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Webster war der Erste im Haus, der aufwachte. Die Nacht war stickig gewesen, doch nun wehte eine kühle Brise vom Fenster her, und er zog die dünne Decke über sich. Das Licht an den Rändern der Rollos ließ erahnen, dass es wieder ein heißer Tag werden würde. Elsa schlief noch, sie hatte ihm den Rücken zugewandt. Er hörte Flugzeuge; es musste nach sechs sein.
Wenn er jetzt ging, konnte er vielleicht noch eine Runde schwimmen, bevor alle anderen aufwachten. Doch sobald er den Gedanken gefasst hatte, wusste er, dass er nicht gehen würde; er war noch nicht bereit dafür, seine Arbeitsroutine wiederaufzunehmen. Was hatte er heute vor? Einen Haufen Dinge, an die er seit Beginn seines Urlaubs keinen Gedanken mehr verschwendet hatte: Fälle, Klienten, Rechnungen. Hammer über Tourna Bericht erstatten und entscheiden, ob sie sein Geld nehmen sollten. Das allein konnte den ganzen Tag dauern.
Er hörte, wie im Raum über ihm eine Diele knarrte. Nancy war aufgestanden. Jeden Morgen kam sie herunter und stand so lange schweigend an seiner Seite des Bettes, bis etwas in seinem Unterbewusstsein ihm sagte, dass sie da war. Eine leicht beunruhigende Art, die Welt zu begrüßen.
Er legte sich auf die Seite, mit dem Gesicht zur Tür, und schloss die Augen. Sie bewegte sich sehr leise, er hörte sie kaum den Raum betreten. Er ließ sie einen Moment lang neben dem Bett stehen, dann schoss seine Hand unter der Decke hervor, und er zog sie ins Bett. Mit einer Drehung lag er auf dem Rücken und sie auf seiner Brust. Ihre Füße waren kalt auf seinen Beinen.
»Daddy!«
»Hast du mich vermisst?«
Statt einer Antwort setzte sie sich auf und trommelte mit den Händen einen Rhythmus auf seinen Bauch. Er griff sie unter den Armen und hielt sie über sich, ihr pausbäckiges Gesicht lächelte über seinem, ihr Haar fiel nach unten. Sie war schwer geworden, doch seine Daumen trafen sich immer noch vor ihrer Brust.
»Hast du mich vermisst?«
»Nicht kitzeln.«
»Ich kitzle dich nicht. Hast du mich vermisst?«
Nancy kicherte. Er drückte kaum wahrnehmbar zu.
»Nicht kitzeln! Ja! Ja!«
Er ließ sie nach unten purzeln. Sie hob den Kopf. »Hast du mir ein Geschenk mitgebracht?«
»Ich war doch nur eine Nacht weg.«
»Zwei Nächte.«
»Ich weiß. Tut mir leid. Der Flug zurück war furchtbar.«
»Ein ganz kleines?«
»Auch kein ganz kleines. Nichts. Frühstück, wenn du magst.« Er stützte sich auf sein Kissen und schaute sie an. »Ist Daniel wach?« Sie schüttelte den Kopf.
»Was macht er?«
»Für mich auch kein Geschenk?« Elsa war wach. Sie hatte ihm immer noch den Rücken zugewandt.
»Guten Morgen, Baby. Nein. Es gibt nicht viel zu kaufen in Datça.«
Sie drehte sich auf die andere Seite und stützte den Kopf in die Hand. Ihre Augen waren noch voller Schlaf. »Tee, bitte.«
»In einer Minute.« Nancy strich mit dem Finger über sein Kinn und befühlte die Bartstoppeln.
»Wie war’s?«, fragte Elsa.
»Schön. Heiß.«
»Hier genauso. Wie war dein Milliardär?«
»Sonnengebräunt und reich. Obwohl ich nicht sicher bin, dass seine Milliarden wirklich alle ihm gehören.«
»Mochtest du ihn?«
»Nicht besonders.«
»Hm. War es die Reise wert?«
»Es ist der beste Fall, den ich je vorliegen hatte.«
»Groß?«
»In jeder Hinsicht. Aber wir sollten ihn nicht annehmen.«
»Warum nicht?«
»In gewisser Weise geht es um einen Regimewechsel. Solche Fälle bedeuten immer Ärger.«
»Tee.« Elsa rückte näher heran und strich mit der Hand über Nancys Rücken.
»Fünf Minuten. Wenn Daniel herunterkommt, mache ich den Kindern Frühstück.« Er schaute sie an. Ihre Augen waren geschlossen. Jemand hatte einmal gesagt, dass Nancy sein Aussehen und Elsas Schönheit geerbt hatte. Hübsch formuliert, aber wahr. »Wie lief es gestern? Tut mir leid, dass ich so spät war.«
»Mit Thomas? Schrecklich. Seine Mutter will, dass er nicht mehr kommt. Sie meint, es geht ihm schlechter, wenn er darüber redet.«
»Das ist traurig.«
»Allerdings.« Sie schaute zu Nancy. »Ich kann dir später mehr erzählen.«
Eine Zeit lang lagen sie zu dritt dort, Nancy zupfte an den Haaren an Websters Halsansatz und Elsa schaute ihr dabei zu.
»Welches Regime?«, fragte sie schließlich.
Webster drehte sich zu ihr um.
»Es ist nicht wirklich ein Regime. Es ist ein Mann. Der korrupteste in ganz Russland, würde ich sagen.«
»Und was wäre dein Auftrag?«
»Ihn bloßzustellen.«
»Das würde dir gefallen.«
»Ja, das würde es. Er hat es verdient.«
Zwei Tage zuvor war Webster vor Sonnenaufgang im Gästezimmer erwacht. Er hatte seinen Wecker so leise wie möglich eingestellt, die Tasche war gepackt, seine Kleidung für den Tag hing bereits an der Tür. Elsa und die Kinder schliefen noch in dem stillen Haus. Er hatte sich in Gatwick mit den Urlaubern in die Schlange gestellt und in Dalaman eine halbe Stunde lang auf ein Taxi gewartet. Der Pilot hatte gesagt, es seien 33 Grad. Wenn man aus dem Schatten in die Sonne trat, wo Beton und Asphalt die Hitze reflektierten, erschien es einem noch heißer. Der einzige Anzug, den er den ganzen Tag lang sah, war sein eigener. Er war aus Wolle, grau, der leichteste, den er hatte, ein guter, englischer Anzug – und absolut die falsche Bekleidung für die türkische Küste im August.
