Sache vielleicht sowieso beenden. Wir sind schließlich nicht sehr weit gekommen.«
Elsa nickte. »Okay. Okay.« Sie sah ihm in die Augen. »Aber du musst mir eines versprechen: Wenn du auch nur eine Sekunde lang denkst, dass du in Gefahr bist, sagst du es mir und hörst auf.«
Er lächelte. »Natürlich.«
»Ich meine es ernst, Ben.«
»Ich weiß. Und ich liebe dich dafür.«
Sie lachte, entspannte sich, schüttelte den Kopf und schaute sich nach der Kellnerin um. »Wir brauchen noch etwas zu trinken.« Sie wandte sich wieder ihm zu. »Wäre es nicht schön, Bäcker zu sein oder Gärtner oder Bankmanager? Meinst du nicht? Irgendetwas Einfaches?«
»Genau das habe ich auch gedacht. Die ganze Woche lang.«
Die Straße, in der Nina Gerstman wohnte, war schmal für Berlin, die Gebäude waren hoch, und in einigen von ihnen befanden sich Läden, die eine diskrete Exklusivität ausstrahlten. Man musste schon genau hinschauen, um zu erkennen, wie erstklassig diese Wohngegend eigentlich war, dachte Webster; nicht demonstrativ, sondern solide und betucht. Webster zahlte sein Taxi, fand die Nummer 23 und warf einen Brief in Ninas Briefkasten. Jetzt konnte er nichts weiter tun als warten. Er entschied sich, zu Fuß zum Hotel zurückzugehen. In ein paar Minuten begann das Schiedsverfahren in Paris, dachte er und fragte sich, ob er nicht besser dorthin geflogen wäre.
Diesmal nahm er die Stadt in sich auf. Der Tag war kalt und eisgrau und warf sein gleichförmig stumpfes Licht über die breiten Straßen. Er ging von Charlottenburg, wo die Reichen in ihren Stadthäusern lebten, durch das alte, renovierungsbedürftige Zentrum Westberlins, einem Durcheinander von Autokolonnen und Baustellen, bis hinauf zum Tiergarten, wo die Birken all ihre Blätter verloren hatten. Das erinnerte ihn an Russland, an Spaziergänge im Ismailowoer Park mit Inessa und ihren Freunden. Sie wäre hierhergekommen, dachte er, sie hätte mit Nina gesprochen. Inessa hatte niemals wissentlich eine Story unfertig gelassen.
Gegen fünf dachte er, er würde an diesem Tag nichts mehr von Nina Gerstman hören. Vielleicht war sie frühmorgens zur Universität gegangen und hatte seinen Brief nicht gesehen. Er hatte sich keine feste Frist gesetzt, wie lange er in Berlin bleiben wollte. Für den nächsten Abend war sein Flug nach Paris gebucht, wo er sich mit Onder treffen wollte, aber die Reservierung könnte er ändern. Das Schiedsverfahren würde die ganze Woche dauern, und Onder würde die meiste Zeit dabei sein. Sollte er sich mit Prock treffen, falls Nina nicht antwortete? Sein Instinkt sagte Nein, aber wahrscheinlich sollte er es dennoch tun. Er beschloss, einen weiteren Brief zu schreiben und ihn in Procks Büro einzuwerfen, damit dieser ihn am folgenden Morgen hatte. Er warf ihn am Abend auf seinem Weg zum Essen ein.
Um kurz vor neun Uhr abends meldete sein Handy mit einem Piepston, dass er eine SMS-Nachricht bekommen hatte. »Mr. Webster. Bitte kommen Sie morgen früh um 9 Uhr in meine Wohnung. Vielen Dank. Nina Gerstman.« Sie war also da. In diesem Moment wurde ihm klar, dass es ihm wesentlich leichter fallen würde, mit Prock zu sprechen als mit ihr.
Er erwachte früh. Um acht hatte er geduscht, sich rasiert und einen dunkelblauen Anzug mit weißem Hemd und dunkelblauer Krawatte angezogen. Es war ein Tag, an dem man so ernst wie möglich wirken sollte. Beim Hinausgehen warf er einen Blick in den Spiegel. War das das Gesicht, das er verdiente? Für ihn sah es ziemlich ehrlich aus, aber letztlich konnte er das kaum beurteilen. Seine Augen waren braun und offen, mit grünen und schwarzen Einsprengseln; sein Haar, schon seit Jahren silberfarben und kurz geschnitten, suggerierte Seriosität und Verantwortungsbewusstsein. Sein Gesicht hatte genug Makel, um einen irgendwie überzeugenden Eindruck zu erwecken: eine kurze Narbe am Kinn, wo sein Bart nicht wuchs, die Nase nicht ganz gerade. Er war glaubwürdig, zweifellos. Aber es war eine Sache, das Vertrauen von Leuten zu gewinnen, und eine ganz andere, dieses Vertrauen auch zu verdienen.
