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Webster freute sich, den Namen Savas Onder in der Akte zu lesen; es war, als entdeckte man auf einer ziemlich steifen Party einen alten Freund. Wenigstens Onder, so hoffte er zumindest, würde bereit sein, mit ihm zu reden.
Er begann langsam, sich wie ein Außenseiter zu fühlen. Seit Dmitri Gerstman ihm in Berlin eine solche Abfuhr erteilt hatte, hatte er alle Bekannten von Malin oder Lock, die er ausfindig machen konnte, angerufen oder aufgesucht. Er hatte mit Freunden in der Ölindustrie gesprochen, die wenig wussten, und mit persönlichen Freunden Locks, die noch weniger sagten. In Baku hatte er einen Schotten aufgestöbert, der 1993 mit Lock ein Unternehmen gegründet hatte; dieser hatte mehr geredet als die meisten Schotten, ihm aber lediglich gesagt, dass Lock kein Geschäftsmann war: »Das ist ein Mann, der die Vorstellung widerlegt, dass Anwälte wissen, wie man Geld verdient.« Er hatte zwei Männer gefunden, die Lock seit ihrer gemeinsamen Universitätszeit kannten – einer davon traf sich sogar noch mit ihm, wenn Lock nach London kam –, doch keiner der beiden hielt es für angemessen zu reden, und Webster konnte ihnen ihre Loyalität nicht verübeln. Er hatte Geschäftsführer und Direktoren von elf Unternehmen angerufen, die zu dem immer dichter werdenden Firmennetz gehörten, das Lock geknüpft hatte; keiner von ihnen hatte irgendetwas Wesentliches gesagt, wobei alles andere ohnehin seltsam gewesen wäre. Auch wenn er normalerweise einen Bogen um Ehefrauen machte – gleich, ob es sich um ehemalige oder aktuelle handelte –, hatte er sogar vor, Mrs. Lock aufzusuchen, die ihren Mann offenbar verlassen hatte und nach London gezogen war.
Onders Namen zu sehen, schien ihm ein Glücksfall zu sein. Eine von Websters besseren Rechercheurinnen hatte sich durch eine Liste von Unternehmen gearbeitet, die mit Faringdon oder Langland Geschäfte gemacht hatten, und nach einiger Wühlerei herausgefunden, dass es sich bei der mysteriös klingenden Katon Services LS um einen Teil von Onders Ölhandelsimperium handelte. Webster war nicht überrascht, hier auf ihn zu stoßen: Als Onder ihn vor Jahren einmal engagiert hatte, war es um eine russische Angelegenheit gegangen. Es wäre seltsam gewesen, wenn seine und Malins Wege sich niemals gekreuzt hätten.
Es war Freitag und der erste Tag, der sich nach Herbst anfühlte. Sie hatten vereinbart, sich an diesem Morgen in Onders Londoner Büro zu treffen. Webster bedauerte, dass Onder nicht in Istanbul war, einem der wenigen Orte, an die er immer gerne reiste. Er und Elsa hatten dort vor Jahren im Dezember die Hälfte ihrer unorthodoxen Flitterwochen verbracht (die andere Hälfte an der Küste bei North Berwick, wo es so kalt gewesen war, dass dicker Raureif das Dünengras überzogen hatte), und er hoffte, sie eines Tages wieder dorthin mitzunehmen.
Statt im Hotel Pera Palace stand Webster also an diesem Morgen in seiner Küche und tat sein Bestes, um das Haus zu verlassen. Er war früh aufgewacht und mit dem Fahrrad zum Hampstead Heath Park gefahren, um in dem für beide Geschlechter offenen Mixed Pond zu schwimmen, dessen kühles Wasser langsam eiskalt wurde. Als er zurückkam, machte er Porridge für sich und die Kinder und brachte Elsa Tee ans Bett, duschte, rasierte sich und zog den gleichen Anzug wie am Vortag an, wobei er entschied, dass Onder wahrscheinlich keine Krawatte erwartete, auch wenn die Gelegenheit eigentlich eine verlangte. Webster bevorzugte seriöse und schlichte Kleidung: dunkle Einreiher, marineblau oder anthrazit, mit weißen Hemden und dunklen Krawatten ohne Muster. Alles war von guter Qualität und etwas abgetragen. Elsa hatte ihm einmal gesagt, dass er immer wie jemand aussah, der eine schlechte Nachricht überbringen muss, einen Todesfall oder eine Entlassung, und er hatte ihr geantwortet, dass niemand einen Privatermittler wollte, der als Lackaffe daherkam.
Während er durch den frisch mit Reif bedeckten Queen’s Park zur U-Bahn ging, dachte er an Lock. Er dachte immer öfter an ihn. Inzwischen sollte er sich unbehaglich fühlen. Er musste den Artikel gelesen haben – besser gesagt die Artikel, weil ein paar andere Zeitungen die Story aufgegriffen hatten. Webster hatte Hewsons Artikel in der Times gefallen, aber er war überrascht gewesen, dass er nicht größere Kreise gezogen hatte; er hatte erwartet, diesem ersten Artikel würde bald ein zweiter folgen. Er sollte Gavin noch einmal anrufen. Vielleicht war es egal: Webster hatte auch mit der FT gesprochen, mit dem Journal, mit Forbes, und er war sicher, dass noch mehr erscheinen würde. Er wollte Lock das Gefühl geben, dass ein Prozess in Gang gekommen war, den niemand aufhalten konnte.
Was Lock jedoch wirklich verunsichern musste, waren die Anrufe von Freunden. Niemand hörte gerne, dass Nachforschungen über ihn angestellt werden. Selbst wenn man nichts zu verbergen hatte, fragte man sich unwillkürlich, ob es nicht doch einiges zu finden gab; und wenn man, wie Lock, sein ganzes Berufsleben damit verbracht hatte, Dinge zu verbergen, machte einen so etwas in der Regel entschieden nervös. Doch für Webster war dies eine seltsame Art zu operieren: Er verbrachte so viel seiner Zeit damit, im Verborgenen Fragen zu stellen, dass er es selbst ein wenig unangenehm fand, offen zu operieren.
Auch Gerstman hatte wahrscheinlich Lock angerufen – es sei denn, er war fest entschlossen, sich aus Russland herauszuhalten. Und diese ganzen Offshore-Direktoren würden mit Sicherheit ihrem Klienten Bericht erstatten. Webster fragte sich, was Lock an Malin weiterleiten würde. Von außen gab es keine Möglichkeit festzustellen, wie eng die beiden zusammenarbeiteten, und die Informationen dazu waren unterschiedlich. Der Schotte hatte den Umgang der beiden als »freundschaftlich, aber nicht eng« beschrieben, während andere, die die russische Ölindustrie gut kannten, Lock ebenso wie Tourna einfach für einen Strohmann hielten.