Es dauerte drei weitere Stunden, bis er Datça erreicht hatte. Aufrecht auf der harten Rückbank des Autos verfolgte er, wie die staubigen Berge nach und nach von dichten Pinienwäldern begrünt wurden, während die Straße sich zum Meer schlängelte. Im Radio lief leise türkische Tanzmusik. Die Sonne brannte auf die Seite des Autos, und er konnte ihre Hitze auf dem Metall und Glas spüren.
Er war nicht da gewesen, als der Anruf kam, aber Webster glaubte zu wissen, was Tourna wollte. Sein Ruf brauchte Hilfe. Er machte sein Geld mit Öl, Gas, Kupfer, Eisen, Gold, Bauxit, Kohle: alles, was einen Wert besaß und was in entlegenen Weltgegenden der Erde abgerungen werden konnte. Er erwarb die Abbaurechte, überzeugte Investoren von unermesslichen Bodenschätzen und verkaufte schließlich – kurz bevor klar wurde, dass doch nicht so viel vorhanden war. Darüber hinaus führte er pausenlos Prozesse und zerrte jeden vor Gericht, der ihm in die Quere kam, seien es Partner, die er hereingelegt hatte, oder Journalisten mit Prinzipien. Webster war sicher, dass Tourna ihn beauftragen wollte, seinen Namen reinzuwaschen, ihn unter die Lupe zu nehmen und nichts Negatives zu finden. Der einzige Aspekt des Treffens, auf den er sich freute, war, ihm zu erklären, dass es so nicht funktionierte.
Nach zwei Stunden fiel die Straße in eine sanft geneigte Ebene ab, die sich in der Ferne erneut zu einer Kette olivgrüner Berge erhob und zu beiden Seiten vom kräftigen Blau der Ägäis gesäumt wurde. Das war die Datça-Halbinsel. Sie fuhren durch Ansammlungen kleiner, weiß gekalkter Häuser und vorbei an heißen Mandelplantagen, deren Blätter sandig und spröde an den Zweigen hingen. Der Fahrer beschattete seine Augen mit der Hand, und die Straße stieg und fiel noch einmal, bevor sie die Stadt Datça erreicht hatten.
Sie hielten am Kai an. Webster bezahlte den Fahrer und gab ihm ein Trinkgeld. Hier war es kühler – vielleicht, weil es jetzt Nachmittag war, und es wehte ein nördlicher Wind vom Meer her. Apartmenthäuser und niedrige Palmen säumten das Ufer, und jenseits des Wassers konnte man auf dem Festland in leichten Dunst gehüllt die Berge erkennen, die sie gerade überquert hatten. Tourna sollte sich auf seiner Jacht befinden, die zwei oder drei Kilometer außerhalb des Hafens vor Anker lag. Webster rief die Nummer an, die man ihm gegeben hatte, setzte sich an den Rand des Kais, um zu warten, und ließ seine schweren braunen Schuhe über dem Wasser baumeln.
Die Belisarius war lang und schlank, ein weißer Blitz, der tief im Wasser lag. Leon, der Steward der Jacht, empfing Webster und erklärte mit größtem Bedauern, Mr. Tourna sei unerwartet geschäftlich nach Athen gerufen worden, werde aber vor Anbruch der Dunkelheit zurückkehren.
Bevor er Privatdetektiv wurde oder Spitzel oder wie auch immer man es nennen konnte, war Webster Journalist gewesen. Vor fünfzehn Jahren, Jelzin hatte gerade die Macht übernommen und Russland durchlief einen schmerzhaften Transformationsprozess, war er mit nichts weiter als einem Abschluss in Russisch in der Tasche nach Moskau gegangen, um dort sein Brot zu verdienen. Die Storys lagen auf der Straße. Er schrieb über Ersparnisse, die sich unter der galoppierenden Inflation in Luft auflösten, über Arbeiter in den sibirischen Kohleminen, die monatelang keinen Lohn bekamen, über korrupte Beamte, die intakte Gebäude abreißen ließen, über Volksstämme in den östlichen Randgebieten, deren Lebensgrundlage durch Rodungen gefährdet wurde, und über amerikanische Familien, die Waisen aus Rostow, Samara oder Tomsk adoptierten. Anfangs verkaufte er seine Artikel, an wen er konnte, doch nach sechs Monaten arbeitete er als freier Korrespondent für die New York Times. Er reiste durch das ganze Land, von den Wäldern Sachalins bis zu den Werftanlagen von Murmansk, von den Gulag-Fabriken im arktischen Norden bis zu den Badeorten am Schwarzen Meer, in denen die Mitglieder des Politbüros ihre Ferien verbrachten. Manchmal reiste er auch weiter, nach Kiew oder Tiflis, Ulan-Bator oder Taschkent. In acht Jahren sah er mehr Abstoßendes, mehr Hoffnung, mehr Unehrlichkeit, Würde und unerwartetes Glück, als er vermutlich jemals wieder sehen würde. Das Leben war reich in Russland, auch wenn ein einzelnes Leben nicht viel zählte.
Doch langsam, fast unmerklich, begann er, der endlosen Abfolge von Hoffnung und Enttäuschung müde zu werden. 1992 hatte er noch geglaubt, Russland würde wieder groß werden; sieben Jahre später befürchtete er, dass es das Schicksal dieses Landes war, eine Chance nach der anderen zu verpassen. Seine Herausgeber wurden ebenfalls müde. Und dann, drei Monate vor dem Beginn des neuen Jahrhunderts, war Inessa gestorben.
Ein Mann namens Serik Almaz wurde als ihr Mörder angeklagt und vier Wochen nach ihrem Tod verurteilt. Er hatte wegen Diebstahl und Körperverletzung sein halbes Leben im Gefängnis verbracht, doch in seiner Verhandlung, die lediglich einen Vormittag dauerte, plädierte er auf nicht schuldig. Webster konnte nicht teilnehmen, weil sein Visum eingezogen worden war.
Nowaja Gaseta brachte auf der Titelseite einen Artikel über ihre Arbeit und ihren Tod während der Recherchen für einen Artikel; die Times berichtete lediglich, dass sie gestorben war. Sie war die vierte russische Journalistin, die in diesem Jahr ermordet wurde. Bei ihrer Beerdigung in Samara hatte sich Webster, ohne recht zu wissen warum, bei ihrem Ehemann entschuldigt und dann Russland für immer verlassen. Er hatte seinen Glauben verloren.