Um neun Uhr stand er vor Ninas Haus und klingelte. Der Himmel war immer noch trüb. Während er wartete, schaute er durch die Glastür in die Eingangshalle. Er beschattete seine Augen mit den Händen, um das Licht abzuschirmen. Eine Steintreppe mit Jugendstil-Geländer, der Boden in einem komplizierten Muster gefliest, an den Wänden Marmor bis auf Schulterhöhe. Eine Frauenstimme fragte, wer er war, und ließ ihn ein. Ein alter Lift mit Eisenkäfig trug ihn in den vierten Stock, und als er die Ziehharmonika-Tür öffnete, wurde er schon von Nina erwartet.
Sie entsprach so gar nicht seinem Bild von ihr. Nach seinen Recherchen war sie Akademikerin, Physikerin, und hielt Vorlesungen an der Humboldt-Universität. Er hatte sie sich klein und irgendwie akademisch vorgestellt – eine Brille vielleicht, mausgraue Haare und praktische Kleidung. Tatsächlich war sie fast so groß wie er und dunkel, mit runden schwarzen Kinderaugen in einem schmalen Gesicht. Sie stand mit leicht gespreizten Beinen, die Waden kräftig, die Füße ein wenig nach außen gedreht wie eine Tänzerin, und sie trug Schwarz: einen schwarzen Rock, schwarze Strümpfe und Schuhe, eine schwarze Strickjacke über einer grauen Bluse. Webster hatte seit dem Tod seines Großvaters vor zehn Jahren mit niemandem mehr gesprochen, der in Trauer war.
»Frau Gerstman.« Er bemerkte, dass er eine leichte Verbeugung mit dem Kopf machte.
»Mr. Webster.«
»Danke, dass Sie mich empfangen. Ich hoffe, ich störe nicht.«
Nina sagte nichts, sondern bedeutete ihm mit einer Geste, ihr in die Wohnung zu folgen. Sie gingen einen langen Korridor entlang. Auf beiden Seiten waren Türen, die alle geschlossen waren. Den Boden bildete ein goldfarbenes Parkett, und an der Wand hingen Farbfotografien verschiedener Wahrzeichen des modernen Berlins: die Neue Nationalgalerie, der renovierte Reichstag und mehrere Gebäude, die Webster nicht erkannte. Die Fotos waren gut, und Webster fragte sich, ob Nina sie gemacht hatte. Oder Gerstman.
Der Korridor mündete am hinteren Ende der Wohnung in ein helles Wohnzimmer mit großen Fenstern auf zwei Seiten. Hier gab es keine Fotografien, sondern viele Gemälde, abstrakte Kunst und Porträts, die in Gruppen zusammen hingen.
»Möchten Sie etwas trinken, Mr. Webster?«, fragte Nina. Ihre Stimme war leise und trocken. Webster lehnte dankend ab. Sie setzte sich in kerzengerader Haltung auf die Kante eines niedrigen Sofas, und Webster nahm ihr gegenüber in einem Sessel Platz. Auf dem Glastisch zwischen ihnen lagen Verkaufskataloge von Auktionen für moderne Kunst in London und Paris. Sein Sessel war niedrig, und er hatte Probleme, eine Haltung zu finden, die ihm angemessen schien.
Nina schaute Webster an. Er fragte sich, was sie wohl sah. Im Licht war ihr Gesicht blass, bis auf die Haut unter ihren Augen, die ein dunkles Grauviolett zeigte.
»Danke, dass Sie mich empfangen. Ich bin Ihnen sehr dankbar dafür«, sagte er.
»Ich wollte Sie sehen.«
»Ich möchte zuerst sagen, wie … wie leid es mir tat, die Nachricht zu hören.« Die Worte klangen dünn und spröde, als er sie aussprach.
»Danke.«
»Ich habe es vom Partner Ihres Mannes erfahren. Er hat mich angerufen. Er sagte mir, dass …« Er zögerte. »Er war der Meinung, dass mein Treffen mit Dmitri seinen Tod verursacht haben könnte.«
Nina schwieg.
»Es war nicht meine Absicht, irgendjemandem zu schaden.«
Wieder gab Nina keine Antwort, sondern blickte ihn die ganze Zeit nur unverwandt an. Sie war gefasst; Webster fühlte sich miserabel. Er konnte nicht erkennen, ob Resignation oder eine stumme Wut sie erfüllte. Schließlich sagte sie: »Ich weiß nicht, warum er starb, Mr. Webster. Ich hätte gerne, dass die Ungarn mir diese Frage beantworten, aber ich glaube, das werden sie nicht tun.« Sie machte eine Pause. »Was glauben Sie, warum er starb?«
»In gewisser Weise kannte ich ihn kaum. Ich bin wahrscheinlich der Letzte, der sich ein Urteil erlauben darf.« Webster veränderte seine Sitzhaltung.
