7
Nach Gerstmans Tod fing Locks Fantasie wieder an zu arbeiten. Sie war nie besonders aktiv gewesen, doch in Russland hatte sie irgendwann, ohne dass er es bemerkt hatte, einfach abgeschaltet. Er hatte sie nie wirklich gebraucht oder gar vermisst, doch als er herausfand, was Dmitri Gerstman zugestoßen war, erwachte sie unaufhaltsam zum Leben, so sehr er auch dagegen ankämpfte.
Die Szene lief jedesmal rückwärts ab, in mehreren Schritten. Er hörte einen Gast schreien. Er sah die Portiers mit Koffern in der Hand stehen bleiben. Er sah den zerschmetterten Körper auf dem Steinpflaster vor dem Hotel, gekleidet in einen dunklen Anzug, der immer noch seltsam makellos wirkte. Er hörte den kurzen, schweren Aufprall, mit dem er auf dem Boden aufschlug. Doch am lebhaftesten war das Bild von Gerstman in der Luft, fallend, nicht sehr tief, ungefähr fünfzehn Meter, vielleicht nur eine oder zwei Sekunden lang. Das Bild saß unauslöschlich in seinem Kopf, und er fragte sich, ob sein Freund während seines Sturzes gewusst hatte, dass sein Tod, wie jeder vernünftige Mensch annehmen musste, kein Unfall war.
Als er am Tag, nachdem er diese Nachricht bekommen hatte, zu seinem regelmäßigen Treffen mit Malin aufbrach, erfüllte diese Szene sein Denken, intensiv und unablässig. Er konnte nicht viel berichten: Die Internetseiten der Zeitungen meldeten lediglich, dass Dmitri gestürzt und gestorben war und dass der Verdacht bestand, Alkohol habe eine Rolle gespielt. Die Polizei hielt es für einen Selbstmord. Lock nicht.
Locks Büro war in der Koschewnitscheski Pereulok, drei Kilometer flussabwärts vom Kreml und dem Industrie- und Energieministerium. Jeden Dienstagabend um Viertel nach sieben ging er nach unten, und sein Fahrer brachte ihn ins Ministerium. Dort erstattete er ab acht Uhr Malin Bericht über die Woche, immer in der gleichen Reihenfolge: Ereignisse, Chancen, Gefahren. Das Meeting dauerte eine halbe Stunde, manchmal eine Dreiviertelstunde. Früher, bevor Malin zu dem Mann geworden war, der er war, hatten sie anschließend zusammen gegessen, aber schon seit einigen Jahren ließ sich Lock danach einfach von seinem Fahrer heimfahren.
An diesem Abend jedoch hatte er das Bedürfnis zu laufen. Das war ungewöhnlich. Er war kein großer Fußgänger und Moskau auch nicht das richtige Pflaster für einen zwanglosen Spaziergang. Doch nachdem er den ganzen Tag lang gesessen und sich Sorgen gemacht hatte, taten ihm Kopf und Rücken weh, und er hatte das Bedürfnis nach Luft und Bewegung. Außerdem wollte er jemanden anrufen.
Er ging in Richtung Fluss, und ab der Nowospasski-Brücke am Westufer entlang in nördlicher Richtung. Der erste Frost lag in der Luft, und sein dünner Regenmantel bot kaum Schutz. Er beschleunigte seine Schritte, um warm zu bleiben. Die Autoschlangen neben ihm bliesen ihren grauen Atem in die Luft, und am gegenüberliegenden Ufer waren durch die struppigen, kahlen Bäume hindurch die niedrigen weißen Mauern des Nowospasski-Klosters zu sehen, die in der Dunkelheit von spärlichem Flutlicht bernsteinfarben erleuchtet wurden. Doch die Kälte wirkte belebend, und Lock musste daran denken, dass in solchen Nächten, wenn nach dem stickigen Sommer die erste wirkliche Kälte in die Stadt eindrang, selbst er ihre Schönheit sehen konnte.
Er zog eines seiner Handys aus der Jackentasche und suchte die Nummer seines Vaters heraus. Heute war sein Geburtstag. Lock hätte ihn schon morgens anrufen sollen, hatte es aber aufgeschoben. Irgendwie erschien es ihm unpassend, von seinem Büro aus mit seinem Vater zu sprechen, so als würde man aus dem Bett der Geliebten zu Hause anrufen.
Er drückte den Knopf, und nach einer langen Pause ertönte das Klingelzeichen.
»Hallo met Everhart.«
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Vater. Hier ist Richard.« Lock sprach Englisch mit seinem Vater, sein Holländisch war seit seiner Kindheit ziemlich eingerostet.
»Dank u, Richard. Schön, dass du anrufst.«
»Das ist doch selbstverständlich. Wie geht’s dir?«
»Mir geht es gut, danke.« Everhart neigte am Telefon dazu, sich kurzzufassen. Er betrachtete es als ein Gerät zum Informationsaustausch, nichts weiter.
»Hast du meine Karte bekommen?«
»Das habe ich. Danke.«
Es hatte eine Zeit gegeben, in der der neureiche Lock seinem Vater teure Geschenke gekauft hatte: eine Armbanduhr, einen Füllfederhalter. Nach dem dritten Jahr hatte sein Vater durchblicken lassen, dass er nichts brauchte, und ihn gebeten, damit aufzuhören.