Und jetzt saß er auf einer Jacht, und einer jener Männer, über die Inessa geschrieben hatte, ließ ihn warten. Mittlerweile war es Abend geworden, und Tourna war noch immer nicht zurückgekehrt. Webster fischte eine Zigarette aus einer neuen Packung und zündete sie mit dem billigen Feuerzeug an, das er am Flughafen gekauft hatte. Eine ging in Ordnung; schließlich war es heiß, und er war im Ausland. Ein Stückchen Tabak klebte an seinen Lippen. Er wischte es mit dem Daumen weg. In der Windstille schwebte der Zigarettenrauch gemächlich vom Boot weg.
Webster las sein Buch und schaute zu, wie die Sterne aufgingen. Als er nach seinem Drink griff, sah er sein Spiegelbild im schwarzen Glas der Kabine. Vor dem Abendessen war er geschwommen, und sein graues Haar war immer noch steif und widerspenstig vom Salz. Er hatte sein schmuddeliges weißes Hemd gegen das einzige saubere getauscht, das er mithatte, und sah respektabel und glaubwürdig aus – ganz so, als würde er hierhergehören. Doch er fühlte sich lächerlich und gefangen auf diesem unanständig schönen Schiff. Das war nicht er. Er hätte in dem Moment verschwinden sollen, als man ihm sagte, dass Tourna nicht da sei. Wahrscheinlich hätte er gar nicht erst kommen sollen.
Am nächsten Morgen vor dem Frühstück schwamm er wieder. Die Sonne war gerade über der Halbinsel aufgegangen, als er von der Seite der Jacht in die blaugrüne See sprang. Es war fast zu warm für seinen Geschmack; das Wasser in Cornwall dagegen, wo er eine Woche zuvor mit den Kindern geschwommen war, hatte ihm selbst im August den Atem genommen. Und obwohl es angenehm war, rechtfertigte es nicht die Reise hierher. Egal, was Tourna von ihm wollte – keinesfalls durfte er sich deshalb zum endlosen Warten degradieren lassen. Webster beschloss, sich anzuziehen, etwas zu frühstücken und dann nach Dalaman abzufahren, bevor die Hitze einsetzte.
Als er die Leiter hochkletterte, um wieder an Deck zu kommen, hörte er das Dröhnen eines Motors. Er schaute hinter sich und sah die Barkasse. Tourna fuhr selbst, gebückt, um den Außenbordmotor zu lenken. Es gab keinen Zweifel, dass er es war. Er war kurz und massig, hatte stämmige Waden wie ein Rugbyspieler und stand mit gespreizten Beinen sicher im Boot. Er trug weite Navyshorts, ein schwarzes Sporthemd und hatte sich einen weißen Pullover um den Hals gebunden. Seine gebräunte Haut hatte den gleichmäßigen Ton von Kirschholz; sein silbernes Haar hob sich hell dagegen ab.
Webster blieb stehen, wo er war, tropfnass und mit dem Handtuch vor der Brust. Tourna sprang die Leiter hoch, nahm immer zwei Sprossen auf einmal, und streckte ihm die Hand entgegen. Eine schwarze Sonnenbrille umschloss sein Gesicht.
»Ben. Aristoteles Tourna. Freut mich, dass Sie herkommen konnten.« Sein Lächeln enthüllte zwei Reihen leuchtend weißer, gleichmäßig dicht stehender Zahnreihen. Sein Händedruck war unnötig stark.
»Ganz meinerseits.« Webster, der einen Kopf größer war, lächelte kurz. »Ich wollte Sie schon aufgeben.«
»Tut mir leid. Nicht zu ändern. Sie haben gefrühstückt?«
»Nein.«
»Ich auch nicht. Ziehen Sie sich an, dann essen wir.«
Als Webster zwanzig Minuten später zurückkam, war Tourna am Telefon, redete laut auf Griechisch und lief an der Seite der Jacht auf und ab. Schließlich setzte er sich hin und fing an, sich ein Croissant mit Butter zu bestreichen. Seine Haut strahlte Gesundheit aus. Er sah aus wie ein Mann, der gut aß, seine Wangen waren voll und seine Wangenknochen fleischig. Es schien schwer vorstellbar, dass er sich viel versagte.
»Besser als in irgendeinem Hotel auf dem Festland zu frühstücken, oder?«, sagte er und strahlte Webster an.
»Es ist sehr schön hier.«
»Ich liebe es. Sehen Sie die Insel dort drüben?« Webster drehte sich um. »Das ist Symi. Griechenland. Und das, diese Halbinsel, das ist die Türkei. Aber in Wirklichkeit ist das alles Griechenland. Immer schon. Eines Tages werden wir es uns wiederholen. Jedes Mal wenn ich herkomme, habe ich das Gefühl, auf einem Raubzug zu sein.« Er lachte. Webster konnte nicht sagen, ob Fröhlichkeit darin lag.
Tourna häufte Obstsalat in eine Schale. Während er aß, wippte sein Bein auf und ab.
»Also, Ben. Was ist Ihr Background?«
Webster erzählte ihm von seiner Zeit in Russland, darüber, dass ihm nach Moskau der Journalismus in London allzu zahm erschienen war, dass er per Zufall in der Branche gelandet war.
»Warum haben Sie GIC verlassen?«
»Zu groß. Zu sehr Konzern. Jeden Tag eine neue Regel. Es wurde immer schwerer, Resultate zu liefern.«
»Und Ikertu ist anders?«
»Ich denke, dass es die richtige Balance hat.«
Tourna nickte, wie zu sich selbst.
»Okay. Okay. Das ist gut.« Er legte seinen Löffel nieder. »Sagen Sie mir: Was passiert mit dem, was ich Ihnen hier erzähle?«
»Das bleibt bei mir. Wenn Sie uns engagieren wollen und wir von Ihnen engagiert werden wollen, werde ich mich mit meinen Kollegen darüber austauschen.«
»Wenn Sie engagiert werden wollen?«
»Ja.«
»Was sollte dagegen sprechen?«
»Es könnte sein, dass uns der Job nicht gefällt. Oder dass uns der Klient nicht gefällt.«
Tourna nickte wieder, dann lachte er. »Also sitze ich auch auf dem Prüfstand?« Er nahm einen tiefen Schluck von seinem Orangensaft. »Das ist okay.« Webster spürte, wie er durch die Sonnenbrille angestarrt wurde. »Okay. Fangen wir an. Sie kennen Russland. Kennen Sie einen Mann namens Konstantin Malin?«
»Ja, ich kenne ihn.« Websters Sinne erwachten schlagartig. Malin. Das kam unerwartet. Malin und seine stille Legende.