Webster dachte an den Typus Mann – es waren immer Männer –, der seine Identität verkaufte, um die Identität eines anderen zu schützen. In jedem größeren Projekt tauchten diese Männer auf, bildeten die erste Verteidigungslinie, oft nur unzureichend für den Kampf gerüstet. Sie waren Geschäftsleute, ausnahmslos zweitklassige Anwälte und Buchhalter, deren frühere Karrieren die Vermutung nahelegten, dass sie nie auf dem Weg an die Spitze gewesen waren. Einige begannen jung, andere in mittleren Jahren. In Websters Welt gab es Legionen von ihnen, sie stammten aus aller Herren Länder und operierten in winzigen Büros in London, Dubai, Genf oder New York, gründeten Unternehmen, lösten sie wieder auf, hantierten endlos mit Geld herum. Was bekamen sie für dieses unnatürliche, unkündbare Arrangement? Nach Websters Erfahrung gab es drei Motive, die normalerweise miteinander verflochten waren. Da war zunächst das Geld – leicht verdientes Geld. Wenn man seine Immobilien und seinen Lebensstil zum Maßstab nahm, musste Lock zehn, vielleicht auch zwanzig Millionen schwer sein, und was tat er dafür, wenn man es recht betrachtete? Unternehmen verwalten. Ferner hatte er ein gesichertes Einkommen, denn dies war immer ein Job auf Lebenszeit – man konnte ebenso wenig aussteigen wie der Klient. Und außerdem verhieß es Macht. Oder genauer gesagt, die Nähe zur Macht. Das war allen diesen Männern gemeinsam: der Irrglaube, dass beim Arbeiten für einen großen Mann etwas von dessen Rang an einem selbst haften blieb.
Onders Büro befand sich in den engen Straßen am Shepherd Market in Mayfair. Seltsame Läden konnten sich hier halten: italienische Herrenausstatter, die hellblaue Schuhe und senffarbene Lederjacketts verkauften, an wen, war Webster unbegreiflich; winzige Beauty-Salons, die französische Pediküre und Elektrolyse anboten; ein Spielzeugladen, der nur Spielzeugsoldaten führte, jeder einzelne von ihnen in historisch exakter Uniform. Webster fand Onders schäbige rote Tür neben einem Blumenladen, drückte auf die Klingel und wurde eingelassen.
Er stieg eine Treppe hinauf, und Onder selbst begrüßte ihn auf dem ersten Treppenabsatz. Hammer hatte einmal über Onder gesagt, seine Größe sei »in jeder Hinsicht« seine beste Eigenschaft. Er war ein großer Mann, vielleicht einen Meter neunzig, mit breiter Brust, seine Hand umfasste Websters Hand vollständig, als sie sich mit Handschlag begrüßten. Was Hammer aber gemeint hatte, war, dass Onders Handlungen und sein Charakter groß waren: Er hatte eine laute Stimme, seine Großzügigkeit war spontan, er beging seine Verfehlungen aus vollem Herzen. Er trug einen hellgrauen Anzug, der fast silbern aussah, und dazu eine hellrosa Krawatte. Webster freute sich, ihn zu sehen. In seiner Gesellschaft erinnerte er sich lebhaft daran, was für eine seltene Kombination Onder verkörperte: ein Händler, der es gewohnt war, in jedem Moment Dutzende von komplexen Berechnungen anzustellen, der aber dennoch wirklich denken und vorausplanen und, wenn nötig, große Weisheit an den Tag legen konnte.
»Benedict!«, sagte Onder mit der klaren Diktion eines Schauspielers und lächelte breit. »Wie schön, Sie zu sehen. Bitte, bitte, treten Sie ein.« Eine der seltsameren Tatsachen bei diesem ungewöhnlichen Mann war, dass er als Sechzehnjähriger mit seiner Familie nach England gekommen war und seine letzten beiden Schuljahre in Eton verbracht hatte. Das hatte ihm eine gewisse Vornehmheit verliehen, die vierzig Jahre später altmodisch, wenn nicht gar herrschaftlich wirkte.
Er führte Webster durch einen verblichenen Empfangsbereich zu seinem Büro im hinteren Teil des Gebäudes. Sie begegneten niemandem auf ihrem Weg dorthin. Onders Büro war groß und hell, aber schäbig. Es standen zu viele Möbel darin: drei Schreibtische mit hölzernen Tischplatten, deren Lack spröde und abgestoßen war, vier stumpfgraue Aktenschränke, überall Stühle, einige davon an der Wand aufgestapelt. Nur die Telefone und Computer ließen ahnen, dass sich seit 1970 viel verändert hatte. Ein Erkerfenster, dessen untere Scheiben aus Milchglas waren, blickte auf eine Front grauer Häuserrücken.
»Ich entschuldige mich für diese Umgebung, Benedict. Bitte, setzen Sie sich. Wie Sie wissen, mache ich mir nichts aus schicken Büroräumen.«
Webster setzte sich auf den größten der drei Stühle, die vor Onders Schreibtisch aufgereiht waren. »Istanbul ist ein wenig schicker als das hier.«
»Stimmt. Allerdings eher zufällig, nicht absichtlich.« Onder lächelte. »Ich würde Ihnen Kaffee anbieten, aber ich müsste ihn selbst kochen, und deswegen würde er schauderhaft schmecken. Hier ist sonst nie jemand.«
»Das geht schon in Ordnung. Ich versuche sowieso, keinen mehr zu trinken.«
Sie saßen einen Moment lang da und schauten sich an. Onders Augen waren von einem dunklen, fast stahlfarbenen Blau. Er hatte einen freundlichen, aber ausgesprochen festen Blick. Webster war sich nicht sicher, wie lang er dem Blick standhalten sollte – eigentlich war er sich nie sicher, was diese kleinen Taxierspielchen bezweckten, die einige Klienten so schätzten. Er beschloss, den Anfang zu machen.
»Danke, dass Sie mich kurzfristig empfangen haben.«
»Ich bitte Sie, ich helfe immer gerne.« Onder handelte nicht nur mit Öl, sondern unter anderem auch mit Druckerpatronen. Drei Jahre zuvor hatte Webster eine gewaltige Ladung von einem russischen Großhändler zurückgeholt, der vergessen hatte, zu bezahlen. Seitdem mochte Onder Ikertu.
»Ich wollte am Telefon nicht darüber sprechen, aus Gründen, die Sie hoffentlich verstehen werden. Es geht um Konstantin Malin.«
Onder schaute ihn erneut forschend an, die Augen leicht zusammengekniffen.