»Hattest du einen guten Tag?« Locks Hand war in dem Wind, der von Norden her den Fluss entlangblies, schon steif vor Kälte.
»Ja. Ich bin nach Zandvoort gelaufen.«
»Aber hoffentlich nicht hin und zurück?« Zandvoort lag mindestens zwanzig Kilometer von Noordwijk entfernt.
»Zurück habe ich den Bus genommen. Es war ein wunderschöner Tag.«
»Gut. Das freut mich. Was ist heute Abend? Unternimmst du etwas?«
»Maartje kommt und kocht für mich.« Maartje lebte in Noordwijk. Lock hatte den Eindruck, dass sie und sein Vater sich oft sahen.
»Schön. Also, alles Gute.«
»Danke für den Anruf, Richard. Auf Wiederhören.«
»Auf Wiederhören.«
Einen Augenblick lang spürte Lock diesen Rest von Traurigkeit, den er immer fühlte, wenn sie miteinander sprachen. Er hatte keine Ahnung, ob dieser Anruf seinen Vater erfreut oder ebenfalls traurig gemacht hatte. Es war diese Unergründlichkeit, die er so ermüdend fand.
Doch das reichte nicht aus, um ihn von den Gedanken an Gerstman und Malin abzulenken, die ihn den ganzen Tag lang beschäftigt hatten. Verschiedene Fragen drängten sich ihm auf, aber eine kehrte immer wieder: Warum sollte Malin Gerstmans Tod wollen? Warum sollte er, der in Russland so mächtig und sicher war, den Tod seines früheren Untergebenen wollen? Es war Jahre her, dass Dmitri gegangen war, und er hatte nie irgendetwas getan, das den Verdacht nahelegte, er könnte eine Bedrohung darstellen. Dazu war er viel zu klug.
Zwanzig Minuten später, inzwischen stach die Kälte in seinem Gesicht, überquerte er den Fluss, und die gewaltige, undurchdringliche rote Mauer des Kreml kam in Sicht. So vieles von Moskau vermittelte den Eindruck einer Festung. Die ganze Stadt konnte einem wie eine Burg vorkommen, der Kreml war der Burgfried, der Rest ein riesiger Burghof voller Bauern, die ihre Ehrerbietung erweisen. Er dachte, vielleicht hat Malin trotz dieses bestimmten Angstgefühls in meinem Magen mit all dem nichts zu tun. Schließlich wusste niemand genau, was Dmitri in Berlin getan hatte; er hatte genug Zeit gehabt, sich dort Feinde zu machen. Als Lock beim Ministerium ankam, einem völlig unscheinbaren Gebäude hinter der riesigen Baulücke, die einmal das Hotel Rossija gewesen war, hatte er sich selbst überzeugt, dass es für Malin keinen Sinn ergab, Gerstman zu töten. Es war nicht logisch, und Malin war immer logisch.
In der Lobby erklärte er einem Wachmann hinter einer Glasscheibe den Grund seines Besuchs und händigte seinen Pass aus. Er ging durch einen Metalldetektor und wurde von einem weiteren Wachmann zwei Treppen hinauf und einen breiten, kahlen Korridor entlang zu Malins Büro begleitet. Er kannte den Wachmann, und alle Wachmänner kannten ihn.
Er war ein wenig zu früh. Er setzte sich auf seinen gewohnten Stuhl im Vorzimmer, wartete und machte sporadisch Small Talk mit Malins Sekretärin. Um fünfundzwanzig Minuten nach acht öffnete sich Malins Tür, und ein schmaler, gerissen aussehender Mann mit einer Aktentasche unter dem Arm trat heraus. Seine Haltung war leicht gebeugt, und durch die Anstrengung des ständigen Aufblickens sah sein Hals unnatürlich angespannt aus.
»Alexej.«
»Richard.« Sie schüttelten sich die Hände. Es war Alexej Tschechanow, Locks Pendant. Was Lock offshore regelte, besorgte Tschechanow in Russland. Er führte Malins Geschäfte dort, er hatte zwar keinen offiziellen Titel, doch letztlich war er Geschäftsführer der geschlossenen Aktiengesellschaft Malin Enterprises. Soweit Lock es sich im Lauf der Jahre aufgrund von Beobachtungen zusammengereimt hatte – es war ihm nie erklärt worden –, verdiente Tschechanow für Malin in Russland Geld und überwachte, wie es angelegt wurde. Wenn ein ausländisches Ölunternehmen mehr als nötig für eine Förderlizenz bezahlte, setzte Tschechanow den Preis fest und wickelte die Sache ab. Musste der entstandene Profit investiert werden, brachte Tschechanow ihn klug unter. Wenn dieses Investment verloren zu gehen drohte, war er es, der dafür sorgte, dass es nicht so weit kam. Er hatte die bei Weitem wichtigere Position inne, dennoch hatte er den Anstand, Lock als ebenbürtig zu behandeln.
