11

Jetzt riefen sie ihn schon an. Ikertu wusste, wo er war, sie wussten, wo er gewesen war, und jetzt riefen sie ihn an. Vielleicht konnten sie ihm sagen, was mit ihm geschehen würde. Er wollte es dringend wissen. Dieser Webster betrieb ein seltsames Geschäft. Die Polizei auf den Cayman Islands konnte er verstehen, die hatten eine Funktion, aber welcher Mensch tanzte nach der Pfeife eines Mannes wie Tourna?

Lock war halb ausgezogen. Als er nach dem Abendessen mit Onder ins Hotel zurückgekommen war, hatte er Jackett, Schuhe und Hose ausgezogen und sich einen Scotch eingeschenkt. Gin schien an diesem Abend nicht zu wirken. Bei Websters Anruf hatte er auf seinem Bett gesessen und versucht, im Fernsehen einen passenden Film zu finden. Sein Körper war durcheinander: Eine Hälfte war vier Stunden östlich von hier, die andere Hälfte zehn Stunden westlich, und er hatte keine Ahnung, ob er müde war oder nicht. Er wollte aber nicht schlafen. Er brauchte etwas, um seinen Geist zu beschäftigen.

Er schaltete sich durch das Video-on-Demand-Angebot des Hotels. Keine Gangsterfilme, dachte er, keine Liebesfilme, weder komische noch rührende, auch nichts Dramatisches. Sinnfreie Action war alles, was er ertragen konnte.

Lock starrte den aufgelegten Telefonhörer an. Was hatte Webster wirklich gewollt? Wissen, dass er in seinem Zimmer war? Ihn nervös machen wahrscheinlich. Wie komisch, dass Ikertu ihn nun ärgerte; wie komisch, dass er vor nur einem Tag noch auf den Cayman Islands gewesen war und gewagt hatte zu denken, das Leben müsse doch nicht völlig schlecht sein. Er wäre dort geblieben, hätte er die Chance gehabt. Unter all den Inseln in seiner Offshore-Welt hatte Lock die Caymans immer besonders gemocht. Sie waren winzig, wie eine Kleinstadt; nichts passierte dort, das Wetter war immer gleich. Es gab einen elf Kilometer langen Strand.

Vor vielen Jahren hatte Lock Marina einmal auf die Hauptinsel Grand Cayman mitgenommen. Er wollte, dass sie sah, was er sah, wenn er unterwegs war, dass sie wusste, wie großzügig die Welt sein konnte. Sie stiegen im Ritz-Carlton ab, einem neugebauten Palast am Meer, in einer riesigen Suite mit Blick auf den Elf-Kilometer-Strand. Sie hatte zwei Badezimmer und eine Küche, die sie nie benutzten. Die Wände waren in einem geschmackvollen Gelb gehalten, das manchmal wie Cremefarbe aussah, und die drei gläsernen Balkontüren hatten Schabracken aus einem tiefroten, leicht rustikal wirkenden Stoff. An ihrem ersten Morgen hatte der Jetlag sie früh erwachen lassen, und sie waren hinunter ans Meer gegangen, um vor Sonnenaufgang zu schwimmen. Als sie den Sand betraten, joggte ein alter Mann in Shorts und Baseballmütze an ihnen vorbei, sonst sahen sie niemanden. Das Wasser war ganz ruhig gewesen, sie ließen ihre weißen Bademäntel und Plastikslipper aus dem Hotel einfach fallen und rannten zusammen hinein. Lock tauchte unter, als das Wasser seine Knie erreichte, Marina schrie auf, verblüfft über die Wärme des Wassers. Am östlichen Horizont war die Dämmerung eine schmale Linie aus Bronze hinter schwarzen Wolken.

Sie verbrachten eine Woche auf Grand Cayman und die meiste Zeit davon im Hotel. Jeden Morgen frühstückten sie auf der Terrasse – Papayas und Mangos, Eier mit gekochtem Schinken, ein Korb Brot und Kuchen, die sie immer liegen ließen –, und dann lagen sie am Strand, lasen und schwammen im leuchtenden Meer. Marina hielt sich im Schatten. Sie las Middlemarch, wie er sich erinnerte, ein Buch, das er nie zu Ende gebracht hatte. Abends joggte er am Strand entlang, der feine Sand unter seinen nackten Füßen erschwerte das Laufen. Nachts spürte er die elektrische Spannung zwischen seiner gebräunten, dunklen Haut und ihrem kühlen, blassen Körper, der von der Sonne unberührt war.

Nach drei Tagen wollte Marina das Hotel verlassen und die Insel erkunden. Sie mieteten Mopeds und fuhren die Küstenstraße entlang, drei Viertel um die Insel herum. Zu ihrer Linken, hinter Gebüsch und einem Dickicht von Wasserbirken, gab es Hotels und Golfplätze, zu ihrer Rechten nur das Meer. Am Rum Point machten sie Rast in einer Bar, aßen Sandwiches und tranken kaltes Bier in einer niedrigen Hütte auf dem weißen Sand. Marina hatte weiterfahren wollen, und Lock musste ihr erklären, dass die Straße hier endete. Das war alles. Das war die Insel.