»Malin.« Er hob die Augenbrauen einen halben Zentimeter. »Sie haben ja mit reizenden Leuten zu tun.«
»Ich weiß. Er ist allseits beliebt. Ich hatte gehofft, dass Sie mir etwas über ihn erzählen können. Wenn er natürlich Ihr Geschäftspartner ist und Sie deshalb lieber nichts sagen wollen, beenden wir das hier einfach sofort.«
Onder schaute ihn immer noch an. Dann lachte er und unterbrach den Blickkontakt.
»Nein, Konstantin und ich werden keine Geschäfte mehr miteinander machen. Es gibt einen Typus von Russen, die denken, dass es okay ist – nein, dass es clever ist –, andere übers Ohr zu hauen, sobald sich die Gelegenheit bietet. Sobald sie Geld machen können. Sie rechnen damit, dass sofort ein anderer Narr daherkommen wird und dass die Welt voller Narren ist. Eines Tages werden sie ihren Irrtum erkennen.«
»Das hoffe ich«, sagte Webster. »Wie viel schuldet er Ihnen?«
»Ehrlich gesagt hat er mir kein Geld abgenommen. Er hat nur eine Vereinbarung nicht eingehalten. Ich muss mir jetzt russisches Öl woanders besorgen. Das ist alles. Es hat mich eine Menge Geld gekostet, aber ich kann nicht behaupten, dass er mich bestohlen hat.«
»Gibt es ein Woanders?«
»Ja, das gibt es. Er kontrolliert nicht alles. Noch nicht.«
»Haben Sie sich mit ihm getroffen?«
»Oh ja, ein- oder zweimal.« Er lächelte Webster an. »Vielleicht sollten Sie mir jetzt sagen, warum Sie das interessiert?«
Webster erzählte Onder die Geschichte. Als er Tourna erwähnte, schnaubte Onder verächtlich. »Dieser Ganove! Mein Gott, das ist ein Krieg zwischen Dieben. Ich dachte, dass Sie mehr Wert auf die Auswahl Ihrer Klienten legen.« Er lächelte Webster an, der zurücklächelte und weitersprach. Er erklärte, was Tourna wollte und was jetzt seine eigene Priorität war: Lock.
»Sie wollen Malin zu Fall bringen? Viel Glück. Ein nobles Unterfangen.«
»Ich weiß. Wir bekommen nicht oft die oberen Zehntausend vor die Flinte.«
Onder lächelte. »Ich kenne Richard«, sagte er. »Ziemlich gut. Ich habe meine Geschäfte anfangs mit Dmitri Gerstman gemacht, doch als er gegangen ist, habe ich mich geweigert, mit dem Strolch zu verhandeln, den sie an seine Stelle gesetzt haben. Ich hatte kein Vertrauen zu ihm – einer vom neuen Schlag, der dem ganz alten Schlag sehr ähnlich ist. Man konnte sich leicht vorstellen, wie er um fünf Uhr morgens Leute verhaftet. Also schickten sie mir Lock. Ich mochte ihn. Kein Ölmann, aber absolut brauchbar. Ein ziemlich schlichter Charakter. Ich glaube nicht, dass er wirklich dorthin gehört.« Sie sprachen eine Zeit lang über Lock und Malin, Malin und Lock, und Webster hatte das Gefühl, die beiden allmählich zu verstehen. Wenn man Malin traf, erzählte ihm Onder, war sofort klar, dass es sich bei ihm um »ein Geschöpf der Sowjets« handelte. Er wurde geboren, als Stalin noch an der Macht war, wuchs unter Breschnew heran und arbeitete ein Vierteljahrhundert lang, bevor Gorbatschow, der seinen Job zu gut gemacht hatte, gehen musste und schließlich Jelzin erschien. Wenn man Malin vor die Wahl stellte, würde er die kommunistische Herrschaft morgen wieder einführen, nicht, weil er den Kapitalismus verachtete und seine Segnungen nicht genoss, sondern weil das kommunistische Russland stark und – wichtiger noch – gefürchtet gewesen war. Wenn man Malin gegenübersaß und mit ihm verhandelte, fing man an, etwas über totalitäre Staaten zu verstehen: Beide zeigten die gleiche Weigerung zu kommunizieren, und beide setzten diese Verweigerung mit Stärke gleich.
Onder hatte Malin, wie sich herausstellte, dreimal getroffen, einmal davon bei einem gesellschaftlichen Ereignis. Jedes Mal hatte ihn seine Weigerung beeindruckt, sich auf die Welt einzulassen; die Welt, so schien es, war verpflichtet, sich auf ihn einzulassen. Das machte es schwer, ihn zu durchschauen – Onder hatte selten jemanden getroffen, der so unerforschlich war. Doch aus seinem Verhalten hatte er schließlich bestimmte Dinge abgeleitet. Malin war stur, er kümmerte sich wenig um seinen Ruf im Westen, dessen Meinung ihm nichts bedeutete. Doch trotz all seiner scheinbaren Unbeweglichkeit traf er schnell und scharfsinnig Entscheidungen und war wahrscheinlich ein subtilerer und feinsinnigerer Denker, als sein eher grobes Auftreten vermuten ließ. Was ihn jedoch antrieb, war nicht zu ergründen. »Ich vermute«, meinte Onder, »dass er alles für Russland und sich selbst tut. Was davon ihm wichtiger ist, kann ich nicht sagen.«
Lock dagegen schien so gar nicht in dieses Bild zu passen. Onder hielt ihn für kompetent, aber nicht talentiert; eitel, gleichermaßen geschmeichelt und eingeschüchtert durch die Gesellschaft, in der er sich bewegte.
»Folgendes müssen Sie verstehen«, sagte Onder, lehnte sich nach vorn und trommelte die wichtigen Worte mit einem Finger auf seinen Schreibtisch, »nämlich dass Malin nie erwartet hat, so groß zu werden. Jeder Russe ist so korrupt, wie es seiner Stellung im Leben entspricht. Wenn du Lehrer bist, verkaufst du Noten. Wenn du Fischhändler bist, gibst du deinen besten Fisch demjenigen, der im Gegenzug etwas für dich tun kann. Malin hat wahrscheinlich erwartet, ein Technokrat auf mittlerer Ebene zu werden, der die eine oder andere Gelegenheit dazu nutzt, jedes Jahr ein paar Millionen zu machen. Doch er hat es geschafft, sich zu einem Global Player zu entwickeln, und jetzt sind es Hunderte von Millionen, vielleicht sogar Milliarden. Und dafür hat er Lock.« Er lachte kurz auf. »Lock ist ein guter Mann für Millionen – mit Milliarden ist er überfordert. Doch irgendwie hat er sich selbst eingeredet, dass er dazugehört. Eine Lachnummer. Und Malin ist nicht dumm, überhaupt nicht, aber er kann Lock nicht ändern. Sie können diese Geschichte nicht umschreiben. Sie können sich nicht scheiden lassen. Es ist schlimmer als eine schlechte Ehe.« Onder lachte über seinen eigenen Witz.