»Aber was glauben Sie?«
»Ich habe das Gefühl, dass er ermordet wurde.«
»Warum glauben Sie das?«
»Wegen dem, was ich aus Ungarn höre. Weil es eine sehr seltsame Art war, es … es zu beenden. Weil die Ungarn so schnell zu einem abschließenden Urteil gekommen zu sein scheinen.«
»Ich habe das gleiche Gefühl. Aber ich würde es gerne wissen.«
»Ich auch.«
Nina hatte ihre Hände im Schoß gefaltet. Sie löste sie und kratzte sich leicht am Unterarm.
»Das ist es, was ich von Ihnen wissen will, Mr. Webster. Warum Sie es wissen wollen. In gewisser Weise geht es Sie nichts an. Sie haben Dmitri ein Mal getroffen. Sie kannten ihn nicht.«
Webster hatte diese Frage vorausgesehen. Er hatte eine Antwort vorbereitet, die ihm aber jetzt hoffnungslos unpassend erschien. Er wollte gerade dazu ansetzen, als auf einem Tisch in einer Ecke des Raums ein Handy zu summen begann.
»Entschuldigen Sie mich.« Nina stand auf, um das Gespräch anzunehmen. »Gerstman.« Sie ging in den Flur und redete leise. Trotzdem konnte Webster hören, was sie sagte. Ihr Gesprächspartner redete mehr als sie. »Ja«, hörte er sie auf Deutsch sagen. »Nicht jetzt, nein. Ich habe jemanden hier. Ja.« Eine lange Pause. »Das hast du nicht zu entscheiden. Ich wollte ihn sehen.« Websters Deutsch reichte aus, das meiste davon zu verstehen. »Ja, mir geht es gut. Vielleicht morgen. Oder Mittwoch. Ja. Auf Wiedersehen. Auf Wiedersehen.«
Nina kam ins Zimmer zurück und setzte sich. Sie legte das Telefon auf den Glastisch vor sich.
»Tut mir leid«, sagte sie. »Nur ein Freund.«
»Sie müssen mir sagen, wenn ich lieber gehen soll.«
»Nein, es ist okay.«
»Danke.« Webster riskierte ein Lächeln, von dem er hoffte, dass es mitfühlend wirkte; Nina erwiderte es nicht. Ihr Gesicht war schwer zu lesen. Es war versteinert, gefroren, aber nicht vor Zorn. Es lag etwas anderes darin. Er versuchte es erneut: »Sie haben mich gefragt, warum ich noch interessiert bin. Ich will den Mann stoppen, der dafür verantwortlich ist.«
Nina nickte. »Und warum sind Sie hier?«
Auch das hatte er vorausgesehen. »Ich bin hier, weil … Ich bin hier, um zu sagen, dass es mir leidtut, um mich zu entschuldigen für alles, was ich möglicherweise getan habe.«
»In meinem Beruf, Mr. Webster, muss man wissen, dass man nichts beobachten kann, ohne es zu verändern. Es ist unmöglich, einfach nur Beobachter zu sein. Also haben Sie eine Rolle gespielt, welche auch immer es gewesen sein mag.«
»Das stimmt.«
»Ich will Ihnen gegenüber offen sein. Es interessiert mich nicht, was Sie getan haben. Dmitri war nie frei von Russland. Es ist ihm hierhergefolgt. Ich glaube nicht, dass Sie es mitgebracht haben. Er hat versucht, es aufzuhalten, er hat Versicherungen abgeschlossen. Er war sehr vorsichtig. Mein einziges Interesse, alles, was ich will …« Zum ersten Mal schaute sie auf ihre Hände. »Ich will wissen, wie er gestorben ist.« In ihren Augen bildeten sich Tränen. Sie wischte sie mit dem Handrücken weg und blickte einen Moment von Webster weg, aus dem Fenster, auf die Dächer der benachbarten Häuser. Sie holte tief Luft. »Ich weiß nicht, ob diese Leute dafür bezahlt werden, die Untersuchungen einzustellen, oder ob sie nicht weiterermitteln wollen. Es muss eine … wie sagt man, es muss sehr ärgerlich sein, wenn man einen toten Russen aus Berlin in seiner Stadt findet.« Sie machte eine Pause und sah ihn an. »Aber es ist alles widersprüchlich. Ich weiß, dass er mir diese E-Mail nicht geschickt hat. Ich weiß es.« Sie beugte sich vor, legte die Stirn in die Hände und schüttelte langsam den Kopf.
Webster beobachtete sie. Nach einiger Zeit schaute sie zu ihm auf.
»Frau Gerstman«, sagte er, »ich habe Freunde in Budapest, die mich über den Verlauf der Untersuchung auf dem Laufenden halten. Ich will diese Informationen gerne mit Ihnen teilen. Sehr gerne.« Zum ersten Mal verrieten ihre von Tränen geröteten Augen etwas wie Neugier. »Danke.«
Mit einem kleinen Nicken signalisierte er, dass er sein Versprechen halten würde. Beide schwiegen.