An diesem Nachmittag ging er mit einem Tauchlehrer schnorcheln, und Marina blieb im Hotel. Sie langweilte sich. Er brauchte eine Zeit, um es zu bemerken, aber es war so. Damals erklärte er es sich damit, dass er in einem anstrengenden Beruf hart arbeitete und einmal im Jahr vollkommen abschalten musste – genauer gesagt, das Recht dazu hatte –, während es in ihrem Kopf noch Raum gab. Marina schien das Gleiche zu denken. Den Rest ihres Aufenthalts dort waren sie miteinander glücklich, doch irgendwie war es jetzt sein Urlaub, nicht ihrer.

Und nun, zehn Jahre später, war er wieder dort, wieder im Ritz-Carlton, wenn auch in einem kleineren Zimmer, und bereitete sich auf sein Gespräch mit der Polizei der Caymans vor. Diesmal wurde er statt von seiner schönen Frau von Lawrence Griffin und zwei gewaltigen Russen begleitet. Trotzdem war er froh, herzukommen. Nach dem Einchecken stand er am Fenster seines Zimmers, unfähig sich zu konzentrieren. Eigentlich sollte er lange Listen von Unternehmen und Transaktionen durchgehen, die er für den nächsten Tag zusammengestellt hatte. Doch beim Blick auf den Strand konnte er nur an Marina denken. Der Grund, warum es ihr hier nicht wirklich gefallen hatte, das begriff er jetzt, war, dass sie mit der Welt in Kontakt bleiben musste. Ständig. Flucht ergab für sie keinen Sinn, weil sie nichts hatte, vor dem sie fliehen musste.

Für ihn dagegen ergab es immer noch Sinn, was ihn selbst ein wenig überraschte. Obwohl er hier zum ersten Mal in seinem Leben von einem Polizisten befragt werden sollte, obwohl er insgeheim Angst davor hatte – er war dennoch froh, hier zu sein. Ihm gefiel sein Zimmer mit dem hohen Bett, dem Radiowecker, den Tagesdecken auf dem Bett, die jeden Abend wie von Zauberhand verschwunden waren, wenn er schlafen wollte. Ihm gefiel es, zum Frühstück nach unten zu gehen, eine Schale mit Joghurt und Orangensegmenten zu füllen, bevor er sich beim Koch Spiegeleier geben ließ. Ihm gefiel es, die Einstellungen am Duschkopf zu verändern, bis das Wasser in einem harten Strahl auf seinen Nacken pulsierte. Ihm gefiel es, seine Anzüge und Hemden aufzuhängen, die Ärmel aufzukrempeln, sein Rasierzeug und seine Zahnbürste im Badezimmer auszulegen und eine kleine Welt für sich einzurichten, in der Russen, selbst der vor der Tür stehende, nicht existierten – auch wenn diese Welt nicht von Dauer war. Ihm gefiel die Hitze, die Ruhe des Meeres. Doch vor allem anderen gefiel es ihm, sich an Marina zu erinnern und an eine Zeit, in der er noch lebendig genug gewesen war, ihr imponieren zu wollen.

Die Polizei war am Ende doch nicht furchterregend. Zwei Engländer, Mitte fünfzig, höflich, aber hartnäckig, stellten ihm die gleichen Fragen, die zwei Wochen zuvor schon Greene in Paris gestellt hatte, allerdings nicht so viele und ohne Greenes Gehässigkeit. Und Griffin stand daneben, um zu verhindern, dass er sich eine Grube grub. Es war nicht angenehm, aber es war auch nicht grausam. Lock bekam den Eindruck, dass die beiden so gründlich waren, wie es ihre Mittel zuließen. Sie trafen sich zweimal, einmal am Nachmittag seiner Ankunft und das zweite Mal am folgenden Morgen. Gegen Ende, als ganz offensichtlich nur noch die letzten offenen Fragen geklärt wurden, fing er an, darüber nachzudenken, womit er seinen Tag Freiheit im Paradies verbringen würde. Im Rückblick erschien ihm das als der Moment, in dem er das Schicksal gereizt haben musste.

Der Polizist, der bislang der stillere von beiden gewesen war, begann, Lock detaillierte Fragen über die Banken zu stellen, die seine auf den Caymans registrierten Firmen nutzten. Lock nannte sie ihm: zwei auf Grand Cayman, eine auf den Virgin Islands, eine in Bermuda. Dann konzentrierte sich der Polizist darauf, welche ausländischen Banken wiederum diese Banken nutzten, um Geld zu deponieren und zu transferieren. Das war neu für Lock und für Griffin; sie wussten es beide nicht. Die letzte Frage war, ob nach Locks Wissen irgendwelche seiner Banken Korrespondenzbanken in den USA hätten. Wieder sagte Lock, er wüsste es nicht. Nach einigen letzten Formalitäten waren Lock und Griffin entlassen.