»Welches Problem hat Lock? Warum bringt er es nicht?«
»Hören Sie, vielleicht tue ich ihm auch unrecht. Er ist durchaus intelligent und ein kompetenter Jurist, aber er ist einfach eine Fehlbesetzung.« Onder dachte einen Moment lang nach, wobei er die ganze Zeit Webster unverwandt anschaute. »Welches Problem er hat? Er ist kein Scheißkerl. Er ist zu nett. Er ist verblendet, ja, wahrscheinlich auch engstirnig und beschränkt, nur eben kein Scheißkerl. Um in dieser Welt zu überleben, muss man entweder wirklich hart oder wirklich dumm sein. Lock ist ziemlich intelligent und weich. Viel zu weich. Er wäre gerne Teil dieser Welt, aber tief drinnen glaubt er nicht daran. Möglicherweise gar nicht mal so tief drinnen.«
Webster nickte; das klang plausibel. Seine Erfahrung sagte ihm, dass nur wenige der Locks dieser Welt absolut an ihren eigenen Mythos glaubten. Eine andere Frage stand im Raum, und einen Moment lang überlegte er, ob er sie stellen sollte. Vielleicht war sie auch gar nicht relevant.
»Wie unangenehm ist Malin?«
»Wie meinen Sie das?«
»Wie skrupellos?«
»Sie meinen, ob er über Leichen geht?«
»Ja.«
Onder lächelte und dachte nach. »Vielleicht, um sich zu schützen. Um aufzusteigen, hatte er es vermutlich nicht nötig. Er ist einer von der alten Schule. Ich glaube nicht, dass er sich vor der Justiz fürchtet.«
Eine vernünftige, ausgewogene Antwort. In Wirklichkeit war es nicht mehr als das, was Webster bereits wusste. Sie unterhielten sich noch ein wenig, aber er hatte genug erfahren. Er wusste nun, dass dieser Fall nicht auf eine Story, eine Spur, ein Dokument hinauslaufen würde, sondern auf einen Mann. Letzten Endes lief alles auf Lock hinaus. Er war Malins großer Schwachpunkt. Wenn man ihn umdrehte, hätte man nicht nur den perfekten Zeugen, sondern Malin selbst würde entmannt und entblößt dastehen.
»Wären Sie bereit, vor Gericht auszusagen?«, fragte Webster Onder, als sie fertig waren.
Onder schaute ihn an und dachte einen Moment lang nach. »Gegen Malin vielleicht, ja. Für Tourna … da bin ich nicht so sicher. Vielleicht. Geben Sie mir etwas Zeit zum Nachdenken.«
»Und wie wäre es, ein wenig für mich zu arbeiten?«
Wieder zeigte sich kurz ein Lächeln auf Onders Gesicht. »Haben Sie jemals Ermittlungen gegen mich angestellt?«
»Erstaunlicherweise nicht. Wieso?«
»Ich dachte, dann wäre ich für Sie Zielperson, Klient und Informant in einer Person. Das wäre eine echte Ehre. Was hatten Sie denn im Sinn?«
»Vielleicht könnten Sie sich mal mit Richard Lock unterhalten.«
Eines der Dinge, die Webster daran schätzte, kein Journalist mehr, aber auch kein richtiger Spion zu sein, war, dass er mehr Zeit mit seiner Familie verbrachte. Er hütete diese Zeit sorgsam. Hammer war immer zu erreichen, schaltete sein Telefon niemals ab, und nichts gefiel ihm besser, als mitten in der Nacht angerufen zu werden, weil das bedeutete, dass etwas Interessantes geschah. Doch Webster schaltete abends um sechs mit Vergnügen sein Telefon aus und ließ es das ganze Wochenende über in einer dunklen Schublade liegen. Hammer hatte ihn schließlich gezwungen, es jeden Tag bis neun Uhr anzulassen. Webster räumte widerwillig ein, dass ein Klient, der gut genug war, ihm sein Geld zu geben, das Recht hatte, mit ihm zu reden, wann er wollte. Trotzdem widerstrebte es ihm, diese Anrufe zu beantworten, ebenso wie ihm Klienten-Dinner oder Arbeitsfrühstücke oder Fahrten widerstrebten, die sein Wochenende beschnitten. Er hatte altmodische und manchmal auch ungehaltene Vorstellungen über die Trennung zwischen Arbeit und Privatleben.
Als sein Telefon an diesem Sonntag klingelte, war er deshalb versucht, den Anruf nicht anzunehmen. Das klare, kalte Wetter der letzten beiden Tage war niedrigen dunklen Wolken und einer Schwüle gewichen, die Webster enervierend fand. Er war mit Elsa und den Kindern auf dem Spielplatz. Daniel sammelte unter dem Klettergerüst Holzspäne, die er zu drei säuberlichen Häufchen neben einer Bank aufschichtete. Er hatte seine Jacke ausgezogen und arbeitete konzentriert, hockte sich auf seinen stämmigen Kleinkinderbeinen nieder, stand auf, ging ein Stück, hockte sich wieder hin. Webster beobachtete ihn, fasziniert von seiner Entschlossenheit. Das war richtige Arbeit. Elsa saß auf der Wippe und federte mit ihrem Sitz abrupt nach unten, sodass Nancy auf ihrer Seite in die Luft gehoben wurde. Nancy lachte jedes Mal, ein verschwörerisches Glucksen.
Das Handy summte in seiner Tasche. Der Anrufer wurde als unbekannt angezeigt, und in diesem Moment fielen ihm ein Dutzend Unterhaltungen ein, die er jetzt nicht führen wollte. Er entschuldigte sich bei Elsa, ging ein paar Schritte zur Seite und nahm den Anruf entgegen.
»Ben Webster.«
»Hallo, Mr. Webster. Hier ist Philip vom Telefondienst. Wir hatten einen Anrufer auf der Hauptleitung von Ikertu, der nach Ihnen gefragt hat. Wir haben Ihre Nummer natürlich nicht weitergegeben, aber vielleicht wollen Sie ja zurückrufen.«
»Danke, Philip. Wer war es denn?«
»Ein Mr. Prock, Sir. P-R-O-C-K. Er hat eine Telefonnummer hinterlassen. In Deutschland, glaube ich.«
»Danke, ich schreibe sie mir auf.« Philip diktierte ihm zweimal langsam die Nummer. Webster tippte sie auf der Tastatur seines Handys ein.