»Hat lange gedauert heute«, sagte Lock. »Wie geht es ihm?«
»Wir hatten viel zu besprechen. Momentan haben wir jede Menge zu tun.«
»Sie auch? Alles in Ordnung, hoffe ich?«
»Ja, alles ist gut. Wir müssen uns bald einmal treffen. Es gibt Dinge, die wir bereden müssen.«
»Etwas Interessantes?«
»Es ist immer interessant. Ein Unternehmen in Bulgarien. Vielleicht etwas zu verkaufen in Kasachstan. Wir werden sehen.«
»Gut. Rufen Sie mich an.«
»Sehr gut. Sie müssen reingehen.«
»Stimmt. War schön, Sie zu sehen, Alexej.«
Lock streckte Tschechanow ein wenig unbeholfen seine Hand hin, und dieser schüttelte sie erneut. Lock klopfte leise an Malins Tür und ging hinein. Das Büro war weder groß noch opulent. Malin las in einigen Papieren, die vor ihm auf dem Schreibtisch ausgebreitet lagen, der ansonsten leer war: ein Glas Wasser, eine Reihe Stifte, kein Computer. An der Wand hinter ihm hingen zwei Fotos: Auf einem schüttelte er Jelzin die Hand, auf dem anderen Präsident Putin. Ein dritter Bilderrahmen enthielt seinen Verdienstorden des Vaterlandes, ein achtzackiger Stern mit doppelköpfigem Adler in Gold in der Mitte.
»Guten Abend, Richard.« Malin sah nicht auf. »Bitte, setzen Sie sich.«
Lock schaute ihm zu, wie er las. War das ein böser Mensch? Was lag hinter diesen ausdruckslosen Augen? Eine schwarze Seele? Kalter Hass? Effizienz, dachte Lock. Die zielstrebige Entschlossenheit, sein Ziel zu erreichen. Welches Ziel, hatte er nie erfahren.
Malin beendete seine Lektüre und legte das Dokument mit leichter Hand zur Seite.
»Wie geht es Ihnen, Richard?«
»Mir geht es gut, danke. Ein bisschen erschüttert. Sie wissen schon. Aber gut.«
»Es war ein großer Schock. Er war jung, und es war nicht seine Zeit. Es ist nie angenehm, wenn so etwas passiert.«
Malin machte eine Pause und schaute Lock an, der gegen seinen Willen den Blick auf seinen Schoß senkte. »Ich habe nichts Neues gehört seit gestern.«
»Ich befürchte, ich habe nicht allzu viel herausgefunden. Wie es aussieht, ist er vom Dach des Hotels Gellért in Budapest gestürzt. Die Polizei hält es für Selbstmord. Ich weiß ehrlich gesagt kaum mehr als das. Ich warte auf einen Anruf von Oberst Baschajew.«
Malin erwog die Information einen Augenblick lang.
»Wenn Dmitri eine Schwäche hatte«, sagte er schließlich, »dann war es, dass er das Geschäft emotional betrieb. Er war in allem emotional.«
Lock wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Es erschien ihm unfair Gerstman gegenüber, den er als eifrigen Realisten eingeschätzt hatte.
»Haben Sie Blumen geschickt?«, fragte Malin.
»Ja«, sagte Lock. »An sein Büro.«
»Gut. Gut. Es hat mir leidgetan, Dmitri zu verlieren. Er war ein effizienter Arbeiter. Doch im Geschäftsleben ist es wichtig, einen kühlen Kopf zu bewahren, und das hat er nicht, wie ich glaube. Das hat er nicht.« Malin schüttelte leicht den Kopf, eine Geste des wohlüberlegten Bedauerns. »Daran müssen Sie sich erinnern, Richard, besonders jetzt.«
Malins Blick schien tiefer zu werden. Lock, der sich darin einen Moment lang verloren fühlte, brachte nur ein schwaches »Ja« heraus.
»Verstehen Sie?«
»Ich verstehe. Sie wissen, dass ich das verstehe.«
»Ich weiß, dass Sie es verstehen.« Malin ließ Lock sich noch ein oder zwei Sekunden unter seinem Blick winden, dann fragte er: »Wann ist Paris?«
Paris. Gott, er hatte Paris ganz vergessen. Ein oder zwei Tage unter Eid lügen. Vor Publikum.
»Das ist nächste Woche. Morgen fliege ich nach London und mache einen letzten Durchlauf mit Kesler.«
»Wie geht es Mr. Kesler?«
»Gut, denke ich.« Er hatte in der vergangenen Woche dreimal mit Kesler telefoniert; jedes Mal, um neues Material durchzusprechen, das Lock sich einverleibt haben musste, bevor er in den Zeugenstand trat. Zum ersten Mal, seit sie sich kannten, hatte Kesler entnervt geklungen; er hatte sich mit den Worten verabschiedet, sie hätten in London viel Arbeit vor sich. Hatte er das Malin auch direkt gesagt? »Er scheint zu denken, dass wir das Tribunal davon überzeugen können, dass Tournas Klage unbegründet ist. Wollen wir es hoffen.«
»Aber er erwartet, dass Sie über die Fakten befragt werden?«
»Fast sicher, ja.«
»Und Ihre Position wird sein, dass ich nicht existiere?«
»Unsere Position – meine Position wird sein, dass Faringdon mir gehört.«
»Wie haben Sie es erworben?«
»Faringdon? Nun, man kann die Geschichte über alle Unternehmen hinweg zurückverfolgen, bis hin zu Arctec. Alles trägt meinen Namen. Nach außen gehört mir ohnehin alles, schon immer.«
Malin stützte die Ellbogen auf den Tisch, faltete die Hände und legte seinen Kopf darauf. Er dachte einen Moment nach.