Vor der Polizeistation schlug Lock spontan vor, dass er und Griffin zusammen etwas essen und ein Bier trinken sollten. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal wegen irgendetwas erleichtert gewesen war. Vielleicht würde er sogar seinen Bodyguards einen Drink spendieren, wenn sie ihn annahmen. Aber Griffin war in Gedanken vertieft.

»Was glauben Sie, warum die Sie nach den Banken gefragt haben?«

»Keine Ahnung«, sagte Lock, und blinzelte in Richtung Griffin gegen die Sonne. »Vielleicht fragen sie immer nach den Banken. Sie sind die Abteilung für Wirtschaftskriminalität. Vielleicht können sie nicht anders.«

Griffin sagte nichts. Lock bugsierte ihn die Straße entlang in Richtung einer Bar, die er kannte. Mein Gott, es war ein wundervoller Tag, heiß, aber mit genug Wind.

»Warten Sie«, sagte Griffin. »Ich glaube doch, dass es etwas bedeutete. Diese Frage nach den USA? Entweder hoffen sie, das FBI mit an Bord zu holen, weil sie wissen, dass sie das nicht allein knacken können, oder das FBI hat bereits Interesse angemeldet. Das würde erklären, warum wir es da drinnen so leicht hatten.«

Lock schaute zu Boden und schüttelte den Kopf. »Scheiße, Lawrence. Sie sind vielleicht ein Spaßverderber. Sie hätten mich wenigstens zuerst mein Bier trinken lassen können. Wie meinen Sie das? Warum zur Hölle sollte das FBI sich plötzlich für Firmen auf den Caymans und für russisches Öl interessieren? Herrgott, ich dachte, das sei zur Abwechslung mal gut gelaufen.«

»Weil das Geld durch die USA fließt. Mehr oder weniger alles Geld fließt durch die USA. Ich will Ihnen etwas sagen. Im Süddistrikt von Manhattan hängt an einem hässlichen Stück Wand im Büro des stellvertretenden Bundesstaatsanwalts ein großes Plakat der Milchstraße. Und untendrunter steht ›Zuständigkeitsbereich des Süddistrikts von Manhattan‹.« Griffin schaute Lock an, der die Straße entlang und hinaus aufs Meer starrte. »Die können überallhin gehen. Das hier würde ihnen sicher gefallen.«


FBI. Diese drei Buchstaben verfolgten Lock auf dem ganzen Rückweg nach London. Sie ließen sich nicht aus seinem Kopf verbannen. Er sah Männer in schwarzen Anzügen und weißen Hemden, die nachts kamen, um ihn abzuholen, ihn in einen dunklen Raum vor ein helles Licht setzten und einfach nicht glauben wollten, dass er nicht genug wusste, um Malin vor Gericht zu bringen. Er brauchte einen Anwalt. Wie in aller Welt sollte er mit seinen ständigen Begleitern im Schlepptau einen Anwalt finden?

Gefangen im Claridge’s. Das war zumindest komisch. Wirklich komisch. Er hatte die pausenlose Beaufsichtigung satt. Wie konnten Politiker und Oligarchen das ertragen? Abgesehen von allem anderen waren seine Gorillas so groß, sie schienen jederzeit den gesamten Raum um ihn herum einzunehmen. Zwischen ihnen fühlte er sich klein und dem Ersticken nah. Und er wusste immer noch nicht, ob sie da waren, um ihn an der Flucht zu hindern oder Ärger von ihm fernzuhalten.

Es klopfte an die Tür. »Zimmermädchen.«

»Warten Sie bitte. Einen Moment.« Lock ging ins Badezimmer, um sich einen Bademantel anzuziehen. Er warf ihn sich über die Schultern und öffnete die Tür.

»Zimmermädchen. Aufdeckservice. Darf ich hereinkommen?« Ein Zimmermädchen in weißer Schürze und blassblauem Hauskleid stand da mit einem Stapel frischer weißer Handtücher auf dem Arm.

»Ja. Ja, kommen Sie rein«, sagte Lock automatisch und trat zur Seite, um sie durchzulassen. Sie schloss die Tür. »Aber das Bett ist schon aufgedeckt.«

Das Zimmermädchen griff zwischen die Handtücher und zog einen Briefumschlag hervor. »Ein Herr hat mich gebeten, Ihnen das hier zu geben«, sagte sie, überreichte ihn Lock und trug die Handtücher ins Bad. Er schaute den Umschlag einen Moment lang an, dann öffnete er ihn. Das Zimmermädchen kam ins Zimmer zurück, sagte Gute Nacht und ging. In dem Umschlag steckte eine Karte: Benedict Webster, Direktor, Ikertu Consulting Ltd. Sonst nichts. Er warf sie in einen Papierkorb und überlegte es sich dann doch anders – er wollte nicht, dass sie jemand dort fand. Als er sich nach ihr bückte, sah er die handschriftlichen Zeilen auf der Rückseite: Was ich gesagt habe, war ernst gemeint.

Lock nahm seinen Whisky vom Nachttisch, setzte sich auf das Bett, griff nach seinem Handy, gab Websters Nummer ein und speicherte sie unter dem Namen seines Vaters. Anschließend steckte er die Karte zwischen eine Kommode und die Wand und ließ sie nach unten fallen.