Prock. Warum sollte Prock anrufen? Seinen Namen musste er von Gerstman erfahren haben, denn wenn er Ikertu wegen irgendetwas anderem anrufen würde, hätte er nicht speziell nach ihm gefragt. Vielleicht wusste er etwas, das Gerstman nicht verraten wollte; vielleicht wollte er ihn nur auffordern, Gerstman in Ruhe zu lassen. Vielleicht hatte er einen Job für ihn. Auch das wäre nichts Ungewöhnliches.
Webster machte Elsa Zeichen, dass er jemanden anrufen musste, und verließ den Spielplatz. Es klingelte mehrmals, bis Prock abnahm.
»Grüß Gott. Prock.«
»Mr. Prock, hier spricht Ben Webster. Sie hatten versucht, mich zu erreichen.«
»Warten Sie einen Augenblick.«
Webster konnte hören, wie sich Procks Hand über den Telefonhörer legte, dann das gedämpfte Geräusch einer Tür, die geschlossen wurde.
»Mr. Webster.« Prock hatte eine Tenorstimme mit einem dünnen, engen Klang, als ob er die Worte herauspresste. Sein Akzent war demonstrativ, sogar ein bisschen theatralisch: österreichisch, dachte Webster. »Ich bin gerade bei Nina Gerstman, Mr. Webster. Sagt Ihnen das etwas?«
Webster antwortete wahrheitsgemäß, dass dem nicht so war.
»Ich bin seit heute Morgen bei Nina Gerstman, Mr. Webster. Sie versucht zu verstehen, wer für den Tod ihres Mannes verantwortlich ist.« Prock machte eine Pause. Webster, völlig aus dem Gleichgewicht gebracht, sagte nichts, sein Kopf war leer bis auf eine vage, beklemmende Angst. »Denn jemand ist für seinen Tod verantwortlich, und ich glaube, dass Sie es sind. Ich glaube, dass Sie es sind, Mr. Webster. Ich habe es ihr nicht gesagt, weil sie nicht wissen soll, dass etwas so Triviales«, Prock, der vorher leise geredet hatte, schrie das Wort fast heraus, »etwas so Sinnloses ihren Mann umgebracht haben könnte. Was denken Sie, Mr. Webster?« Jetzt wieder leise. »Was denken Sie?«
Webster fühlte einen scharfen Schmerz in seiner rechten Schläfe. Er war auf und ab gegangen, blieb aber jetzt stehen und blickte zu Boden. Er drückte seine Hand gegen seine Augen und sah Gerstman auf dem Rücken liegen, makellos in einen Anzug gekleidet, sein weißer Hemdkragen rot von Blut.
»Ich begreife das nicht. Was ist passiert?«
»Sie wissen nicht, was passiert ist? Ich dachte, Sie wissen alles, was passiert. Ich dachte, das sei Ihr Job.« Die Leitung war einen Augenblick lang still. »Sie wissen es nicht? Dann will ich es Ihnen sagen. Vor zwei Wochen haben Sie Dmitri Gerstman bedroht, damit er sich mit Ihnen trifft. Heute Morgen in Budapest ist er getötet worden. Sie werden ohne Zweifel losrennen und den Rest herausfinden. Sehen Sie, Mr. Webster? Sie wissen nicht alles. Überhaupt nicht. Sie wissen gar nichts. Und was Sie nicht über Dmitri Gerstman wussten, hat ihn umgebracht. Sie waren es, der das getan hat. Sie waren es, der ihn gestoßen hat. Ich wollte, dass Sie das wissen.«
Webster öffnete die Augen. Eine Gruppe trainierender Läufer, jeder von ihnen mit einem Rucksack beladen, sprintete den steilsten Abschnitt von Primrose Hill hinauf, ihre Füße rutschten durch den Matsch. Asphaltwege durchschnitten das Gras; wo sie sich kreuzten, standen gusseiserne Laternenpfähle, schwarz und aufrecht. Seine Gedanken waren angeschwollen, träge, doch die Welt um ihn herum zeigte sich entnervend frisch. Er konnte Furcht und Schuldbewusstsein in seiner Kehle spüren. Aber neben seiner Angst, dass Prock irgendwie recht hatte, begann sich auch ein leises Gefühl der Ungerechtigkeit zu regen.
»Es tut mir leid. Wir haben kaum miteinander gesprochen.«
»Mehr war nicht nötig.«
Stille kehrte zwischen ihnen ein.
»Nun«, sagte Prock. »Ich kann Sie nicht verhaften lassen. Ich kann Sie nicht anzeigen. Aber ich kann dafür sorgen, dass Sie verstehen. Ich werde Ihrem Gewissen die Arbeit überlassen. Auf Wiederhören.« Die Leitung war tot.
Webster fühlte sich leer. Er schaute zum Spielplatz zurück, der nun ein paar Hundert Meter entfernt lag, und kehrte um, mit den unsicheren Schritten eines Mann, der gerade niedergeschlagen worden ist.
Als er durch das Tor ging, sah er, wie Elsa bei David hockte, der in Tränen aufgelöst war. Elsa hielt ihm ein Taschentuch an die Nase.
»Da bist du ja«, sagte Elsa. »Kannst du übernehmen? Nancy will, dass ich sie anschubse.« Sie stand auf, mit Davids Hand in ihrer eigenen. »Was ist los? Du siehst ganz blass aus.«
»Tut mir leid, ich … lieber Himmel, ich …«
»Was ist?« Sie schaute ihn besorgt an.
»Der Mann, den ich in Berlin treffen wollte …« Er zögerte, wusste nicht, wie er es sagen sollte.
»Der nicht reden wollte?«
Webster nickte. »Er ist tot. Das war gerade sein Partner.«
»Lieber Gott. Wie?«
»Das hat er nicht gesagt.«
»Komm her.« Sie nahm seine Hand und zog ihn zu sich, er legte seinen Kopf für einen Moment an ihren. Daniel gab ein wimmerndes Geräusch von sich. »Das ist ein ziemlicher Schock. Weißt du was? Lass uns nach Hause gehen. Du brauchst eine Tasse Tee.«
Er zog sich etwas von ihr zurück und sah sie an. »Danke, Schatz, aber … Ich sollte mit Ike reden. Er hat gesagt, es ist meine Schuld.«
»Ike?«
»Nein, um Himmels willen, nein, der Anrufer. Er scheint zu denken, dass Gerstman noch am Leben wäre, wenn ich mich nicht mit ihm getroffen hätte.«
»Daniel, sei mal still – nur ganz kurz. Aber das ist doch Unsinn. Du weißt nicht einmal, wie er gestorben ist.«
»Nein. Ich weiß es nicht. Ich muss Ike sehen. Tut mir leid. Ich … kommst du hier alleine zurecht?«
»Natürlich. Soll ich dich hinfahren?«
»Nein, danke. Ich glaube, ich gehe lieber zu Fuß. Ist das okay?«
Sie nahm wieder seine Hand. »Was ist, wenn Ike nicht da ist?«
»Er wird da sein.«
»In Ordnung. Sei vorsichtig. Und lass dich um Himmels willen nicht von einem Lastwagen überfahren.« Sie sah ihn an und drückte seine Hand, dann ließ sie ihn los.