»Das macht Sie zu einem großen Mann in Russland.«
»Die andere Seite kann nicht beweisen, dass ich das nicht bin.« Lock wusste, was er meinte. Wer würde so etwas glauben? »Das ist das Entscheidende.«
»In Ordnung. In Ordnung. Gibt es mehr über Tourna?«
»Nichts Interessantes. Ich werde mich diese Woche mit den Jungs in London treffen. Baschajew hat mir große Dinge versprochen, wenn ich zurückkomme.«
»Es wäre gut gewesen, vor Paris etwas zu haben.«
Malin knetete mit den Daumen die Haut an seinem Kinn. Dann lehnte er sich zurück und schaute Lock unverwandt an. »Sie haben lange und hart dafür gearbeitet, Richard, aber in einem einzigen Moment kann so viel zerstört werden. Ein ganzes Leben kann zerstört werden. Für Sie und für mich.«
Lock antwortete nicht.
»Ich glaube, das ist alles, Richard. Konzentrieren Sie sich auf Paris. Lassen Sie sich nicht von Dmitris Tod ablenken.«
Lock sagte, das werde er nicht tun, stand auf, versprach, in vierzehn Tagen wiederzukommen, und ging. Auf dem Weg zur Tür konnte er Malins Augen in seinem Rücken spüren, und ein Schauer überlief ihn. Ein zerstörtes Leben.
Baschajews Anruf erreichte Lock am nächsten Morgen in seinem Büro. Er bestätigte, was Lock bereits wusste, und fügte einige neue, verstörende Details hinzu. Eine Autopsie hatte ergeben, dass Gerstman einen Blutalkoholspiegel von vier Promille gehabt hatte – damit musste er mehr oder weniger bewusstlos gewesen sein. Um Mitternacht, rund zwei Stunden vor seinem Tod, war er im Black Cat gesehen worden, einer Schwulenbar, die rund zehn Minuten vom Gellért entfernt lag. Er hatte überdreht gewirkt, laut einem Zeugen »völlig außer sich«. Niemand war bei ihm. Die Polizei hatte nicht ermitteln können, wann er den Club verlassen oder was er getan hatte, bevor er ins Gellért kam. Fünf Minuten vor seinem Sprung hatte er seiner Frau einen Abschiedsbrief gemailt. Die Polizei war mittlerweile überzeugt, dass es sich um Selbstmord oder um einen Unfall handelte, und plante keine weiteren Ermittlungen.
Für Lock, der die ganze Nacht damit verbracht hatte, über Malins Worte zu brüten und sich immer wieder einzureden, dass er nun mehr denn je unverzichtbar war, bedeutete diese Nachricht einen Schock. Dmitri trank nicht. Das hatte er nie getan. Lock hatte ihn nie auch nur ein einziges Bier trinken sehen. Er war dafür in Malins gesamtem Team bekannt gewesen. Konnte er wirklich schwul sein? Er war in Moskau nie heimisch geworden, das stimmte: Immer wenn Lock ihn dort traf, hatten ihn die Leute damit aufgezogen, dass er joggte, dass er elegante Anzüge trug, dass er keinen Wodka trank. Lock stellte sich vor, wie andere, die Gerstman gekannt hatten, beim Hören der Nachricht nicken und sich dafür beglückwünschen würden, es immer schon gewusst zu haben. Aber er und Nina hatten echt gewirkt. Sie waren sich nahe, verhielten sich natürlich – Lock hatte es gesehen. Konnte man so etwas vorspielen?
Letzten Endes hielt sich Lock für nicht spitzfindig genug, das durchzudenken. Er wusste nur, dass es in Russland nicht viele Zufälle gab, er war intelligent genug, das zu wissen. Und er durfte nicht einfach warten, bis einer davon ihn erwischte.
Am Abend vor seinem Abflug nach London und Paris ging Lock mit Oksana ins Café Puschkin essen. Auf dem Weg dorthin musste er an etwas denken, was Kesler ihn gefragt hatte: Wenn Sie beweisen wollten, dass Malin korrupt ist, wo würden Sie nachsehen? Wenn Malin Gerstmans Tod befohlen hatte, dann war das nicht geschehen, weil er etwas gegen seine Trinkgewohnheiten oder sexuellen Vorlieben hatte. Gerstman musste etwas gewusst haben. So viel war klar.
Weniger klar war, wie viel Lock selbst eigentlich wusste; noch diffuser war, was Malin glaubte, dass er wusste. Zweifellos weniger als Gerstman, oder? Vielleicht auch nicht. Vielleicht wusste er alle möglichen Dinge, ohne jedoch deren Bedeutung zu begreifen. Wenn das stimmte, riskierte Lock, dass ihm völlig ohne Grund ein Unglück zustieß. Nach all diesen fremdbestimmten Jahren hatte er keinerlei Bedürfnis danach, seine Tage so machtlos zu beenden. Also hatte er die Wahl: Er konnte Malin zeigen, dass er keine Bedrohung darstellte, oder sich entschließen, doch noch zu einer Bedrohung zu werden.