Tourna nickte und kaute. »Ich habe ein Unternehmen von ihm gekauft.«
Webster unterbrach ihn. »Mr. Tourna, würde es Ihnen etwas ausmachen, die Sonnenbrille abzusetzen? Mir wäre wohler, wenn ich Ihre Augen sehen könnte.«
Tourna blickte von seiner Schüssel auf und hörte auf zu essen. »Sie wollen hineinblicken?« Seine Stirn runzelte sich, als er die Augenbrauen hob. »Wollen Sie diesen Job oder nicht?«
Webster lächelte. »Wir haben eine Menge Aufträge. Mir ist es gleich.«
»Okay«, sagte Tourna, lachte trocken und nahm die Brille ab. Seine Augen waren von einem stumpfen Braun, die Haut um sie herum heller als der Rest seines Gesichts. »Das macht ja unerwartet viel Spaß.«
Webster entdeckte etwas Erhitztes, Kindliches in Tournas Blick. Er vermittelte den Eindruck eines Mannes, der schlecht mit Rückschlägen umgehen kann. Er behielt sein Lächeln bei, sagte aber nichts. Einen Moment lang schauten sich die beiden Männer an.
»Erzählen Sie mir von Malin«, sagte Webster.
Tourna nickte ein weiteres Mal wie für sich selbst und holte tief Luft.
»Er hat mir ein Unternehmen verkauft. Nun ja, ein Strohmann hat es getan, einer seiner Strohmänner. Angeblich besaß das Unternehmen ein Paket von Schürf- und Abbaulizenzen. Ein bisschen Öl, ein bisschen Gas, alles dort oben in Westsibirien, im Autonomen Bezirk der Jamal-Nenzen. Wir haben Due Diligence gemacht, und alles war in Ordnung. Als dann der Deal unter Dach und Fach war, gab es plötzlich keine Lizenzen mehr. Sie waren übertragen worden an ein anderes Unternehmen – gegründet zwei Monate davor auf den Cayman Islands. Es hatte irgendwelche erfundenen Optionen darauf.«
»Wie viel haben Sie bezahlt?«
»Fünfzig Millionen. Dollar. Mein eigenes Geld obendrein.«
Webster nickte. »Und jetzt wollen Sie die Schürfrechte zurückhaben.«
»Nein. Ich habe die Nase gestrichen voll von Russland. Hätte es besser wissen sollen. Ich will mein Geld zurück, ja, aber das ist nicht der Grund, warum Sie hier sind. Für diese Dinge habe ich Anwälte.«
Webster wartete. Tourna sah ihm in die Augen.
»Was ich von Ihnen will«, fuhr er fort, »ist der Untergang von Konstantin Malin. Dieser Mann ist ein Gauner. Angeblich ist er der große Stratege. Der Großwesir, der Mann, der Russland wieder mächtig gemacht hat. Aber ihn interessiert ausschließlich sein eigenes Imperium und sein Geld. Er ist ein fetter Gauner und hat nichts davon verdient. Ich will ihn weghaben.«
Webster sagte einen Moment lang gar nichts. Er spürte, wie die Erregung in ihm aufstieg, in seinen Schultern, in seiner Brust. Eine Chance, sich mit Malin anzulegen. Das war es wert, hierherzukommen. Das war sogar das Warten wert.
»Was heißt für Sie – weg?«
»Aus dem Ministerium entfernt. Gedemütigt. In einem Dutzend Ländern vor Gericht gestellt. Ich will ihn von einem Laternenpfahl baumeln sehen.«
»Verstehe. Und wie sollen wir das erreichen? Er ist ein mächtiger Mann.«
»Eigentlich wollte ich Ihre Gedanken dazu hören.«
»Sie müssen doch eine Idee haben.«
»Hören Sie, alles, was er tut, ist korrupt. Aber er duftet nach Rosen. Dabei muss er jede Menge Dreck am Stecken haben. Wir finden heraus, worum es sich handelt, und benutzen es.« Wenn Tourna redete, schob er seine Lippen leicht nach vorn, ein überraschendes Pink, das im Gegensatz zu seiner restlichen Bräune stand. Diese Lippen waren es, dachte Webster, nicht seine Augen, die einem rieten, diesem Mann zu misstrauen.
Er nickte wieder. Er zog ein Notizbuch und einen Bleistift aus der Tasche seines Jacketts.
»Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus.«
»Nein, schreiben Sie ruhig alles auf. Verlieren Sie es bloß nicht.«
Webster befragte Tourna eine Stunde lang über die Details der Geschichte und alle daran beteiligten Menschen. Wann hatte dieses Geschäft stattgefunden? Wie war es eingefädelt worden? Hatte er Malin persönlich getroffen? Mit wem hatte er es sonst zu tun gehabt?
Als sie fertig waren, war es zehn Uhr, und er fühlte die Sonne heiß auf seine Schultern brennen. Es gab einen Flug um drei. Er wollte diesen Ort verlassen und über das nachdenken, was er gerade gehört hatte.
»Ich glaube, das ist alles. Vielen Dank.« Er schaute auf seine Uhr. »Ich sollte gehen.«
»Sie bleiben nicht? Bleiben Sie, so lange Sie wollen. Ich könnte Sie morgen in Bodrum absetzen.«
»Danke, nein.«
Tourna streckte sich und verschränkte die Hände hinter seinem Kopf.
»Und, habe ich bestanden?«
Webster lächelte. »Ich weiß nicht. Ich werde mit meinem Chef sprechen.«
»Glauben Sie, dass Sie helfen können?«, fragte Tourna, schaute an Webster hoch und beschirmte seine Augen.
Webster dachte nach.
»Sie verlangen viel. Falls wir den Auftrag annehmen, werden wir das Gleiche tun.« Während er das sagte, ging ihm durch den Sinn, dass er diesen Auftrag annehmen würde, auch wenn es gar nichts zu verdienen gäbe. Das hier war die Art von Auftrag, für die er diesen Job ergriffen hatte: die Art, die etwas bewirkt.
Tourna lachte. Webster ging, um seine Sachen zu packen und die lange Reise zurück nach London anzutreten. Schon jetzt überlegte er fieberhaft, wie man diese Sache anpacken könnte.
Malin. Kein schlechter Fang.
Tourna hatte Webster vor der Abfahrt einen dicken Ordner mitgegeben. Er las ihn im Flugzeug – eigentlich eine Vertraulichkeitsverletzung, doch das Kind, das im Sitz neben ihm schlief, machte nicht den Eindruck, als würde es sich dafür interessieren.