Es dauert etwa eine halbe Stunde, vom Primrose Hill zum Well Walk in Hampstead zu laufen. Trotz seines dringenden Bedürfnisses zu verstehen, was geschehen war, ging Webster langsam und brauchte vierzig Minuten. Er wollte sich wieder fangen, bevor er Hammers Haus erreichte, und einige Telefonate führen. Während er lief, suchte er zunächst über sein Handy im Internet nach Nachrichten über Gerstmans Tod. Nichts. Dann rief er Istvan in Budapest an und bat ihn, bei seinen früheren Kollegen von der Polizei so viel wie möglich herauszufinden. Er rief Leute in Deutschland an, um zu erfahren, ob die Nachricht dort schon angekommen war. Er durchforschte sein Gedächtnis, wen er noch anrufen könnte, als ob er durch das Auswerfen aller denkbaren Angelschnüre die Chancen erhöhen würde, herauszufinden, dass ihn keine Schuld traf. Aber es gab niemanden sonst. Er musste einfach warten.
Procks Theorie war natürlich nicht logisch. Wenn Gerstman tatsächlich etwas verraten hätte, wenn ihr Treffen geheim oder in irgendeiner Weise bedeutsam gewesen wäre, dann würde sie vielleicht einen Sinn ergeben. Gerstman musste Dinge gewusst haben – schließlich war das der Grund gewesen, warum Webster mit ihm reden wollte –, aber genug, um ihn zu einer Gefahr zu machen? Es erschien so unwahrscheinlich. Diese wachsende Beklemmung war genauso wenig logisch, dennoch wuchs sie. Er stellte sich vor, wie Gerstman von schattenhaften finsteren Männern verfolgt und schließlich erschossen, erwürgt oder vergiftet wurde, und wie seine gebräunte Haut blass und steif wurde. Webster war zu langsam gewesen und auch zu dumm; zu dumm, um zu begreifen, dass die Gewalt so nahe lauerte. Das war es natürlich, was Inessas Artikel ihm hätte sagen sollen. Der Artikel war ein Zeichen, das er geradezu mutwillig ignoriert hatte.
Er ging bergauf durch immer ältere und grünere Straßen in Richtung Hampstead, die Welt um ihn herum kurz vor Einbruch der Dämmerung immer noch lebhaft, die Farben kräftig. Mangels genauer Fakten liefen in seinem Inneren die Ideen und Bilder durcheinander. Inessa, die von uniformierten Männern aus ihrem Hotelzimmer gezerrt wurde, Gerstman, der von dunklen, gestaltlosen Formen aus dem seinen gezogen wurde. Diese Geschichten passten zusammen, sie waren aus einem Guss.
Hammers Haus schien zwischen seinen Nachbarhäusern zu leuchten. Es war ein viergeschossiges Backsteingebäude mit Dachgeschoss, das die Haushälterin bewohnte; drei Jahrhunderte alt und schmal. Der helle Zement und die sauberen roten Backsteine gaben ihm ein beinahe koloniales Aussehen. Die meisten Fenster waren georgianisch, aber ein großer hölzerner Erker, weiß gestrichen und mit drei Kielbogenfenstern, hing im zweiten Stock über der Straße. Das Haus war viel zu gewaltig für Hammer, dachte Webster, der ihn um die Lage und den wunderbaren, feudalen Blick über London in Richtung City beneidete. Unten im flachen Kensal Green würde man das als wirkliche Pracht betrachten. Er hatte sich oft gefragt, ob das ganze Haus genutzt wurde; er hegte den Verdacht, dass viele Räume einfach nur alte Zeitungen und Bücher über historische Feldzüge beherbergten. Gab Hammer Partys? Hatte er Hausgäste? Bestimmt nicht.
Energisch betätigte Webster den Türklopfer. Hammer öffnete. Das war seltsam, weil seine Haushälterin Mary normalerweise montags frei hatte, nicht sonntags. Webster, der das bemerkte, fragte sich gereizt, was passieren musste, um seine Angewohnheit, belanglose Dinge zu registrieren, auszuschalten.
»Ben. Kommen Sie herein.« Hammers Gesicht ließ nur eine Andeutung von Überraschung erkennen, ein kaum wahrnehmbares Stirnrunzeln. Webster war dankbar für die einfache Begrüßung. Er wollte nicht hören, dass er schrecklich aussah, oder gefragt werden, was los sei. Hammer trug eine dicke Strickjacke in schlammfarbenem Beige mit Schalkragen und hatte sich die Brille auf die Stirn geschoben. Er führte Webster in sein Arbeitszimmer. Rechts und links vom Kamin stand je ein Sessel, auf einem niedrigen Tisch bei dem weiter entfernten der beiden lag, neben einer billigen Leselampe, ein dickes Buch, aufgeschlagen und mit der Schriftseite nach unten. Alte Eichenregale voller Bücher säumten die Wände, und ein Großteil des Bodens war von aufstrebenden Büchertürmen bedeckt. Dazwischen stapelten sich Zeitungen, Zeitschriften und Magazine. Im Kamin lag Holz für ein Feuer, das aber noch nicht brannte. Der Raum war kalt. Hammer setzte sich in seinen Sessel, und Webster nahm ihm gegenüber Platz. Er ließ den Mantel an.
»Wo wollen Sie anfangen?«, fragte Hammer, der wie immer die richtige Frage stellte. Webster erzählte ihm von dem Anruf und von Gerstman; er beschrieb noch einmal so detailliert wie möglich den Inhalt ihres Treffens in Berlin und schilderte Procks Vorwurf, Procks Wut und seine eigenen Versuche zu entscheiden, ob an den Vorwürfen etwas dran sein könnte, er berichtete über seine Telefonate nach Berlin und Budapest. Das Ordnen seiner Gedanken ließ ihn ruhiger werden.
Als er fertig war, schwieg Hammer einen Moment lang. Er setzte seine Brille ab und säuberte sie mit einem Tuch.