Sein Auto steckte im mehrspurigen Verkehr auf der Twerskaja fest. Er schaute aus dem Fenster auf die kastenförmigen Ladas und die massigen ZiL-Lkws um ihn herum. Selbst in seinem eigenen BMW stauten sich die Abgase. Was würde ein Russe an seiner Stelle tun? Ein Russe tat niemals irgendetwas aus einem einzigen Grund. Das war ein wichtiges Prinzip. Der Russe hatte zwei Gesichter: Eines zeigte er der Welt, und das andere verbarg er. Lock hatte diesen Trick nie erlernt. Wenn seine russischen Kollegen Gerstmans Weichheit belächelt hatten, dann lachten sie ganz sicher immer noch über Locks Naivität. Doch barg nicht seine Situation die Chance, genau das zu nutzen? Wenn er Malin von seiner Harmlosigkeit überzeugen konnte und gleichzeitig das ausbaute, was er wusste – zweifellos war das die vernünftigste Option. Ein Dossier. Er brauchte ein Dossier. Das war es, was Leute in seiner Lage machten, sie stellten eine Geheimakte zusammen, um sie einzusetzen, wenn es nötig wurde – wenn man Glück hatte, vielleicht niemals. Und überhaupt: Was hatte er denn in der Hand, außer dem, was er wusste.
Lock spürte neue Energie in sich aufsteigen. Er hatte eine Idee gehabt, zum ersten Mal seit Jahren, eine konkrete Idee über sein eigenes Schicksal. Jetzt musste er nur noch den Mut finden, danach zu handeln.
Das Café Puschkin war dem Stadthaus eines reichen Russen vom Anfang des neunzehnten Jahrhunderts nachempfunden. Es war auf pedantische, geradezu absurde Weise authentisch: Der Fußboden im Erdgeschoss bestand aus riesigen, alten Steinplatten, und sämtliche Wände waren holzgetäfelt. Die Garderobe im Keller war stilgerecht feucht. Im ersten Stock gab es eine Bibliothek, in der Lock einen Tisch reserviert hatte. Dort standen echte Eichenregale voller echter russischer Bücher und neben den riesigen Schiebefenstern ein Messing-Teleskop und ein viktorianischer Globus. Alles wirkte, als sei der Hausbesitzer Hobbywissenschaftler und gerade für einen Moment nach draußen gegangen, nicht ohne seinen Gast aufzufordern, sich während seiner Abwesenheit ruhig ein bisschen weiterzubilden. An den cremeweißen Wänden verströmten Messing-Wandleuchter künstliches Kerzenlicht. Lock mochte diesen Ort, weil man hier, zwischen den eleganten Russen, die nach mehr als einem Jahrzehnt immer noch kamen, auch Touristen und sogar feiernde Moskauer aus der Mittelschicht antreffen konnte. Es hatte eine demokratische Atmosphäre, die Moskau ansonsten oft fehlte.
Es dauerte eine Weile, bis man seine Tischreservierung gefunden hatte, aber das war immer so. Er wartete geduldig, während seine Kellnerin, angetan mit burgunderfarbener Weste und Schürze, sie umständlich im Computer suchte, der in dem warmen Licht wie ein hässlicher Anachronismus wirkte. Endlich setzte er sich und bestellte Gin Tonic. Oksana würde natürlich zu spät kommen. Er las die Karte: russische Gerichte – Bliny, Pelmeni, Soljanka, Borschtsch, Kaviar, Stör, Bœuf Stroganoff. Er würde wie jedes Mal die Soljanka nehmen und dann vielleicht etwas Ente. Sein Drink kam, und er goss einen kleinen Schuss Tonic ins Glas. Wie das Wasser und der Wein, sagte er sich.
Wenn er seinen Flug auf den Abend verschob, konnte er morgen früh schon mit seinem Dossier beginnen. Er brauchte nichts weiter zu tun, als alles vom Netzwerk herunterzuladen. Das würde vermutlich auf einen einzigen Memorystick passen. So etwas hinterließ natürlich Spuren, doch er war der Administrator dieses Systems, und in all der Zeit, die er für Malin arbeitete, hatte es nie jemand kontrolliert. Außerdem konnte er immer noch behaupten, dass er dieses Material mit nach London und Paris hatte nehmen müssen. Er müsste eine oder zwei Kopien machen und an geheimen, aber zugänglichen Orten deponieren. Vielleicht eine in Moskau und eine in London. Marina könnte eine aufbewahren. Wenn das hier einer von diesen Thrillern wäre, die er ab und zu las, dachte er, würde er eine Kopie seinem Anwalt anvertrauen und ihm sagen, dass er sie veröffentlichen soll, wenn ihm etwas Schreckliches zustößt. Aber er hatte keinen Anwalt – und selbst wenn er einen hätte: Niemand würde das bisschen, was er wusste, veröffentlichen. Man könnte es im Selbstverlag herausgeben. Bei diesem Gedanken musste er lächeln. Er fragte sich, ob Oksana noch lange brauchen würde, und bestellte sich noch einen Drink.