Einen Moment lang stand er da und dachte nach. Dann zog er Hose, Socken und Schuhe an, schnappte sich seinen Mantel, zog einen Pullover aus seinem Koffer und verließ das Zimmer.

»Ich gehe meine Frau besuchen«, sagte er zu dem Bodyguard vor der Tür. Dieser hieß Iwan. Lock hatte auf dem Flug von den Caymans hierher versucht, mit ihm zu reden, aber die Unterhaltung war nicht richtig in Gang gekommen. »Begleiten Sie mich?«

Er befand sich schon auf dem Weg zur Treppe. Iwan, einen Moment lang überrumpelt, folgte ihm rennend, griff nach seinem Handy und blaffte etwas Russisches hinein, während sie auf den Aufzug warteten. Unten gingen sie zusammen durch die Lobby, Lock in raschem Tempo ein paar Schritte voran.

»Arkadi bringt das Auto«, sagte Iwan, während Lock durch die Drehtür schlüpfte. Arkadi war sichtlich verärgert, dass man ihn gestört oder gar geweckt hatte, und er fuhr mit hoher Geschwindigkeit durch die nassen Straßen, Lock gab ihm Richtungsanweisungen. Im Holland Park erklärte Lock seinen Begleitern, dass er nicht wusste, wie lange er bleiben würde und dass sie zurück ins Bett gehen konnten, wenn sie wollten. Keiner der beiden sagte etwas. Lock ging die breite weiße Treppe hinauf und drückte auf die Klingel. Er schaute auf seine Uhr: Es war fast elf. Vielleicht lag sie schon im Bett. Er wartete eine volle Minute und spürte, dass Arkadi ihn vom Auto aus beobachtete. Die Sprechanlage klickte.

»Hallo.«

»Hi, ich bin’s.«

»Richard? Richard, warum …« Sie brach den Satz ab und ließ ihn herein.

Auf halber Treppe hörte er, wie sich auf dem Treppenabsatz über ihm Marinas Tür öffnete. Als er sie erreichte, war Marina nicht da – er klopfte vorsichtig und ging hinein. Sie war in der Küche, trug einen blassgrünen Morgenmantel aus Baumwolle mit Lilienmuster, füllte an der Spüle ein Glas mit Wasser und hatte ihm halb den Rücken zugewandt. Ein großer Tisch aus Pinienholz stand zwischen ihnen, darauf eine kleine Kristallvase mit blauen und violetten Anemonen. Lock konnte Zwiebeln und Kaffee riechen.

»Tut mir leid«, sagte er. »Ich musste mit jemandem reden.«

Sie stellte das Glas auf den Ablauf der Spüle und drehte sich zu ihm um. »Du hast Vika aufgeweckt.«

»Tut mir leid. Ist sie noch wach?«

»Ich habe ihr gesagt, sie soll wieder einschlafen.« Marina ging an ihm vorbei und schloss die Küchentür. »Was machst du hier?« Sie ging zurück an die Spüle und lehnte sich mit verschränkten Armen dagegen.

»Ich wollte dich sehen.«

»Richard, ich wusste nicht einmal, dass du in London bist. Warum hast du nicht angerufen?«

»Ich hatte eine ziemlich schwierige Zeit.« Er machte einen Schritt in Richtung des Tisches, legte seine Hände auf die Rückenlehne eines Stuhls und ließ den Kopf sinken, sodass sein Kinn beinahe den Brustkorb berührte. »Tut mir leid.« Als er wieder aufblickte, bildeten sich Tränen in seinen Augen. Marina beobachtete ihn besorgt. »Ich wollte jemanden sehen, der nichts von mir will. Das ist alles.«

Einen Augenblick lang sagte keiner von beiden etwas. »Kann ich einen Drink haben?«

»Ich habe nicht viel da. Ein bisschen Wodka. Wie viel hattest du schon?«

»Nicht viel.« Er blickte auf und lächelte, sein charmantes Lächeln. »Die Treppe habe ich noch geschafft.«

Marina ging zum Kühlschrank, holte eine beschlagene Flasche aus dem Eisfach und goss die Flüssigkeit, dick wie Sirup, in einen Tumbler.

»Wir haben keine normalen Gläser.« Sie gab es ihm und setzte sich an den Tisch.

»Trinkst du einen mit?«

»Es ist spät, Richard. Ich war im Bett.«

»Bitte.«

»Nein. Danke.«

»Setz dich wenigstens hin.«

Marina zog sich einen Stuhl hervor und setzte sich ihm gegenüber an den Tisch. Sie stützte ihr Kinn auf ihre Daumen und schaute zu, wie er einen Schluck von seinem Wodka nahm.

»Was ist los?«

Er brauchte einen Moment zum Antworten, als ob er versuchte, alles richtig zu formulieren.