»Mary ist einkaufen gegangen«, sagte er, während er die Brille wieder aufsetzte. »Wir haben keine Milch mehr. Wenn sie zurückkommt, kann sie uns einen Tee machen.« Er schaute Webster eine Weile an, dann sagte er: »Lassen Sie uns zuerst über Sie reden. Dann über den Fall.« Er nahm seine Brille ab und legte sie auf den Tisch neben seinem Sessel. »Wir werden bald herausfinden, wie er gestorben ist. Vielleicht war es kein Mord. Wenn es ein Mord war, dann sollte die Methode auf das Motiv hinweisen. Wenn er von einer Frau erschossen wurde, ist das eine Sache; wenn er mit Hilfe eines Regenschirms vergiftet wurde, eine andere. Angenommen, Letzteres trifft zu, was bedeutet das dann für Sie? Procks Theorie scheint zu sein, dass Gerstman etwas Gefährliches wusste und von jemandem umgebracht wurde, der befürchtete, er wolle es verraten. Ihnen. Oder es irgendwann später verraten. Halten wir das mal fest. Sie haben kaum mit dem Burschen gesprochen, also waren die Leute, die ihn umbringen ließen, bereits vorher nervös. Die Waffe war schon entsichert. Deshalb ist Ihre Rolle minimal, beinahe zufällig. Es hätte ein Journalist sein können oder ein anderer Detektiv – oder irgendeine zufällige Begegnung, die falsch interpretiert wird. Was übrigens möglicherweise auch zu Ihrem Treffen mit Gerstman passt.« Er lehnte sich mit übergeschlagenen Beinen zurück und spielte mit einem Bleistift. »Vielleicht hatte man so oder so vor, ihn zu töten. Also waren Sie schlimmstenfalls der Katalysator, aber nicht die Ursache, und das Ganze war so empfindlich, dass Sie nicht wissen konnten, was Sie auslösen. Wie eine Landmine mit fehlerhaftem Mechanismus – Sie sind einfach zufällig zu nahe gekommen. Immer angenommen natürlich, dass Sie etwas ausgelöst haben.«
Er machte eine Pause und schaute Webster mit völlig offenem Gesichtsausdruck an. »Also haben Sie ihn nicht umgebracht. Das ist wirklich wichtig, Ben. Ich sage nicht nur, dass jemand anderes ihn erschossen oder erstochen hat. Was ihn umgebracht hat, war schon Jahre vor diesem Tag in seinem Leben.«
»Ich war übereifrig und bin wie ein Elefant im Porzellanladen herumgetrampelt. Aus Eigeninteresse. Ich war der Auslöser.«
»Hören Sie, ich habe Ihnen gesagt, Sie sollen sich mit ihm treffen, stimmt’s? Und zwar je eher, desto besser. Und ich werde mich nicht schuldig fühlen, falls sich herausstellt, dass Prock recht hat. Was wir, nebenbei, vielleicht niemals mit Sicherheit wissen werden, so wie das bei solchen Dingen oft ist. Und warum fühle ich keine Schuld? Ich habe Dmitri Gerstman nicht mit Konstantin Malin bekanntgemacht. Ich habe ihn nicht dazu gedrängt, einen Job anzunehmen, der ihn in dem Moment der Gefahr ausgesetzt hat, als er ihn annahm. Ich habe ihm nicht eingeredet, dass er das hinter sich lassen könnte. Das hat ihn umgebracht.« Hammer lächelte. »Natürlich nur, wenn es wirklich das ist, was ihn umgebracht hat.«
Webster hörte, wie ein Schlüssel in der Haustür umgedreht wurde. Gleichzeitig begann sein Telefon zu läuten. Unbekannte Nummer. Er schaute Hammer an und nahm den Anruf entgegen.
»Hallo«, sagte die Stimme in der Leitung. »Hier ist Istvan.«
Webster legte seine Hand über das Telefon, sagte Hammer, um wen es sich handelte, und verließ das Zimmer. Er schaffte es, Mary anzulächeln, als er im Flur an ihr vorbeiging, und betrat das Esszimmer. Zehn Minuten später kehrte er in Hammers Arbeitszimmer zurück und berichtete.
Dmitri Gerstman war um 2:37 Uhr vom Dach des Hotel Gellért in Budapest gefallen und sofort tot gewesen. Die Todesursache hatte man noch nicht offiziell bestimmt, doch erste Untersuchungen legten nahe, dass er an den Folgen des Sturzes gestorben war. Er war nicht im Gellért abgestiegen, sondern im Four Seasons. Dort hatte er am Freitagmorgen eingecheckt und sollte am Dienstag wieder auschecken – er hatte an diesem Tag einen Flug um 18.55 zurück nach Berlin gebucht. Er schien vom Dach des Gebäudes gefallen zu sein und nicht aus einem der Zimmer, obwohl die Tests, die klären sollten, aus welcher Höhe er gefallen war, noch ausstanden. Die Polizei hatte an keiner der möglichen Stellen des Sturzes Anzeichen für einen Kampf gefunden. Niemand von der diensthabenden Hotelbelegschaft erinnerte sich, gesehen zu haben, wie er das Hotel betrat; es erinnerte sich überhaupt niemand daran, ihn in dem Hotel gesehen zu haben. Die Gäste waren noch nicht systematisch vernommen worden. Er hatte keine Nachricht hinterlassen, seiner Frau aber von seinem BlackBerry aus eine halbe Stunde vor seinem Tod eine E-Mail geschickt. Die Nachricht besagte einfach: »Auf Wiedersehen. Es tut mir leid. Dmitri.« Als die Berliner Polizei Mrs. Gerstman gegen 8:30 morgens vom Tod ihres Mannes informierte, hatte sie die Mail bereits erhalten und versucht, ihn auf seinem Handy und im Four Seasons zu erreichen. Sie hatte die deutsche Polizei verständigt. Das BlackBerry selbst war zerschmettert in seiner Jackentasche gefunden worden. Er hatte einen Anzug getragen, aber keinen Mantel, obwohl es eine kalte Nacht gewesen war.
»Warum war er dort?«, fragte Hammer.
»In Budapest? Das ist ein bisschen verworren. Die Deutschen haben mit seiner Frau und mit Prock gesprochen, aber ich glaube, da ist einiges bei der Übersetzung verloren gegangen. Er hatte zwei Klienten in Ungarn, einen in Budapest, den anderen in Miskolc. Mit einem von ihnen war er am Freitag essen, leider ist nicht klar, mit welchem. Er hatte in seinem Terminplaner Meetings am Montag und Dienstag vermerkt, weitere Informationen habe ich nicht.«
»Und was hat er an diesem Abend gemacht?«
»Das wissen sie noch nicht. Sie versuchen gerade, es zu rekonstruieren. Ich habe Istvan gebeten, das im Auge zu behalten.«
Sie saßen einen Moment lang schweigend da. Webster wurde klar, dass ihm, auch wenn es lächerlich war, Hammers Schlussfolgerung viel bedeutete. Sie enthielt die Verheißung einer Absolution.