Der Ordner enthielt eine Vielzahl von Dokumenten, akribisch sortiert: Zeitungsartikel, Unternehmensberichte, Mitschriften von Radiosendungen, fotokopierte Buchauszüge. Überall waren Passagen mit Leuchtstift angestrichen und mit Ausrufezeichen und energischen Unterstreichungen markiert. Tourna hatte erklärt, dass es sich um seine persönlichen Unterlagen handelte, vieles davon hatte er selbst zusammengetragen. Der umfangreichste Teil war ein Bericht für eine Bank, die erwog, einem Wiener Unternehmen namens Langland Resources Geld zu leihen. Ein Konkurrent von Ikertu hatte ihn vor drei Jahren geschrieben, aber wie Tourna ihn in die Hände bekommen hatte, war nicht klar.
Webster begann mit den Anhängen; diese waren immer am interessantesten. Zu seiner Überraschung fand er zwei Spravki darin, eine über Malin und eine über einen Anwalt namens Richard Lock, der Tourna das Unternehmen verkauft hatte. Webster war nicht sicher, ob er es heutzutage wagen würde, eine Spravka über Malin in Auftrag zu geben, und selbst vor drei Jahren wäre das mit einem gewissen Risiko verbunden gewesen – vielleicht hatte das einfach keiner der Beteiligten geahnt. Zweifellos war der Inhalt offiziell abgesegnet worden.
Spravka bedeutete einfach »Bescheinigung«. Jeder Bereich des Lebens in Russland hatte seine Spravki: Man brauchte eine, um sein Haus zu verkaufen, sich beim Arzt anzumelden, einen Telefonanschluss zu beantragen, Waren zu importieren, einen Pass zu bekommen, seinen Studienplatz anzutreten. In Websters Branche bedeutete es eine Zusammenfassung eines Menschenlebens durch einen der russischen Geheimdienste. Diese weiterzugeben war zwar nach wie vor illegal, dennoch geschah es so regelmäßig, dass solche Informationen mittlerweile zu einem regelrechten Handelsgut geworden waren. Spravki boten selten eine unterhaltsame Lektüre. Geburtsdatum, Arbeit, nächste Angehörige, Haus, Auto, Bildung, Karriere. Geschäftsinteressen innerhalb Russlands, Geschäftsinteressen außerhalb Russlands. Bemerkungen über Karriere und Charakter. Hinweise auf oder Spekulationen über Verfehlungen. Spekulationen über Sexualität. (Die Hälfte aller derartigen Berichte, die er je gelesen hatte, kam in einer beliebten vagen Formulierung der russischen Bürokratensprache zu dem Schluss, es könne »nicht ausgeschlossen werden«, dass der Beurteilte homosexuell sei.) Ein Leben, eingegrenzt auf seine Grundkoordinaten und auf seine Anfälligkeit für Erpressung oder Korruption. Webster staunte immer wieder über die Disziplin, die nötig war, so weit zu reduzieren.
In der Regel galt: Je wichtiger man war – je reicher, je politisch aktiver, je lästiger –, desto länger und ausführlicher geriet die eigene Spravka. Jeder Mensch, der in Russland lebte, hatte natürlich eine Akte, doch die meisten davon enthielten wenig außer banalen Details, die man von anderen Behörden abgefragt hatte. Alles, was reichhaltiger war oder mehr in die Tiefe ging, legte den Verdacht nahe, dass man zu irgendeinem Zeitpunkt die Aufmerksamkeit der Geheimdienste auf sich gezogen hatte. Manchmal bekam man trotz der dürren Sprache eine Ahnung von den abgehörten Telefonaten, den diskret ausgehorchten Nachbarn, den überprüften Bankkonten, den Leben, die langsam, aber unausweichlich geöffnet und neugierigen Blicken preisgegeben wurden. Russland mochte das Gefühl haben, geschrumpft zu sein, doch was das geradezu nachlässige Ausüben von Macht über andere Menschen anging, schien sich kaum etwas geändert zu haben.
Auf den obersten Hierarchieebenen war diese Regel allerdings außer Kraft gesetzt: Kein Oligarch oder Minister würde so unvorsichtig sein, seine eigene Akte intakt zu lassen. Mit Geld oder Einfluss wurde seine Spravka überarbeitet und gesäubert, bis sie kaum noch etwas aussagte, und die Informationen, die sie einst enthalten hatte, verschwanden so tief in der dunklen Gruft des russischen Staatsapparats, dass nur noch jemand, der mindestens ebenso mächtig war, Zugang dazu bekommen konnte.
Die erste Spravka, die Webster je gesehen hatte, vor so vielen Jahren, war Inessas, und sie selbst hatte sie ihm gezeigt. Sie begann mit einigen dürren Paragrafen über ihre Kindheit und Jugend, ihre Familie, ihre Schulbildung. Worauf sie aber stolz hinwies, waren die vier oder fünf Seiten, auf denen es um ihre Arbeit ging und um die Bedrohung, die sie für den russischen Staat darstellte. Inessa stand, so hatte sie ihm erklärt, unter dauernder Beobachtung; sie wurde ernst genommen. Alle ihre Artikel waren angehängt: Korruption in Togliatti, Umweltverschmutzung in Norilsk, Schmuggel in Wladiwostok, Aluminiummorde in Krasnojarsk, Arbeiterstreiks in Rostow, Tjumen, Jekaterinburg, Tomsk – ein repräsentativer Querschnitt durch Russlands erste Dekade der Freiheit. Neben ihr war sich Webster wie ein Amateur vorgekommen.
Inessa Kirova war, so hatte es die Akte formuliert, eine »politisch engagierte Journalistin mit einer Neigung, sich sensiblen Themen zu widmen«; eine freie Journalistin, die über Verbrechen und Korruption schrieb und die die meisten ihrer Artikel an die investigative Nowaja Gaseta verkaufte. Sie hatte Verbindungen zu »schwierigen … unabhängigen« ausländischen Journalisten – »das bist du«, hatte sie Webster vergnügt erklärt – und ein besonderes Interesse an der Beziehung zwischen »Big Business« und Politik, mit anderen Worten daran, wer wen bestach. Er fragte sich, ob ihre Akte noch existierte, auf einem nummerierten Regal in irgendeinem dunklen Keller, und ob irgendjemand immer noch Grund hatte, darauf zuzugreifen.