»Was haben Sie mit diesen Versicherungen gemeint?«, sagte Webster schließlich.
»Wie bitte?«
»Sie haben vorhin Versicherungen erwähnt. Dass Dmitri Versicherungen abgeschlossen hat.«
»Ich wusste nicht, dass ich das gesagt habe.«
Webster entschloss sich, nicht weiterzubohren. Stattdessen fragte er sie, ob sie Richard Lock kannte.
»Richard? Ja, natürlich. Er hat mir Blumen geschickt. Warum?«
»Er arbeitet noch für Konstantin Malin. Ich mache mir Sorgen, dass er, wenn Dmitri wirklich in Gefahr war, es vielleicht auch sein könnte.« Das hatte er bereits bei Ninas Mann versucht, und während er es aussprach, meldete sich sein Gewissen. Damals hatte er es nicht ganz ernst gemeint.
»Wenn er immer noch für Malin arbeitet, wird er keine Probleme bekommen.«
»Was für eine Art Mensch ist Lock?«
»Ein ziemlich normaler Mann. Dmitri mochte ihn. Mr. Webster, ich ziehe es vor, nicht …« Die Türglocke ertönte. Einen Moment lang sah Nina verwirrt aus, dann sammelte sie sich, so, als wolle sie sich auf eine unangenehme Begegnung vorbereiten. »Entschuldigen Sie mich.«
Sie verließ den Raum, um die Wohnungstür zu öffnen, und Webster erhob sich. Er hörte einen gedämpften, erregten Wortwechsel auf Deutsch, gefolgt von den Schritten eines Mannes, die auf dem Holzboden schwer und steif klangen. Die hohe Stimme des Mannes sprach weiter, Webster konnte einige Worte aufschnappen: »Zuerst die Russen, jetzt die Engländer. Wenigstens ist er nicht eingebrochen.« Webster stand noch immer, als ein kleiner rotgesichtiger Mann mit gezwirbeltem Schnurrbart und Glatze in den Raum stampfte und murmelte: »Wo ist er? Wo ist er?« Als er Webster sah, blieb er stehen, fixierte ihn mit Blicken und forderte ihn zum Gehen auf: »Raus mit Ihnen. Los. Gehen Sie.«
Nina kam hinter ihm in den Raum, nahm ihn am Arm und versuchte, ihn wieder hinauszubugsieren, wobei sie etwas sagte, das Webster nicht verstand. Der Mann antwortete ihr in einem bestimmten, leicht herablassenden Ton – »Hat er dich auch bedroht? Dann wird er’s noch« –, und sie ließ seinen Arm los.
»Wissen Sie, wer ich bin?«, fragte er Webster.
»Ich glaube schon, ja.« Webster hatte ihn bei seinem ersten Besuch in Berlin mit Gerstman zusammen gesehen. Er trug einen Tweed-Anzug. Er hatte einen fast grotesk stark ausgeprägten Akzent.
»Ich bin Heinrich Prock, Herr Webster. Partner von Herrn Gerstman, der inzwischen tot ist. Vielleicht habe ich mich nicht klar ausgedrückt, als ich Sie angerufen habe, Herr Webster, hm? Wir wollen das aus unserem Leben hinaushaben. Hinaus.« Prock sprach immer noch nachdrücklich, doch seinem Auftreten haftete etwas Linkisches, beinahe Lächerliches an. Er wirkte wie ein Schoßhündchen mit einem mächtigen Bellen. Webster schoss der Gedanke durch den Kopf, dass er Prock vielleicht nicht so ernst genommen hätte, wenn er an jenem Sonntag im Park persönlich mit ihm gesprochen hätte. »Für immer.« Er redete weiter: »Ich weiß weder, für wen Sie arbeiten, noch was Sie wollen, und das ist mir auch egal, Herr Webster, aber ich will, dass diese Frau in Ruhe gelassen wird. Sie hat genug durchgemacht. Da kommen Sie einfach hierher, in die Wohnung einer Witwe, nicht einmal eine Woche, nachdem ihr Mann gestorben ist, um Antworten auf Ihre eigenen Fragen zu suchen. Sie sind keinen Deut besser als die anderen. Und jetzt möchte ich, dass Sie gehen, bevor ich die Polizei rufe. Gehen Sie jetzt, bitte.« Er zeigte auf die Tür, eine unnötige Geste.
Nina wandte sich ihm zu und sagte mit leiser Stimme etwas zu ihm. Prock antwortete mit einem drängenden Zischen: »Wann kamen die Anrufe? Vor zehn Tagen? Und dann tauchte er auf? Wie kannst du wissen, dass er nicht für sie arbeitet?«
Webster schaute zu Nina, die mit verschränkten Armen neben Prock stand. Sie nickte widerwillig, als wolle sie sagen, dass sie sich ein anderes Ende dieses Besuchs gewünscht hätte, aber dass er jetzt tatsächlich besser gehen solle.