»Draußen«, sagte er und machte mit seinem Glas eine Geste in Richtung des Fensters, »sind zwei hässliche Russen in einem Volvo. Sie gehen überall mit mir hin. Ich war gerade auf den Caymans mit ihnen, und morgen werden sie mit mir nach Moskau fliegen. Sie sind eine neue Errungenschaft. Sie trauen sich nicht, mich alleinzulassen. Ich sollte mich geschmeichelt fühlen.«

Marina schaute ihn mit ernsten Augen an. »Ich verstehe nicht.«

»Sie sollen mich davon abhalten, mich aus dem Staub zu machen. Es sind Malins Leute. Als ich aus Paris nach Moskau zurückkam, haben sie mich erwartet. Ich glaube, sie sind hier, um sicherzugehen, dass ich nicht von einem Hoteldach falle. Oder dass ich es tue. Ich bin noch nicht ganz dahintergekommen.«

»Du siehst furchtbar aus.«

»Ich bin müde. Teilweise einfach Jetlag. Teilweise, weil ich dauernd an Dmitri denken muss.« Er trank wieder, einen tiefen Schluck diesmal. »Und ich bin sicher, dass … Als wir zum Essen gingen, mit Vika, vor Paris. Mein Gott, Paris. Das ist noch eine andere Geschichte. Aber an diesem Abend, als ich euch hierher zurückbegleitete, bin ich sicher, dass ich verfolgt wurde. Ganz sicher. Da war ein Auto vor dem Restaurant, und als wir hier in die Straße einbogen, fuhr es an uns vorbei und in die nächste Straße.« Er setzte sein Glas ab und fuhr mit der Hand durch seine Haare. »Mein Telefon macht die ganze Zeit komische Geräusche. Ich glaube, sie hören es ab. Und Iwan und der verdammte Arkadi rund um die Uhr an meiner Seite. Ich halte es nicht mehr aus. Es macht mich wahnsinnig. Und gleichzeitig, lieber Gott … Das sind nur die Russen, aber gleichzeitig will das FBI, das Scheiß-FBI – sorry, tut mir leid – will das FBI wissen, wer ich bin und was ich die letzten fünfzehn Jahre für diesen fiesen fetten Gauner gemacht habe, und in meinem verdammten Hotelzimmer tauchen Detektive auf. Ich kann nicht mehr, Marina.«

Marina schob ihren Stuhl zurück, stand auf und ging um den Tisch, um sich neben ihn zu setzen. Er schaute sie an, mit dem Kopf auf einer Hand, und sie legte ihre Hand auf seinen Arm.

»Komm her«, sagte sie.

Lock drehte sich auf seinem Stuhl, sodass sie einander gegenübersaßen. Er legte seinen Kopf auf ihre Schulter, seine Hände auf ihren Rücken, und eine Minute lang saßen sie so da, ein wenig unbeholfen, Lock von leisem Schluchzen geschüttelt. Als er sich aufsetzte, um sie anzuschauen, waren seine Augen blutunterlaufen und voller Tränen.

»Tut mir leid«, sagte er. »Ich wollte nicht hierherkommen und zusammenbrechen.« Er trocknete seine Augen mit dem Ärmel seines Pullovers. »Es ist einfach …«

»Erzähl mir alles«, sagte Marina und stand auf. Sie kam mit einem Glas an den Tisch zurück, goss Lock noch einen Wodka ein und etwas für sich. »Ich will es wissen.«

Also erzählte Lock. Er erzählte ihr von Paris. Er erzählte ihr, was er über Gerstmans Tod erfahren hatte. Er erzählte ihr von dem Empfang, der ihn bei seiner Rückkehr nach Moskau erwartet hatte, von seinem gescheiterten Versuch, sich eine Rückversicherung zu besorgen, von den Cayman Islands und dem FBI und von Webster. Und von Websters Karte. Er redete flüssig und mit Nachdruck, und während er all das Marina erklärte, wurden einige Dinge auch für ihn selbst langsam klar. Er trank stetig seinen Wodka. Marina hörte ernst zu, nippte an ihrem, nahm jedes Wort in sich auf.

»Ich kann nicht nach Moskau zurückgehen«, sagte er, als er fertig war. »Du hast recht. Es saugt mich aus. Es gibt dort nichts mehr. Weißt du, wie ich mich fühle? Ich fühle mich, als hätte ich jemanden verpfiffen, und alle wissen es, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie kommen, um mich zu lynchen. Und dabei habe ich gar nichts gesagt.« Er musste abrupt sarkastisch auflachen. »Ich habe zu niemandem ein Wort gesagt.«

»Vielleicht solltest du jetzt damit anfangen.«

Lock seufzte. »Das Problem ist, ich habe nicht viel zu erzählen. Das ist das Schlimmste daran.«

»Was also wirst du tun?«

»Ich weiß es nicht. Für immer hierbleiben?« Er sah sie direkt an. Sie war immer noch blass. Immer noch schön. Sie antwortete nicht. »Kann ich wenigstens heute Nacht bleiben? Ich würde gerne. Ich vermisse dich.«

Marina hielt seinem Blick stand und nahm seine Hand. »Richard, nein«, sagte sie. »Ich hasse, was du durchmachst. Aber unsere Beziehung ist noch die gleiche, im Moment. Du und ich. Das hat sich nicht geändert.«