Die beiden Spravki, die nun vor Webster lagen, zeichneten weniger interessante, weniger produktive Lebensläufe nach. Sie waren gefaxt und schlecht übersetzt, verrieten nicht, aus welcher Quelle sie stammten, und entsprachen vollkommen dem gängigen Muster. Locks Akte zeigte einen wenig bemerkenswerten in Russland lebenden Ausländer, Malins einen Karrierebürokraten. Sein Vater war Leiter einer Firma für Bergbaumaschinen in Nowosibirsk gewesen und hatte zwei Kinder gehabt: Konstantin, geboren 1948, und Natalja, geboren 1952. Malin hatte 1971 Katerina Karelov geheiratet, die beiden hatten zwei Kinder. Offiziell bewohnten sie ein Dreißig-Quadratmeter-Apartment in der Nähe des Leningrader Bahnhofs in Moskau, doch es war ziemlich unwahrscheinlich, dass sie sich jemals dort aufhielten; die tatsächliche Wohnung der Malins war ganz sicher eine deutlich noblere Angelegenheit.
Er hatte das Industrie-Institut in Tjumen besucht und später die staatliche Gubkin-Universität für Erdöl und Gas in Moskau. Seit 1971 arbeitete er in dem Ministerium, das inzwischen »Ministerium für natürliche Ressourcen« hieß, die Akte sagte nicht, welche Funktion er dort ausübte. Er war schon sehr lange dabei.
Es ging noch weiter. Malin sei ein Mann von »großer innerer Disziplin«, der durch »Loyalität und klare Ziele« in eine Position von »absolutem Vertrauen und positivem Einfluss« innerhalb des Ministeriums aufgestiegen sei. Sein Beitrag werde »auf höchster Ebene« geschätzt und habe dazu geführt, dass er 2003 den Verdienstorden des Vaterlands verliehen bekam. Er sei ein Mann mit »wahren Prinzipien«, und dies habe ihm eine Karriere »frei von den Flügelkämpfen politischer Fraktionen« ermöglicht.
Das war einerseits aufschlussreich – eine derart saubere Akte verriet Webster, dass Malin sich gut schützte – und zugleich nutzlos, sogar ein wenig entmutigend. Tournas Auftrag war von geradezu wahnhafter Schlichtheit und vermutlich unmöglich zu erfüllen, äußerst gefährlich ohnehin. Er würde etwas deutlich Stärkeres brauchen als eine Geheimdienstakte, die Malin vermutlich selbst abgesegnet hatte.
Er blätterte weiter durch das Quellenmaterial, bis er am Ende des Berichts die Zusammenfassung fand. Wie es aussah, war Langland Resources Malins Ölhandelsfirma, die ihren Sitz in Wien hatte. Ein gewisser Dmitri Gerstman hatte sie geleitet, war allerdings vor drei Jahren gegangen und durch einen anderen Russen, Nikolaj Gratschow, ersetzt worden. Von beiden lagen Profile bei, ebenso eine Beschreibung von Langland, das etwa zwanzig Leute beschäftigte und russisches Öl in Märkte auf der ganzen Welt verkaufte.
Webster übersprang einen langen Absatz über Malins Herkunft, der mehr oder weniger wörtlich den Inhalt der Spravka wiedergab. Der nächste Abschnitt war interessanter:
Nach Einschätzung von Experten ist Langlands Gewinnspanne unnatürlich hoch, weil es mit seinen russischen Lieferanten Verrechnungspreis-Missbrauch betreibt. Die Produzenten verkaufen Langland Öl zu vergünstigten Konditionen, und Langland verkauft dieses Öl zu normalen Preisen an seine Kunden. Die Differenz steckt Langland ein. Alle Verluste bleiben an den jeweiligen staatlichen Lieferanten und damit letztlich am russischen Staat selbst hängen.
Russischen Geheimdiensten nahestehende Kreise deuten an, dass die Gewinne von Langland über eine Reihe von Offshore-Unternehmen und Fonds und letztendlich durch ein weiteres von Malin kontrolliertes Unternehmen namens Faringdon Holdings Ltd zurück nach Russland geschleust werden. Faringdon ist ein Irisches Offshore-Unternehmen … das Anteilsmehrheiten einer Reihe von Öl und Gas fördernden Unternehmen in Russland und Kasachstan besitzt. Gründer und Manager von Faringdon ist Medienberichten zufolge Richard Lock, ein Anwalt holländischer Herkunft, der in England approbiert ist. Lock lebt seit 1993 in Moskau und arbeitet angeblich ausschließlich für Malin.
Nicht schlecht so weit, dachte Webster. Ein guter Anfang.
Ganz am Ende der Akte fand er einen Ausschnitt aus einer Zeitschrift, sauber gefaltet und in einer Klarsichthülle. Er zeigte eine Gruppe russischer Honoratioren, vielleicht ein Dutzend, die für ein Foto posierten. Malin stand in der ersten Reihe, der dritte von links. Webster starrte das Bild an. Er hatte noch nie ein Bild von Malin gesehen. In Schwarz-Weiß, mit halb geschlossenen Augen und dem starren Gesichtsausdruck ohne jeden Anflug eines Lächelns hätte er ein Sowjetfunktionär aus jeder beliebigen Dekade des Kommunismus sein können. Doch es gab einen Unterschied. Malin war reich – war reich geworden, indem er vom Staat stahl; sein Geld war Russlands Geld. Einen Moment lang wagte Webster sich vorzustellen, wie Malin durch die Straßen Moskaus getrieben und als Volksverräter präsentiert wurde, sein Bild auf jeder Titelseite unter dicken schwarzen Lettern, die seinen Sturz verkündeten.
Bis vor zwei Monaten hatte Ikertu Consulting Limited seine Geschäftsräume in drei Stockwerken eines georgianischen Gebäudes in der Marylebone Lane gehabt. Webster war gerne dort gewesen, ebenso wie alle seine Kollegen. Direkt nebenan gab es ein winziges japanisches Restaurant, der andere Nachbar war ein Herrenausstatter; auf der gegenüberliegenden Seite waren nebeneinander ein Feinkostladen, ein Pub und ein Waschsalon. Die Marylebone Lane, die sich durch ein Netz nüchterner Straßen schlängelte, repräsentierte durch und durch London: abwechslungsreich, nobel und heruntergekommen zugleich, scheinbar völlig ungeplant.