Als er an Prock vorbeischritt, blieb er vor Nina stehen und sagte: »Vielen Dank. Wenn ich etwas aus Budapest höre, lasse ich es Sie wissen.«
Sie nickte wieder. Im Hinausgehen spürte er förmlich, dass Procks Entrüstung es kaum erwarten konnte, sich Luft zu verschaffen.
Nach Berlin verbrachte Webster in Paris einen Tag mit einem herzlichen Onder, der Lock getroffen und viel zu berichten hatte, dann flog er zurück nach London, um sich am nächsten Tag, einem Freitag, mit Tourna zu treffen. Er spürte, wie der Fall – gegen seinen Willen – wieder an ihm zu zerren begann, ihm Ideen entlockte, ihn von einem Ort zum anderen führte. Und seine Fantasie beflügelte. Gute Fälle waren so, sie ließen einen nicht in Ruhe. Nina wusste etwas, da war er sich sicher – und er war sich auch sicher, dass sie es ihm sagen würde, wenn sie den Eindruck hätte, es würde Malin wirklich schaden. Er fragte sich, was seine Motivation war: ob er Gerechtigkeit für Nina wollte, oder ob er einfach selbst die Wahrheit wissen musste.
Als er das Flugzeug verließ, wartete eine Voicemail-Nachricht von Alan Knight auf ihn. Er hatte von seinem russischen Telefon aus angerufen, was ungewöhnlich war.
»Ben, hier ist Alan. Es ist Donnerstag. Wahrscheinlich hört jemand mit, doch das soll mir inzwischen egal sein. Wenn die das hier hören, dann glauben die mir vielleicht.« Er sprach leise und heiser, als ob er seine Stimme verlieren würde. »Ich will nur sagen, dass wir nicht mehr zusammenarbeiten werden, Ben. Tut mir leid. Aber das Leben hier ist ein bisschen schwierig geworden. Scheinbar kann ich nicht mehr ins Land kommen, ohne einen halben Tag lang Fragen über meine Klienten beantworten zu müssen, jetzt schon zum zweiten Mal. Man hat mir geraten, nicht mehr für Leute im Westen zu arbeiten, so ist das eben. Kann man nicht viel dagegen tun. Ich wünschte, es wäre anders. Ich wünschte, ich könnte auch etwas dagegen tun, dass die Steuerfahndung mein Büro durchsucht, aber das wird sich sicher bald aufgeklärt haben, was? Ist bei diesen Dingen normalerweise so.« Er machte eine lange Pause. Webster dachte schon, die Nachricht sei zu Ende. »Also, Ben, wenn Sie das nächste Mal in Tjumen sind, kommen Sie nicht bei mir vorbei, okay? Am besten, Sie lassen mich eine Zeit lang in Ruhe. Am besten, Sie lassen mich ganz in Ruhe.«
So hatte er Knight noch nie gehört. Er hatte sich schon oft über die Aufmerksamkeit beschwert, die ihm vom Geheimdienst zuteilwurde, auch dass man sein Telefon anzapfte, aber Webster hatte immer angenommen, es sei ein stabiles Arrangement, das Knight für sich in Russland getroffen hatte. Er war schon so lange dabei. Er war einer von ihnen.
An diesem Abend schrieb Webster einen Statusbericht für Tourna und stellte überrascht fest, dass es ziemlich viel zu sagen gab. Er erwähnte Inessa mit keinem Wort. Doch Knight ging ihm nicht aus dem Sinn. Er wollte gerne glauben, dass jeder von Alans Jobs dahinterstecken konnte und dass es keinen Grund gab anzunehmen, seine Probleme hätten irgendetwas mit Malin zu tun, aber sein Instinkt beharrte unverrückbar auf dem Gegenteil.
Am Freitagmorgen um zehn Uhr saßen Hammer und Webster im Konferenzraum von Ikertu. Hammer war nicht ins Büro gejoggt. Das war ungewöhnlich, und Webster fragte sich, was es zu bedeuten hatte.
»Lässt Tourna gerne auf sich warten?«, fragte Hammer.
»Das letzte Mal kam er einen ganzen Tag zu spät.«
»Ich habe den Bericht gelesen. Sie haben mehr gemacht, als Sie glauben.«
»Ja, das ist mir auch aufgefallen.«
»Wie geht es Onder?«
»Der hat sich prächtig amüsiert.«
»Erzählen Sie mir von Berlin?«
»Es war gut. Sie hatten recht.«
»Ich wollte nicht, dass Sie hingehen.«
»Nein, ich meine, mit der ganzen Sache. Ich fühle mich besser. Ich habe meinen Ankläger getroffen, das hat geholfen. Er platzte in unser Treffen hinein und rettete Mrs. Gerstman vor mir. Ein bisschen tollpatschig.«
»Gut für ihn.«
»Er mag mich immer noch nicht besonders, aber er hat etwas Interessantes gesagt.«
Hammer wartete, bis er weitersprach.