»Auch nicht nach dem Brief?«

»Das war nicht, was der Brief gemeint hat. Du musst da raus. Sonst kann nichts passieren.«

Lock nickte, eine kaum wahrnehmbare Kopfbewegung. »Trotzdem danke. Dass du mir geschrieben hast. Ich lese ihn manchmal. Er ist so ziemlich die einzige Gesellschaft, die ich habe.«

Eine Sekunde lang sah Marina ihn an, und in ihren tiefgrünen Augen – immer noch der gleiche klare, intensive Blick – sah er eine Spur ihrer Liebe, die noch nicht erloschen war, die sich ihm in diesem Moment so deutlich mitteilte, dass selbst er, dessen Instinkte beinahe verdorrt waren, es nicht übersehen konnte.

Er brach das Schweigen. »Kann ich auf dem Sofa schlafen? Ich habe die Hotels gründlich satt.« Er lächelte. »Das hast du von mir noch nicht gehört.«

»Nein, Richard. Das ist nicht gut. Nicht für Vika. Eines Tages, aber nicht heute.« Diesmal nickte er nicht; er schaute nur die Blumen auf dem Tisch an. Marina beobachtete ihn. »Vielleicht solltest du mit Webster reden. Vielleicht meint er wirklich ernst, was er sagt.«

Er hob den Kopf und sah sie an.

»Er hat mir die letzten drei Monate lang das Leben zur Hölle gemacht. Jetzt passt es ihm in den Kram, mir den Rest zu geben. Nein.«

Marina dachte eine Weile nach. »Er ist der Einzige, der das Gleiche will wie du. Etwas, das Konstantin schadet.«

Lock schüttelte den Kopf. »Nein, ich will Konstantin nicht schaden. Ich will nur, dass er verschwindet. Dass er mich in Ruhe lässt. Ich will ein neues Leben. Ich will meine Familie zurück.« Er pausierte, um ihre Reaktion zu sehen. Sie nahm seine Hand und hielt sie in der ihren. »Das meine ich ernst. Wirklich. Ich war so unglaublich blind dafür. Für dich. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich morgen früh hier aufwachen möchte, mit dir neben mir. Mit Vika in unserem Bett. Das ist Strafe genug. Ich sollte das nicht durchmachen müssen.«

Marina stand von ihrem Stuhl auf und stand über ihm, ihre Hand auf seiner Schulter. »Richard, ich glaube, du solltest gehen. Geh und schlaf dich aus. Bleib vielleicht einen Tag oder zwei in London. Komm und besuche uns. Morgen nach der Schule.«

Lock saß, mit dem Kopf in den Händen und den Ellbogen auf der Tischplatte. Das hörte sich gut an. Aber es war nur ein Aufschub. Die letzten Freiheiten eines sterbenden Mannes.

»Wie kommt man in euren Garten?«, fragte er schließlich.

Marina sah ihn verwirrt an.

»Hast du Zugang zu eurem Garten?«, fragte er.

»Ja, es ist ein Gemeinschaftsgarten. Warum?«

»Wie kommt man hinein?«

»Es gibt hinten eine Tür. Im Keller. Warum? Was meinst du?«

»Ich habe genug. Ich brauche eine Nacht in Freiheit. Ein paar Tage. Ich kann einfach nicht denken, wenn mir immer diese beiden Schläger auf dem Schoß sitzen.« Er erhob sich.

»Das ist verrückt. Wohin wirst du gehen?«

»Ich weiß es nicht. Irgendwohin. Ich werde nicht in dieses Gefängnis Moskau zurückkehren. Komm. Zeig mir den Weg.«

Marina sah ihn argwöhnisch an, sagte ihm aber schließlich, er solle ihr folgen. Zusammen gingen sie beim Licht der hereinscheinenden Straßenlampen die Treppe hinunter. Lock bat sie, das Licht im Treppenhaus nicht einzuschalten. Eine Minute später waren sie im Garten, ein großer freier Rasen, eingefasst von schmalen Blumenbeeten. Marina stand im Türrahmen, und Lock drehte sich zu ihr um, um sich zu verabschieden.

»Richard, das ist verrückt. Wie willst du über die Mauer kommen?«

»Über den Schuppen. Der sieht aus, als wäre er dafür gemacht.« Am anderen Ende des Gartens befand sich ein Schuppen, weiß und gespenstisch in der orangefarbenen Nacht der Stadt, direkt an der Mauer, die vielleicht drei Meter hoch war und den Garten vom dahinter liegenden Holland Park trennte. Oberhalb der Mauer reckten sich dürre Zweige wie Reisigbesen.

»Wie kommst du nach unten?«

»Ich springe. Kein Problem. Das ist das Erste, was ich seit fünfzehn Jahren für mich selbst tue.«

Er küsste sie, und als er sich zum Gehen wandte, ergriff sie seine Hände und hielt sie einen Moment lang fest. Bei ihrer Berührung schwand seine Tapferkeit, und er musste den Drang hierzubleiben niederkämpfen.