Das war das Problem bei diesem Plan, dachte er. Sein Wert für Malin bestand allein darin, nicht Malin zu sein. Eigentlich wusste er recht wenig. Er war nicht wichtig genug, um Dinge zu wissen. Die einzige bedeutsame Tatsache, die er wusste, war, ein Schwindler zu sein, aber das allein dürfte kaum ausreichen, um Malin zu erledigen. Und die grausame Ironie lag darin, dass Malin das wahrscheinlich nicht wusste – oder sich nicht leisten konnte, es zu glauben. Er hielt Lock für gefährlicher, als Lock war.
Sein zweiter Drink wurde gebracht. Er schaute auf seine Uhr. Zwanzig nach. Oksana konnte noch zwanzig Minuten brauchen. Er nippte an seinem Gin und versuchte sich zu erinnern, was sie an diesem Tag vorhatte. Irgendetwas an der Universität. Es fiel ihm nicht ein, und so kehrte er zu seinem neuen Projekt zurück. Wie konnte man herausfinden, wie Malin stahl? Er überlegte lange, ohne dass ihm ein einziger Gedanke gekommen wäre. Gott, dachte er, er war einfach kein Spion.
Als er das Glas an die Lippen hob, um den letzten Schluck seines Drinks zu nehmen, sah er Oksana eintreten, in herrschaftliches Schwarz gekleidet und einen Kopf größer als die Kellnerin, die sie an den Tisch führte. Einen Moment lang kam ihm der Gedanke, dass sie die perfekte Komplizin wäre. Sie hatte ein sicheres Auftreten und genug Coolness für sie beide. Er stand auf, um sie zu begrüßen, und sie küssten sich. Der Gin in seinem leeren Magen erwärmte ihn und verursachte ein leichtes Schwindelgefühl. Er bestellte einen weiteren und einen Wodka für Oksana. Sie schaute sich im Raum um und brauchte ziemlich lange, bevor sie auf ihrem Stuhl zur Ruhe kam; sie schien über etwas erregt zu sein. Ihre langen Fingernägel, tiefrot lackiert, klopften auf die Tischplatte.
»Du siehst fantastisch aus.«
»Danke, Richard. Das ist ein guter Tisch.«
»Natürlich. Wie lief dein Tag?«
»Hm. Nicht so gut. Ehrlich gesagt, unglaublich. Ich brauche diesen Drink.« Sie schaute sich nach der Kellnerin um.
»Er wird gleich hier sein. Was war los?«
»Nichts.« Sie begegnete seinem Blick, konnte ihm aber nicht standhalten. »Einfach ein schlechter Tag.«
»Erzähl es mir.«
Sie seufzte. »In Ordnung. Verdammt. Es ist dieser kleine Scheißkerl Kowaltschik. Ich hatte heute einen Termin bei ihm, erinnerst du dich?« Lock nickte ernst. »Ich hatte ihn seit dem Sommer nicht mehr gesehen; nicht, seit ich beschlossen habe, diese Kapitel über den Gulag mit aufzunehmen. Also gehen wir das neue Konzept durch, und er sagt mir, der Gulag sei kein ›profitables‹ Forschungsgebiet. Offenbar haben schon zu viele Leute darüber geschrieben. Thema erschöpft. Aber man kann nicht über … ah, endlich. Bringen Sie mir bitte gleich noch einen.« Sie nahm ihr Glas, prostete Lock zu und trank es in einem Zug aus. »Man kann nicht über Vertreibung schreiben, ohne den Gulag zu erwähnen. Hunderttausende Menschen begannen ihr Leben – wenn man es so nennen mag – begannen ihr Leben in Kasachstan, weil man sie in die Gulags geschickt hatte. Dieser Idiot.« Sie spielte mit ihrem leeren Glas. »Idiot.«
Lock wartete einen Moment, unsicher, ob sie fertig war. Könnte er nicht seinen Plan mit ihr diskutieren? Sie stammte aus Almaty. Sie war mehr oder weniger Ausländerin. »Was bedeutet das nun?«
»Das bedeutet, ich muss zum ursprünglichen Konzept zurückkehren und kann alles wegwerfen, was ich in den letzten drei Monaten geschrieben habe. Oder ich mache weiter und riskiere, dass er mich durchfallen lässt.«
»Würde er das tun?« Er sollte mit ihr reden. Vielleicht würde sie den Ausschlag geben, ob er es wirklich tat oder auf ewig nur darüber nachdachte. Wenn sie damit fertig waren, über Koslowski zu sprechen oder wie immer der hieß, würde er das Terrain sondieren.
»Oh ja. Ja, das würde er. Er ist ein bösartiger kleiner Scheißkerl.«
»Wer ist denn sein Vorgesetzter?«
Oksana lachte hart und kurz auf. »Du meinst, ich könnte ihn vielleicht feuern lassen?«
»Nein, das meine ich nicht. Hast du kein Einspruchsrecht? Kann nicht jemand mit ihm reden?«
»Er ist mein Professor. Wenn ich ihn verärgere, werde ich keinen anderen bekommen.« Sie hatte jetzt aufgehört, hin und her zu rutschen, und warf ihm einen kalten Blick zu, der ihm überhaupt nicht gefiel. »Nicht jedes Problem lässt sich einfach dadurch lösen, dass man einen noch größeren Tyrannen findet, Richard. Nicht einmal in Russland. Das solltest du eigentlich wissen.«
»Wie meinst du das?«
»Ich weiß, wer du bist, Richard. Du hast selbst einen ziemlich unangenehmen Chef.«
»Keine Ahnung, wovon du redest.«
»Ach, es ist egal. Lass uns einfach nett zusammen essen, wie immer. Du kannst so tun, als ob du dich für meine Doktorarbeit interessierst.«
»Ich interessiere mich für deine Doktorarbeit.«
Sie lachte wieder. »Als ich dich kennenlernte, mochte ich dich. Wir haben ein Arrangement, ich weiß, aber ich mochte dich. Ich dachte, hier ist ein Mann, der Dinge weiß, dem es nicht nur ums Geld geht. Hier ist ein Mann mit Selbstachtung. Und dann schlage ich die Zeitung auf und sehe, was du tust. Für diese Kröte. Es macht mich traurig, Richard. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr. Du hättest mehr sein sollen als das.«
Sie schaute ihm einen Moment lang in die Augen, dann stand sie auf.