»Wie sind Ihre Deutschkenntnisse?«
»Minimal.«
»Meine haben stark nachgelassen, aber ich habe einiges aufgeschnappt, das nicht für meine Ohren bestimmt war. Ich glaube, er sagte so etwas wie ›Zuerst die Russen, jetzt die Engländer. Zumindest ist er nicht eingebrochen. Hat er dich auch bedroht?‹.«
»Und das bedeutet?«
»Jemand glaubt, dass sie etwas weiß. Es klingt, als sei jemand in ihre Wohnung eingebrochen oder in Gerstmans Büro, und offenbar vermutet man Russen dahinter. Und dann, als Prock mich hinauswarf, sagte er etwas von ein paar Anrufen zehn Tage zuvor. Ich hatte keine Gelegenheit mehr, Nina zu fragen. Ich wurde mehr oder weniger aus der Wohnung eskortiert.«
»Könnten Sie sie anrufen?«
»Vielleicht. Ich habe ihr Nachrichten aus Ungarn versprochen, wenn ich welche bekomme. Ich glaube nicht, dass sie mich mag, aber sie scheint mich zumindest nicht zu hassen.«
Das Telefon im Konferenzraum klingelte. Mr. Tourna war an der Rezeption. Webster holte ihn ab und stellte ihn Hammer vor, der neben ihm mager und blass wirkte. Tourna, makellos herausgeputzt in leichter Tweedjacke, babyblauem Kaschmirpullover und weißem Hemd, sah so demonstrativ gesund aus, wie er es auf seiner Jacht getan hatte.
Hammer, der sich immer freute, ein Schlitzohr kennenzulernen, übernahm den größten Teil des Small Talks; Tourna war entzückt, wie die meisten Klienten. Hammer hatte die Fähigkeit eines Hochstaplers, die Leidenschaften eines Menschen zu entdecken und dann den Anschein zu erwecken, alles darüber zu wissen. Er löcherte Tourna fünf Minuten lang über das Segeln, über Bootstypen und über die besten Jachthäfen im Mittelmeer und darüber hinaus.
»Nein, nur segeln, Mr. Hammer, nur segeln. Ich sehe vielleicht vulgär aus, aber ich verachte diese schwimmenden Bordelle mit ihren Hubschrauberplattformen und Swimmingpools. Man kann doch im Meer schwimmen, wenn man denn schwimmen will, oder? Lächerlich. Ich will Ihnen erzählen, Mr. Hammer, ich habe einmal in Shanghai einen Mann kennengelernt. Wir hatten über Geschäfte gesprochen. Er lud mich ein, auf seine Jacht zu kommen. Sie haben eine Jacht in Shanghai?, fragte ich. Und er sagt, ja, im Hafen. Die schönste Jacht, die man sich vorstellen kann. Nun, es gibt viele Schiffe im Hafen von Shanghai, aber nicht so viele Jachten, glaube ich. Also gehe ich hin. Und dort im Hafen liegt dieses monströse riesige glänzende cremefarbene Bürogebäude – natürlich mit Hubschrauber drauf. Und wir gehen an Bord, und da gibt es goldene Wasserhähne und Betten in Muschelform. Alles sehr geschmackvoll. Und ich frage meinen Freund, wohin fahren Sie? Und er versteht nicht. Ich frage, wo fahren Sie hin mit ihr – weil ich überhaupt nicht wüsste, wo ich in der Nähe von Shanghai segeln wollte. Und er schaut mich einen Moment lang an, versteht immer noch nicht, und dann lacht er und sagt, oh nein, es gibt keinen Motor. Man kann nirgendwo mit ihr hinfahren. Der Maschinenraum ist leer.« Tourna brüllte vor Lachen. »Wahrscheinlich liegt sie immer noch da!« Hammer lachte ebenfalls, und Webster steuerte ein Lächeln bei, von dem er hoffte, dass es enthusiastisch wirkte. »So, meine Herren«, sagte Tourna, und sein Gesicht nahm den dringlichen Ausdruck an, den Webster in Datça gesehen hatte, »wie kommen Sie voran?«
Sie setzten sich an den Tisch. Webster verteilte Kopien der Tagesordnung und seinen Bericht. Tourna nahm sich eine Minute Zeit, um jedes Dokument zu überfliegen, dann legte er sie sorgfältig zur Seite und schaute Webster direkt in die Augen.