»Hört sich das für Sie nach Selbstmord an?«, fragte Hammer.
Webster seufzte. »Nein. Nein, das tut es nicht. Kann man seinen Abschiedsbrief mailen? Vermutlich. Der fehlende Mantel irritiert, aber wer sich umbringen will, denkt vielleicht nicht an einen Mantel. Ich weiß es nicht. Ein Hotel ist irgendwie ein komischer Ort für so etwas. Besonders dann, wenn man eigentlich in einem anderen Hotel wohnt. Warum hat er sich nicht aus seinem eigenen Fenster gestürzt?«
»Vielleicht hatte er schon mal ein schlechtes Erlebnis im Gellért.«
»Vielen Dank.«
»Tut mir leid. Was war er für ein Mensch? Passte Selbstmord zu ihm?«
»Er war nicht gerade vergnügt, aber … ich weiß nicht. Er war fit. Sichtbar fit. Wie ein leidenschaftlicher Läufer oder Ruderer oder so. Doch vor allem erschien er mir getrieben. Entschlossen.«
»Depressiv?«
»Überhaupt nicht. Rückblickend würde ich sagen, dass er eindeutig vor etwas Angst hatte, aber deprimiert? Nein. Nein, da bin ich mir ziemlich sicher.«
Hammer kaute auf seinem Bleistift. Dann stand er auf, suchte auf dem Kaminsims, fand Streichhölzer und ging in die Hocke, um das Feuer anzuzünden. Ein einziges Streichholz reichte aus, um das zusammengeknüllte Zeitungspapier zu entflammen. Er erhob sich und sah zu, wie das Anmachholz knisterte und zu brennen begann.
»Hätte ich schon machen sollen, als Sie reinkamen. Sorry. Wollen Sie Ihren Mantel ausziehen? Nein?« Er setzte sich wieder in seinen Sessel, schaute einen Moment lang zur Decke und schloss die Augen. So blieb er vielleicht eine Minute lang sitzen, dann wandte er sich Webster zu.
»Warum Eigeninteresse?«
»Was?«
»Sie haben gesagt, Sie wären übereifrig gewesen. Warum?«
Webster sah weg und betrachtete einen Moment lang das Feuer, nahm seine Armbanduhr ab und rieb sein Handgelenk. Diesen Punkt hatte er nicht mit Ike besprechen wollen, aber er hatte sich noch nicht gefragt, warum. Jetzt wusste er es: Es war dumm, und er fühlte sich leicht beschämt.
»Unwichtig.«
»Ist es Inessas Artikel?«
Webster nickte. »Es fällt schwer, das zu ignorieren.«
Hammer wartete, bis Webster aufschaute. »Sie denken nicht gradlinig. Sie werden nie erfahren, wer sie getötet hat, es sei denn, jemand verrät es Ihnen. War es Malin? Er ist ein Kandidat, natürlich. Trotzdem, es liegt zu lange zurück. Sie werden es niemals erfahren. Aber bei diesem Fall – Sie hätten Gerstman sowieso aufgesucht. Zu unserem Job gehört es, Malin zu stürzen, egal, was er vor zehn Jahren getan hat. Das ist wahrscheinlich die einzige Art von Gerechtigkeit, die Sie jemals bekommen werden.«
Webster hielt seine Armbanduhr in der Hand und beobachtete, wie der Sekundenzeiger eine Umdrehung absolvierte, bevor er sie wieder über die Hand streifte, den Verschluss zusammendrückte und sich in seinem Sessel zurücklehnte. Hammer sprach weiter.
»Mich würde es wundern, wenn er sich umgebracht hätte. So oder so sollten Sie sich keine Vorwürfe machen, aber das werden Sie, zumindest eine Zeit lang. Wichtig ist, was mit Lock geschieht. Wenn Sie Gerstman einem Risiko ausgesetzt haben, dann schwebt auch Lock in Gefahr. Und er wird das wissen. Er wird Angst haben. Vielleicht ist das der Grund, warum Gerstman sterben musste. Also stehen wir vor einer Entscheidung. Üben wir weiter Druck auf Lock aus? Oder lassen wir ihn in Ruhe, obwohl wir vielleicht die Chance sind, die er auf eine Zukunft hat?«
Erst jetzt begriff Webster, dass dies natürlich der Punkt war, an dem dieses Gespräch enden musste: damit, dass er einwilligte, an dem Fall weiterzuarbeiten oder aber ihn für immer zu den Akten zu legen. Er war hergekommen, weil er hören wollte, dass Gerstmans Tod nicht seine Schuld war. Er hatte überhaupt nicht an seine Verantwortung gegenüber Lock gedacht.
Hammer wartete geduldig auf seine Antwort. Was er hören wollte, war Webster klar: Man darf niemals zurückweichen. Man muss immer zu Ende bringen, was man angefangen hat.
»Ich denke, dass wir aufhören sollten, daran zu arbeiten«, sagte er schließlich. Hammer, dessen Gesicht von den Flammen erleuchtet wurde, schwieg. »Ich will keine weiteren Landminen mehr zur Explosion bringen. Kein Einmischen mehr. Ich glaube, wir hätten wissen sollen, wie groß die Sache ist. Es tut mir leid.«
Webster stand auf, entschuldigte sich noch einmal und verließ das Zimmer und Hammers Haus. Draußen war es dunkel. Er machte sich auf den Weg nach Hause, den Hügel hinunter und drei oder vier Kilometer in westlicher Richtung. Kein Einmischen mehr. Diese rücksichtslose Kampagne war vorbei, die Verluste bereits zu groß.
In dieser Nacht träumte er kurze, drastische Träume, die nie zu einer Auflösung fanden. In einem saß er mit Lock in einem Ruderboot auf einem schmalen Fluss im Schatten von Bäumen. Er hielt die Ruder und ruderte mit langsamen, regelmäßigen Schlägen, während Lock, der ihm in schwarzem Anzug mit hängender roter Fliege gegenübersaß, fröhlich über sein Leben in der Südsee sprach, als wäre er Stevenson oder Gauguin. Dann verzog Lock das Gesicht und griff nach den Seiten des Bootes; Webster hatte das Gefühl, hintenüberzukippen, als der Fluss hinter ihm steil nach unten abfiel. Er erwachte mit schweißnassem Hinterkopf.