»Es tut mir leid, Richard. Ich wollte nicht von dir enttäuscht sein. Lass mich wissen, wenn ich dir etwas schulde.«
Lock sah ihr hinterher, als sie hinausging. Ihr gleichmäßiger Schritt verriet keinerlei Emotionen. Die Kellnerin kam und stellte neue Getränke auf den Tisch. Lock trank Oksanas Wodka aus und blieb sitzen, den Blick auf den Platz gerichtet, den sie verlassen hatte. Dann verlangte er die Rechnung.
»Mein Name ist Richard Lock.«
»Vielen Dank, Mr. Lock. Und können Sie uns sagen, in welcher Funktion Sie heute hier sind?
»Ich bin hier als Vertreter von Faringdon Holdings, eines der Unternehmen, die in Mr. Tournas Beschwerde angeführt sind.«
»Gut. Lassen Sie uns mit einigen grundsätzlichen Fragen beginnen. Was für ein Unternehmen ist Faringdon, Mr. Lock?«
»Faringdon ist ein privates Energieunternehmen, das in der früheren Sowjetunion in Öl und Gas investiert. Wir besitzen vor allem Anteile an Unternehmen in Russland und Kasachstan.«
»Und welchen Umsatz erzielt diese Gruppe?«
»Das sind vertrauliche Angaben. Ich würde vorziehen, darauf nicht zu antworten.«
Am anderen Ende des Tisches nickte Kesler zustimmend.
Griffin, der Lock gegenübersaß, machte weiter: »Was ist Ihre Position in diesem Unternehmen, Mr. Lock?«
»Ich bin Anteilseigner.«
»Sind Sie der einzige Anteilseigner?«
»Ich würde es vorziehen, darauf nicht zu antworten. Ich besitze einen Mehrheitsanteil des Unternehmens. Diese Anteile sind in verschiedene Offshore-Unternehmen strukturiert, um meine Steuerverpflichtungen zu minimieren.«
»Auf legale Weise zu minimieren«, sagte Kesler.
»Sorry, meine Steuerverpflichtungen auf legale Weise zu minimieren. Ich kann nicht erkennen, dass die genaue Struktur der Anteilsbeteiligungen für Mr. Tournas Beschwerde relevant ist. Ich besitze eine Mehrheitsposition und bin autorisiert, im Namen aller Anteilseigner zu sprechen.«
»Gut«, sagte Kesler. »Okay. So wird es wahrscheinlich anfangen. Wenn ich Greene wäre, würde ich Ihre Karriere beleuchten, die Gründung von Faringdon, das Wachstum. Ich würde die Vorwürfe der Beschwerde bis zum Schluss aufheben. Das Wichtigste ist, sich nicht auf die Themen Besitzrechte und Finanzierung einzulassen. Bleiben Sie bei der Version, die wir festgelegt haben. Lassen Sie uns jetzt den Hintergrund behandeln. Wir können die einzelnen Vorwürfe morgen durchgehen. Lawrence, bitte fahren Sie fort.«
Es war Freitag. Lock war wieder im Büro von Bryson Joyce und trank seine zweite Tasse schalen Kaffee. Er, Kesler und Griffin saßen in einem kleinen, heißen Konferenzraum um einen Tisch. Donnerstag war das letzte Coaching gewesen, heute und morgen je ein Testdurchlauf für die Anhörung, und am Montag drohte Paris. Er wäre überall lieber als hier gewesen. Kesler ging ihm auf die Nerven. Seine Art ihm gegenüber war mittlerweile unverhohlen kritisch. Ganz der verzweifelnde Impresario für eine talentlose Vorstellung als Gangsterbraut, dachte Lock. Mit jedem Fehler, den er machte, fühlte sich Lock weniger wie der Klient und mehr wie eine Last. Wenn diese Übung dazu gedacht war, sein Selbstvertrauen zu stärken, dann war sie nicht sonderlich erfolgreich.
Aber wenigstens war dies Arbeit, und wenigstens war es London, und diese beiden Aspekte halfen ihm, sich von Oksana abzulenken. Zu seiner eigenen Überraschung litt er sehr unter ihrem Verlust; er hatte erwartet, dass ihr Arrangement leichter zu beenden sein würde. Doch am meisten schmerzte natürlich, dass sie – genau wie Marina – recht gehabt hatte und es ihm – anders als Marina – unverblümt gesagt hatte.