»Okay. Das ist interessant. Das ist nett. Aber es ist kein Fortschritt. Ihre Honorare bringen mich um. Es steht mehr in Ihren Rechnungen als in diesen Berichten. Sie scheinen vergessen zu haben, was ich will.«
»Ich verstehe Sie. Es hat in den letzten Wochen Zeiten gegeben, in denen ich dachte, dass es einfach nicht zu schaffen ist.«
»Wenn Sie es nicht schaffen können, dann hören wir heute noch auf. Das hier ist kein Angelausflug.«
»Ich glaube, dass wir es können. Lassen Sie mich Ihnen erklären, was wir meiner Meinung nach herausgefunden haben. Ihre Einschätzung von Malin stimmt. Er schröpft den russischen Staat mehr als jeder andere. Aber um das zu beweisen, müsste man tief nach Russland hineingehen, so tief, dass man wahrscheinlich niemals zurückkäme. Und in seiner Vergangenheit gibt es nichts, weswegen man ihn verurteilen könnte. Niemand redet. Alle, die etwas wissen, stehen auf seiner Gehaltsliste.«
»Also«, sagte Tourna mit einem Blick auf Hammer, »wo ist da die Hoffnung?«
»Wir schauen nicht mehr auf ihn, sondern auf seine Organisation.« Webster wurde jetzt lebhafter, beugte sich vor und unterstrich seine Sätze, indem er auf den Tisch klopfte. Er nahm ein Exemplar seines Berichts, drehte es herum und zeichnete mit Bleistift eine liegende Acht auf die Rückseite – das Symbol für Unendlichkeit. »In Russland hat er dieses große Netzwerk, wundervoll organisiert und schwarz wie Pech.« Er begann die rechte Seite der Acht zu schraffieren. »Man kann nicht hineinsehen. Hier drinnen stiehlt er das Geld, und hier drinnen verwaltet er auch seine Investments. Doch das Geld muss zuerst herauskommen, bevor es wieder hineingelangen kann. Deshalb gibt es ein zweites Netzwerk im Westen, bestehend aus unzähligen Offshore-Unternehmen.« Er zeigte mit seinem Bleistift auf die andere Seite. »Das ist, wenn überhaupt möglich, noch schöner. Eine Lage über der anderen. Man kann eine Ahnung davon bekommen, aber man gelangt nicht durch die Eingangstür. Und hier in der Mitte, wo die beiden Seiten zusammentreffen, sitzt Richard Lock und schaut in beide Richtungen.«
»Also er weiß alles?«, sagte Tourna.
»Er weiß alles. Und was noch besser ist: Ohne ihn funktioniert nichts davon. Alles muss über ihn laufen.« Webster machte eine Sekunde Pause. »Haben Sie die Updates gelesen, die ich Ihnen geschickt habe?«
»Das habe ich.«
»Dann wissen Sie von Dmitri Gerstman?«
»Ja, das tue ich. Hässliche Geschichte. Im Zusammenhang mit Malin überrascht sie mich nicht.«
»Mich hat sie überrascht.« Webster und Tourna wechselten einen Blick. »Wir wissen nicht, wer Gerstman umgebracht hat und ob er überhaupt umgebracht wurde, aber eines weiß ich sicher, nämlich, dass Lock große Angst hat.«
»Ist das eine Hypothese?«
»Nein, das ist eine Tatsache. Wir haben jemanden mit ihm sprechen lassen, nachdem er in Paris als Zeuge ausgesagt hat.«
»Mein Gott, er war furchtbar in Paris.« Tourna bellte ein kurzes Lachen. »So etwas habe ich noch nie gesehen. Am Anfang war er okay, man hatte ihn vorbereitet, aber als der Kronanwalt die Krallen ausfuhr … du liebe Zeit. Es war ein Gemetzel. Ein Gemetzel. Ich an Malins Stelle hätte mich eine Stunde später angerufen und um einen Vergleich gebettelt. Wer hat mit Lock gesprochen?«
»Das kann ich nicht sagen.«
»Okay. Was hat er gesagt?«
»Er hat Angst. Er weiß, dass er in dieser Woche eine schlechte Figur abgegeben hat, und er hat Angst, nach Moskau zurückzufahren. Zumindest hatte er das; vielleicht ist er inzwischen schon wieder dort. Ich würde annehmen, dass er Angst hat, der Nächste zu sein.«
»Er hat Angst. Gut. Er hat allen Grund dazu. Und jetzt?«
Webster zögerte einen Augenblick. Es kam ihm der Gedanke, dass es eine hässliche Sache war, mit der Furcht eines verängstigten Mannes zu handeln. Er sprach weiter. »Malin kann ohne Lock nicht existieren. Ohne Lock bricht die Fiktion zusammen. Es ist eine einzige große Lüge, und er wird dafür bezahlt zu lügen. Wenn wir ihn überzeugen können, die Wahrheit zu sagen, haben Sie Ihren Prozess praktisch gewonnen. Malin müsste einer Menge Leute eine Menge erklären, und gleichzeitig wäre sein Geschäft lahmgelegt. Seine gesamte Finanzierung wird eintrocknen. Bryson Joyce werden vielleicht ihr Mandat niederlegen müssen.«
»Ich verstehe das nicht. Wenn Lock für uns aussagt, verliert er seinen Job und macht sich einen verdammt großen Feind. Warum sollte er das tun?«
»Weil«, sagte Hammer, »wir mittlerweile einen Punkt erreicht haben, an dem das FBI und einige andere anfangen, sich aktiv für Mr. Locks Fall zu interessieren. Ich hatte diese Woche ein Gespräch mit einem Freund beim FBI, und dort sieht man ein erhebliches Potenzial in ihm. Vom reinen Geldwert her gesehen ist er einer der größten Geldwäscher, der ihnen je untergekommen ist. Und ich höre von dort, dass die Schweiz nun ebenfalls genauer hinsehen will.«
Tourna lehnte sich zurück, schob seinen Stuhl ein Stück nach hinten, knetete seine Unterlippe und dachte nach. Wie Hammer war er ein Zappler, aber während Hammer lediglich klopfte und kaute, setzte Tourna seinen ganzen Körper ein. Sein Bein wackelte, er beugte sich vor. Während er ihn beobachtete, fragte sich Webster, ob Hammer wirklich dort angerufen hatte und wenn ja, was gesagt worden war. Er hatte geglaubt, dass sie mit weiteren Aktivitäten bis nach diesem Meeting warten würden.