Das Unternehmen war jedoch zu groß geworden für derartige Unbeschwertheit und hatte drei Kilometer westlich in einem modernen Gebäude in der Cursitor Street, einer Seitenstraße der Chancery Lane, neue Büroräume bezogen. Hammer gefiel es, mitten zwischen Anwälten zu residieren, Webster nicht. Er war lieber in der Nähe des noblen, aber unehrlichen Mayfair, mit seinen Briefkastenfirmen, Messingschildern und dem starken Geruch nach unerklärlichem Reichtum, denn in einer Stadt, die zum Intrigieren einlud, war dies der Ort, an dem die meisten Intrigen begannen und endeten. Hier in Holborn verdienten Anwälte ihr Geld im transparenten Sechs-Minuten-Takt und taten alles dafür, jede Intrige im Keim zu ersticken.
Webster war wieder im Büro. Er starrte auf seine E-Mails, dachte vage an die Fälle, die er zurückgelassen hatte, bevor er sich in den Urlaub verabschiedet hatte, und wartete darauf, dass Hammer ins Büro kam. Hammer kam spät zur Arbeit und ging spät nach Hause; zweifellos joggte er gerade hierher. Hammer wohnte in Hampstead, damit er im Park Hampstead Heath laufen konnte. Er lief jeden Morgen zur Arbeit und oft auch nach Hause. Er war siebenundfünfzig und lief sicher achtzig Kilometer pro Woche, mit seinen kurzen Hosen und der Baseballkappe unverkennbar ein New Yorker. Er war klein gebaut, hatte kein Gramm Fett zu viel und lief, beinahe wie ein Geher, den Hals nach vorn gebeugt, mit dem abgehackt-gradbeinigen Laufstil eines Mannes, der sein ganzes Leben lang gelaufen ist. Wenn er ins Büro kam, duschte er und zog sich um. Seine Kleidung war ihm immer etwas zu groß und unbewusst amerikanisch: Bundfaltenhosen, Tassel Loafers, Kastenjacke mit eckigen Schultern und breitem Kragen. Dann ging er durch die Räume und begrüßte seine Belegschaft, immer noch dampfend, sein gelbes Hemd frisch mit Schweiß gefleckt.
Ikertu war alles für Hammer. Er lebte allein, mit einer Haushälterin, aß schlecht, las Bücher über große Feldzüge und Spieltheorie, und seine Klienten beteten ihn an. Hammers und Ikertus Spezialität – und das, was sie bei guter Auftragslage ausschließlich machten – waren »streitige Fälle«, wie es ihre juristischen Nachbarn nannten. Sie kämpften für ihre Klienten. Sie kämpften dafür, Geld zurückzuholen, hier einen Ruf wiederherzustellen, dort einen Ruf zu ruinieren, Korruption ans Tageslicht zu bringen, die Konkurrenz zu überholen, Unrecht auszugleichen und manchmal auch zu vertuschen. Meistens arbeiteten sie für die gute Seite.
An Websters Bürowand hing eine politische Karte von Europa und Asien, in die er farbige Stecknadeln gesteckt hatte, um das Herz eines jeden Projekts zu markieren. Er schaute die Karte an und fragte sich, wohin dieser Fall ihn führen würde. In Kiew, Almaty, Warschau und Wien standen die Nadeln dicht gedrängt; die Gruppierungen im Ural, im Kaukasus und in Süd-Sibirien waren lockerer; vier oder fünf Nadeln jeweils in Prag, Budapest und Sofia, einzelne in Tallin, Aşgabat, Jerewan, Minsk. Es war wie ein Wärmebild, das Geld und Ärger lokalisierte. Er hatte es aufgegeben, weitere Nadeln in Moskau zu stechen, das eine dicke Masse in der Mitte der Karte bildete.
Sein Telefon klingelte.
»Hallo«, sagte er. »Wo sind Sie?«
»Unten. Kommen Sie auf einen Kaffee.«
»Hier gibt’s nichts, wo man auf einen Kaffee hingehen kann.«
Hammer lachte. »Treffen wir uns bei Starbucks.«
Webster wollte erklären, dass er Starbucks für keinen besonders gut geeigneten Ort hielt, um irgendetwas zu besprechen, geschweige denn das, was sie zu besprechen hatten, aber Hammer hatte schon aufgelegt.
Hammer hatte ihm einen Kaffee geholt, den er eigentlich gar nicht wollte. Geistesabwesend trank er ihn trotzdem. Ihm fiel auf, dass Hammer trotz der vogelartigen Schärfe seines Blicks hinter der Brille mit dem dicken schwarzen Rahmen alt auszusehen begann. Dennoch, er hatte nichts von seiner einschüchternden Präsenz verloren, und Webster verspürte wie immer das Bedürfnis, eine gute Leistung für ihn zu erbringen.
»Liebe Zeit, Sie hatten ja vor Ihrem Urlaub bessere Laune«, sagte Hammer und leerte ein Tütchen Zucker in seinen Kaffee. »Wie war es?«
»Nass und kurz, aber schön, danke. Die meiste Zeit habe ich damit verbracht, im Nieselregen mit einem Angelkahn herumzupaddeln und Makrelen nachzustellen.«
»Und, Erfolg gehabt?«
»Elsa hat bei unserer ersten Fahrt sechs Stück gefangen. Dann nichts mehr. Nancy hat sie roh von meinem Taschenmesser gegessen. Ich habe ziemlich gestaunt.«
»Und wie war’s in der Türkei?«
»Heiß. Tourna ist ein Schmuckstück.«
»Was will er?«
Sie saßen nebeneinander an einem hohen Tresentisch am Fenster. Bevor er begann, schaute Webster instinktiv hinter sich, um sicherzugehen, dass niemand zuhörte. Er lehnte sich ein wenig zu Hammer hinüber und redete leise.
»Wissen Sie, wer Konstantin Malin ist?«
»Ich weiß, dass ich den Namen schon einmal gehört habe. Öl?«
»Öl. Er ist die Macht hinter dem Thron im Energieministerium. Er berät den Kreml in Sachen Energiepolitik – einige sagen, er legt die Politik fest. Und er setzt sie durch. Außerdem ist er extrem reich – einer von der neuen Sorte. Ein stiller Oligarch.«
»Was hält der Minister davon?« Hammer war ein Fummler, ein Klopfer, ein Bleistiftkauer, dem es schwerfiel, völlig still zu sitzen. Jetzt blies er in seinen Kaffee, um ihn abzukühlen, seine Brillengläser beschlugen und klärten sich wieder. Er schaute Webster nicht an.
»Vermutlich bekommt er auch seinen Anteil, aber mit Sicherheit nur einen Bruchteil dessen, was Malin bekommt. Malin ist seit Jahrzehnten dabei. Er muss unter Dutzenden von Ministern gedient haben.«
Hammer trank einen Schluck Kaffee und schaute den Menschen zu, die auf der Straße vorübergingen, dann wandte er sich mit neuer Konzentration Webster zu.