»Kein Problem«, wiederholte er.

Niemand hatte das Laub gerecht, die nassen Blätter quatschten unter seinen Füßen. Einen Augenblick später war er auf dem schrägen Dach des Schuppens, und die Mauerkrone war auf einer Höhe mit seiner Brust. Er zog sich hoch und setzte sich darauf, spürte, wie Feuchtigkeit durch seine Hose drang. Marina schaute immer noch zu ihm herüber. Er winkte ihr zu, ließ sich auf der anderen Seite herunter, bis er an den Fingerspitzen hing, und ließ los.

Er landete in einem Busch und fiel mit zerkratzter Wade auf den Rücken. Er stützte sich auf die Ellbogen und blieb einen Moment auf der matschigen Erde liegen, es regnete in sein Gesicht. Süßer Londoner Regen. Er stand auf, bürstete sich mit der Hand die Kleidung ab und ging ohne große Eile in Richtung Kensington High Street. Er machte eine Bestandsaufnahme. Er hatte die Kleidung, die er auf dem Leib trug, hinten etwas feucht durch den Fall, aber ansonsten brauchbar; seinen Pass, seine Brieftasche mit etwa vierhundert Pfund in unterschiedlichen Währungen; den Brief von Marina und drei Handys, die er jetzt lahmlegen sollte. Er hatte gelesen, dass man über sein Handy geortet werden konnte, auch wenn man es gar nicht benutzte, weil es oft nur scheinbar ausgeschaltet war. Er blieb stehen und nahm aus allen dreien den Akku und steckte die Einzelteile in verschiedene Taschen.

Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal nachts allein in einem leeren Park gewesen war. Er fühlte sich wie ein Teenager. Sein Mantel bot wenig Schutz, und die Bäume hatten schon fast alle Blätter verloren, doch es machte ihm nichts aus, nass zu werden. Er ging über die riesige Grasfläche, das Gesicht zum Himmel erhoben. Seine Hosenbeine flatterten im frischen Wind kalt um seine Waden. Um die Ränder des Parks herum lag London wie eine dünne Grenze.

Als der Holland Park in Richtung der Straße schmaler wurde, begann er sich zu fragen, wie er den Zaun überwinden sollte. Was, wenn er sehr hoch war? Er konnte sich nicht erinnern, was ihn am anderen Ende erwartete. Zwischen den Bäumen erkannte er ein Stück Mauer und hinter dichten Sträuchern einen Zaun. Es sah hoch genug aus, um schwierig zu werden, aber nicht unmöglich. Als er näher kam, sah er aber, dass die Mauer von offenen Bögen unterbrochen war, und am Ende ging er einfach hindurch und nach Kensington hinein. Er fühlte sich leicht wie eine Wolke.


Als frisch Befreiter war Lock überrascht, dass er zu wissen schien, was er nun zu tun hatte. Es war halb eins. Keine Flüge, keine Züge nach Paris, wahrscheinlich überhaupt keine Züge irgendwohin. Heute Nacht würde er sich in London verstecken. Er lief die Kensington High Street hinauf, bis er eine Bank fand, und hob an deren Geldautomat so viel Geld ab, wie er konnte. Dann nahm er eine Seitenstraße, die südlich vom Park wegführte, in Richtung Earl’s Court. Er sah niemanden. In den Häusern entlang der Straße brannten nur noch vereinzelt Lichter; London war zu Bett gegangen. Hin und wieder fuhr ein Auto an ihm vorbei, und er wehrte sich gegen den Impuls, sich umzudrehen und danach zu schauen. In der Cromwell Road blieb er ein oder zwei Minuten lang stehen, dann hielt er ein Taxi an und sagte dem Fahrer, er solle ihn nach Victoria fahren.

Er ließ den Fahrer am Bahnhof halten, bezahlte ihn, gab ihm ein gutes Trinkgeld und machte sich auf die Suche nach einem Hotel. An den Hauptstraßen ging er an großen Business-Hotels vorbei, langweilig und anonym, aber sie waren nicht das, was er suchte. Schließlich bog er in eine schmale Seitenstraße ein, in der jedes Haus eine Pension war: Zimmer mit Bad und TV. Durch ihre Glastüren konnte er gestreifte Tapeten und schmutzigbraune Teppichböden sehen, buchenfurnierte Möbel und helle Neonbeleuchtung, aber weder Gäste noch Angestellte, überhaupt keine Menschen. Schilder in den Fenstern informierten darüber, wo noch Zimmer frei waren. Er fragte sich, wer in diesen Häusern abstieg, und musste sich eingestehen, dass er keine Ahnung hatte. Vertreter? Flüchtlinge der einen oder anderen Art? Ausgerissene Geldwäscher?

Er lief die Straße entlang zurück und fand ein Haus, das ein wenig ordentlicher wirkte als die anderen: das Hotel Carlisle. In Blumentöpfen auf den Fenstersimsen gab es Geranien, ein wenig schmuddelig, und die Eingangshalle war vom warmen Licht einer Stehlampe erleuchtet.