»Mr. Hammer«, sagte Tourna schließlich. »Was meinen Sie?«
Hammer legte seinen Stift hin. »Es ist eine große Chance. Wie alle großen Chancen ist sie mit Risiken verbunden. Diese Risiken betreffen nicht eigentlich uns. Sie betreffen Mr. Lock. Sie riskieren einige Honorarzahlungen, wir riskieren unseren Ruf, Lock jedoch könnte wirkliche Probleme bekommen. Ben hat ein paar schwierige Wochen hinter sich. Es geschieht nicht oft, dass Leute, die wir interviewen, kurz darauf tot sind. Es geschieht auch nicht oft, dass wir beschuldigt werden, daran schuld zu sein. Aber ich glaube, ich konnte ihn davon überzeugen, dass der beste Weg, Lock langfristig zu schützen, darin besteht, ihm aus diesem Mist herauszuhelfen. Er steckt bis zum Hals drin. Ich weiß es. Ich habe so viele von diesen Burschen gesehen. Einige sind ziemlich hart – er ist es nicht. Eines Tages wird etwas passieren, das Malins Schloss zum Einstürzen bringt. Und Lock? Er verliert sein Leben oder landet im Gefängnis. Wenn er Glück hat, wird er lediglich in Moskau unter Hausarrest gestellt. Die einzige Möglichkeit, dem zu entgehen, ist, dass er auf den rechten Weg zurückkommt. Ich schlage vor, dass wir ihm diesen zeigen.«
Tourna saß eine volle Minute da und zog an seiner Lippe.
»Was passiert mit Ihren Honoraren?«
Webster antwortete ihm. »Wir haben bis hierher eine Menge Geld ausgegeben, weil es eine Menge Leute gab, die eine Menge Arbeit erledigen mussten. An dem Punkt, den dieser Fall jetzt erreicht hat, bin ich der Einzige, der Stunden dafür berechnet. Wir werden wahrscheinlich auch jemanden zum Beschatten brauchen. Wir müssen wissen, wo Lock ist und was er macht. Wenn er in den Westen kommt. Aber wir können die monatlichen Zahlungen ziemlich drastisch zurückfahren. Die Erfolgsbeteiligung bleibt gleich.«
»Wie lange, glauben Sie, werden Sie brauchen?«
»Ich würde sagen, zwei Monate«, sagte Webster. »Vielleicht auch nur einen.«
»Und falls Lock nicht anbeißt?«
»Dann wäre kein Schaden entstanden«, sagte Webster. Hammer nickte.
Tourna dachte noch einen Moment lang nach und knetete seine Lippe.
»Es ist die einzige Möglichkeit«, sagte Webster.
Tourna nickte. »Okay, wir tun es. Aber ich will, dass die Kosten für die Überwachung gedeckelt werden. Ich weiß, was diese Scheiße kosten kann. Bevor ich meine zweite Frau beschatten lasse, gebe ich ihr das Geld lieber als Alimente. Es kommt ungefähr auf das Gleiche raus.« Er lachte noch einmal bellend und stand auf, um zu gehen. »Mr. Webster, Mr. Hammer, es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen. Tun Sie das für mich, meine Herren. Sobald es aussieht, als würde es nicht funktionieren, hören Sie auf, okay?« Hammer lächelte.
Webster brachte Tourna hinaus und kam dann in den Konferenzraum zurück. Hammer saß noch dort. Er lächelte immer noch.
»Was war das mit dem FBI?«, fragte Webster, halb erfreut und halb verärgert über eine der Überraschungen, die Ike hin und wieder aus dem Ärmel zauberte.
»Sorry. Ich wollte es Ihnen sagen, bevor er kam. Ich habe dort angerufen, als Sie in Berlin waren.«
»Und die sind interessiert?«
»Oh ja«, sagte Hammer. »Das sind sie.«