»Wie mächtig ist er?«
»Ein Regierungs-Intimus seit zehn Jahren oder mehr, soweit ich weiß. Das ist ausgesprochen selten, vielleicht sogar einzigartig. In jedem einzelnen Fall, der mit Energie zu tun hat, taucht er irgendwo auf. Er ist die Graue Eminenz im Kreml.«
»Wer kümmert sich um seine Geschäfte?«
»In Russland weiß ich es nicht. Ein Bursche namens Lock ist seit fünfzehn Jahren oder so sein Anwalt. Er managt ein irisches Unternehmen, das die meisten seiner Assets zu besitzen scheint. Und es gibt einen Russen namens Gratschow, der eine Handelsgesellschaft in Wien betreibt.«
Hammer überlegte einen Moment lang, wobei er mit Daumen und Zeigefinger einen präzisen Rhythmus auf den Tresen schlug. Sein viel zu großer Hemdkragen hing lose um seinen Hals wie eine Schlinge.
Webster sprach weiter. »Ich kenne Lock. Besser gesagt, ich weiß von ihm. In Moskau kursiert ein englischer Witz: Why did Malin lose all his money? Because it was Locked up.«
»Weil es weggeschlossen war – ein echter Brüller.«
»Es ist ein Wortspiel. Loc heißt auf Russisch Trottel.«
Nach einer Pause sagte Hammer: »Wen hat Malin verärgert?«
»Außer Tourna? Es gibt einen ehemaligen Manager, der interessant aussieht. Keinen offensichtlichen Feind. Es muss eine Reihe von Russen geben, die ihn nicht mögen, im Kreml und außerhalb. Sonst fällt mir niemand ein, und ich finde auch keine Prozesse, die uns da weiterhelfen könnten.«
»Das ist interessant.«
»Ist es das?«
»Und was will Tourna?«
Webster erzählte es ihm. Den Untergang von Malin.
»Mehr nicht?« Hammer lehnte sich zurück, trommelte mit den Daumen auf den Rand seines Glases. »Haben Sie über das Honorar geredet?«
»Nein. Ich habe ihm gesagt, dass ich zuerst mit Ihnen besprechen müsste, ob wir den Fall annehmen.«
Hammer runzelte die Stirn. »Warum sollten wir ablehnen?«
»Wegen der Außenwirkung. Tourna wäre nicht gerade ein Referenzkunde. Mir ist das egal, aber ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Vor allem jedoch ist Malin ein großer Fisch, der seine eigenen Sicherheitsleute haben wird, und zwar gute, und er hat eine Menge zu verlieren.«
»Was kann er schlimmstenfalls tun?«
»Seine Leute auf uns ansetzen, Dreck aufwühlen, uns das Leben schwermachen, besonders in Russland. Mein Visum widerrufen lassen, was ärgerlich wäre.«
»Wird er Sie erschießen?«
Webster lachte: »Das glaube ich kaum. In der Regel bringen sie keine Ausländer um. Aber trotzdem Danke.«
»Was ist mit unseren Informanten in Russland?«
»Ich glaube, für sie gilt das Gleiche. Falls Malin Wind von uns bekommt, wird er sie bedrohen, möglicherweise dafür sorgen, dass sie ihren Job verlieren. Aber vielleicht müssen wir gar nicht so viel in Russland machen. Wenn Malin irgendwo verletzlich ist, dann am ehesten im Ausland. Vielleicht gibt es auch etwas in seiner Vergangenheit.«
Hammer verschränkte die Arme und strahlte Webster an. »Das ist ein dickes Ding, nicht wahr? Haben Sie schon irgendwelche Gedanken?«
»Du lieber Gott, ja. Mein Kopf schwirrt vor Ideen. Das ist einmal ein Fall, bei dem Sie mich im Zaum halten müssen.«
»Das wird eine neue Erfahrung sein.«
Webster machte eine Pause. Draußen stiegen zwei Männer aus einem Taxi und mühten sich mit Kartons voller Gerichtsakten ab. Er wandte sich Hammer zu. »Okay. Ich muss Ihnen gegenüber ehrlich sein. Ich habe auf diesen Fall gewartet. Oder auf einen ähnlichen. Mein Urteil ist womöglich subjektiv.«
»Sie wollen die Korruption bekämpfen?«
»Etwas in der Art.«
Für einen Moment sagte keiner etwas.
»Vielleicht sollten wir den Fall nicht annehmen«, sagte Webster schließlich.
»Können wir denn tun, was er will?«
»Wir müssten großes Glück haben und sehr geschickt vorgehen.«
Hammer lehnte sich vertraulich vor und senkte seine Stimme: »Ich denke, dieser Fall hat das Zeug zu einem Meilenstein.«
»Ich hatte mir schon gedacht, dass Sie das sagen würden.« Webster spürte ein Flattern in seiner Brust.
»Sagen Sie Tourna, wir wollen zwei Millionen US-Dollar als Vorschuss. Wir verrechnen das und stellen ihm bis zum Ende des Projekts eine Million pro Monat in Rechnung. Wenn wir ihm seine fünfzig Millionen wiederbeschaffen, wollen wir fünf Prozent. Wenn wir Malin erledigen, wollen wir weitere zehn Millionen.«
»Das meinen Sie ernst.«
»Das tue ich. Sie haben es selbst gesagt: Wenn wir diesen Fall lösen können, ohne viel in Russland zu machen, fantastisch. Wenn nicht, haben wir nichts verloren und werden wahrscheinlich Tourna zumindest sein Geld zurückholen. Wenn Malin herumtobt, wird sich das wieder legen, und bis dahin können Sie ja ein paar Fälle in Kasachstan übernehmen. Schließlich haben wir kein Büro in Moskau, das man überfallen oder Angestellte, die man einbuchten könnte.« Er machte eine Pause. »Wo lebt Lock?«
»Moskau.«
»Das ist eine Schande.«
»Warum?«
»Weil er schon für Malin zu arbeiten begonnen hat, bevor die beiden wussten, was sie tun. Das heißt, er kennt Malins Schwachstellen. Und wenn Sie recht haben, ist er nicht gerade kampferprobt. Locken Sie ihn aus Moskau heraus. Dort lebt er zu geschützt.«
»Mit Vergnügen.«
»Er ist viel wert für uns. Heften Sie sich an seine Fersen.«