Auf sein Läuten erschien eine forsche, griesgrämige Frau an der Tür. Sie brauchte nicht mal eine Minute, um sein Geld entgegenzunehmen und ihm zu sagen, wo er Zimmer 28 finden konnte. Er sagte ihr, er heiße Alan Norman, ein Name, der, als er ihn aussprach, so offensichtlich erfunden klang, dass er sich sicher war, sie würde ihn anzweifeln. Aber sie zeigte kein Interesse, und zu seiner Erleichterung verlangte sie auch nicht, seinen Pass zu sehen. Niemand würde ihn hier finden.

Zimmer 28, am Ende des Hauses, blickte auf die Rückseiten anderer georgianischer Häuser und ein Sammelsurium von Leichtindustrie und Lagerhallen. Es war klein, es gab gerade genug Platz für zwei Einzelbetten mit einem Nachttisch dazwischen und einen Pinienschrank, der so nahe bei einem der Betten stand, dass sich seine Tür nur dreißig Zentimeter weit öffnen ließ. Die Raufasertapeten waren in einem kränklichen grellen Grün gestrichen, und in einer Ecke warf der Schirm der Deckenlampe einen Lichtkegel auf den blauen Bezug eines der Betten, alles andere blieb im Halbdunkel. Das angekündigte Bad im Zimmer bestand aus einer Dusche mit ausgeleierter Plastik-Falttür und einem winzigen Waschbecken, das über die Toilette ragte. Einen Fernseher gab es doch nicht.

Lock betrachtete alles wohlwollend. Es war einigermaßen sauber, und es war sein. Er zog den Mantel aus, hängte ihn an die Tür und legte sich aufs Bett. Er war glücklich über seine neue frugale Existenz, er vermisste lediglich einiges. Er hätte gerne eine Flasche Whisky und einen Schlafanzug gehabt. Vielleicht sollte er die Frau unten fragen, ob es etwas zu trinken gab. Aber es war ja nur für eine Nacht. Morgen würde er einen Zug nach Newhaven nehmen und von dort die Fähre nach Dieppe. Dann würde er einen Wagen mieten, in die Schweiz fahren, sein ganzes Geld abheben und für lange Zeit verschwinden. Onder in Istanbul besuchen und sich um einen neuen Pass kümmern. Onder kannte sicher jemanden; Leute wie er taten das. Und dann weiter, irgendwohin, wo es keiner erwartete, wo es ein wenig chaotisch war. Indonesien vielleicht, eine von den entfernteren Inseln. Oder Vanuatu. Am Ende der Welt.

Was würde passieren? Malin würde ihn suchen. Vielleicht würde das FBI ihn suchen. Vielleicht auch die Schweizer. Die Schweizer hatte er ganz vergessen. Rast hatte mit unbewegter Miene gesagt: »Ich sollte Ihnen das gar nicht erzählen, Richard, aber vielleicht können Sie es irgendwie nutzen. Der Schweizer Staatsanwalt glaubt, dass sie ein interessantes Geschäft betreiben, und er wird sehr neugierig.« Das war Teil davon. Was, wenn die Schweizer ihn an der Grenze aufhielten? Was, wenn sie schon genug über ihn gesammelt hatten? Sie könnten die Russen verständigen und ihn nach Hause schicken lassen. Oh Gott. Wäre er schlau gewesen, hätte er Baschajew beauftragt herauszubekommen, was die Schweizer machten.

Es gab auch noch andere Probleme mit seinem Plan. Konnte man so viel Geld von einer Schweizer Bank abheben? Ja, da war er sich sicher. Er hatte Geschichten über Leute gelesen, die die Schweiz mit weit mehr als den acht oder neun Millionen verließen, die er dort hatte. Aber was nützte das Geld, wenn sie ihn an der Grenze aufhielten? Woher stammte es, welche Erklärung hätte er dafür? Und wie wollte er es mit sich herumtragen – in einem Koffer? Nach Istanbul? Und selbst angenommen, all das funktionierte und er schaffte es, nach Sulawesi zu kommen, wie lange würde es dann dauern, bis Malin ihn aufgespürt hatte? Horkow würde bald von seinem Verschwinden erfahren – am Morgen wahrscheinlich, wenn Iwan und Arkadi schließlich bemerkten, dass er nicht in Marinas Wohnung war. Harkow wirkte schon Furcht einflößend, wenn er zur eigenen Seite gehörte; die Vorstellung, Horkow und seine Leute lebenslang auf der eigenen Spur zu wissen, war lähmend.

Sein Kopf begann zu dröhnen, als die Wirkung des Wodkas nachließ. Er spürte, wie die Schultermuskeln an seinem Hals zerrten, und sein Rücken schmerzte. Wer war er denn, dass er sich einbildete, entkommen zu können? In Russland war er fett und ängstlich geworden, er hatte nicht mehr die Instinkte, denen er vertrauen konnte. Es war, als wollte man ein Schoßhündchen auswildern. Und was erwartete ihn, wenn er es schaffte? Ein Leben lang die Furcht, die er jetzt empfand.