»Also, Mr. Lock. Können Sie uns bitte allen helfen, indem Sie einen kurzen Abriss Ihrer Karriere bis dato geben? Es wäre hilfreich zu wissen, wie Sie nach Russland gekommen sind und welche Geschäfte Sie dort gemacht haben.«
Griffin, dachte Lock, verhielt sich viel zu höflich. Ob es am Montag auch so wohlerzogen zugehen würde? Vermutlich war Lionel Greene nicht zu dem Mann geworden, der er war, indem er mit seinen Zeugen sprach wie der Pfarrer zu seinen Schäfchen. Nicht dass Lock, der seine Antworten eine nach der anderen abspulte, etwas dagegen gehabt hätte. Alles in allem war es ihm lieber, wenn er nur einmal hart angepackt wurde.
Und so ging es den ganzen Tag weiter: Griffin stellte knifflige Fragen, Lock gab ausweichende Antworten. Nach rund einer Stunde war Locks Mund trocken, und er wurde sich des flachen und monotonen Tonfalls seiner Stimme bewusst. Zwei Tage davon.
»Und wie würden Sie sich selbst beschreiben, Mr. Lock? Als Geschäftsmann?« Griffin schien es Spaß zu machen, ihn Mr. Lock zu nennen.
»Wie meinen Sie das?«
»Ich meine, welche Art von Geschäftsmann sind Sie?«
»Ich bin Private Equity Investor. Ich investiere in Privatunternehmen in jedem Stadium ihrer Entwicklung. Normalerweise übernehme ich einen Mehrheitsanteil. Solange ich diese Anteile halte, arbeite ich mit dem Management des Unternehmens zusammen, um den Wert zu optimieren.« Alles sorgsam vorformuliert, sodass es nur noch wenige Zentimeter von völliger Bedeutungslosigkeit entfernt war.
Zur Mittagszeit verließ Lock die Kanzlei Bryson und ging in Richtung des Barbican Centre, das sich kühn über der Stadt erhob wie das Relikt einer seltsamen alten Zivilisation. Er zündete sich eine Zigarette an, bereute es sofort und drückte sie wieder aus. Der Tag war grau und warm. Er rief Marina an – er hätte sie schon gestern anrufen sollen, war aber nicht in der Stimmung gewesen, mit irgendjemandem zu sprechen. Ein durchdringendes, abgehacktes digitales Quietschen ertönte, danach war die Leitung tot. Er versuchte es erneut, und diesmal erreichte er gleich ihre Mailbox.
»Hallo, ich bin’s. Ich bin gestern spätabends angekommen. Ruf mich an. Ich … ich würde gerne mit dir essen gehen. Vielleicht morgen? Ich habe nachgedacht über das, was du gesagt hast, als ich letztes Mal hier war. Liebe Grüße an Vika.« Nach so langer Zeit mit Kesler war es ein seltsames Gefühl, wieder über normale Dinge zu reden. Widerwillig ging er zurück ins Büro, wo das Sperrfeuer weiterging.
»Würden Sie bitte Ihr Verhältnis zu Konstantin Malin beschreiben?«
»Ich kenne ihn. Jeder, der in der russischen Energiebranche zu tun hat, kennt ihn.«
»Würden Sie ihn als Freund bezeichnen?«
»Eher als guten Bekannten, würde ich sagen.« Keslers Formulierung.
»Verstehe. Sie haben Mr. Malin also getroffen?«
»Natürlich. Einige Male.«
»Haben Sie jemals Geschäfte miteinander gemacht?«
»Nicht persönlich, nein. Faringdon hat oft mit dem Ministerium für Industrie und Energie zu tun, in dem Mr. Malin arbeitet.«
»Also hat Faringdon niemals von einer engen Beziehung zu Mr. Malin profitiert?«
»Absolut nicht.«
»Wirklich? Ihre Wege scheinen sich ja oft genug zu kreuzen. Nehmen wir einmal Sibirskenergo ZAO. Das ist doch ein Faringdon-Unternehmen, nicht wahr?«
»Wir besitzen 68 Prozent.«
»Wir?«, unterbrach Kesler.
»Sorry.« Lock holte Atem. »Faringdon besitzt 68 Prozent.«
Griffin nahm den Faden wieder auf. »Was ist Sibirskenergo für ein Unternehmen? Was macht es?«
»Es erschließt unzugängliche Ölvorkommen im hohen Norden Sibiriens. Skip, warum machen wir das? Das haben wir nicht vorbereitet.«
»Sie werden nicht auf alles vorbereitet sein. Das ist genau der Punkt. Nur weiter, Lawrence.«
»Und im Jahr 2006 hat Sibirskenergo wie viele Förderlizenzen in diesem Gebiet erhalten?«
»Skip, ich sehe nicht, was das für eine Relevanz hat.«
»Sie werden es gleich sehen. Sie wissen es schon. Nächste Frage.«
»Wie viele Lizenzen?«
»Vier.«
»Wer besaß diese Lizenzen vorher?«
»Ein Staatsunternehmen namens Neftenergo.«
»Und wie viele Unternehmen bewarben sich um die Lizenzen, als Neftenergo beschloss, sie zu verkaufen?«
»Keins. Nun ja, eins.«
»Nur Sibirskenergo?«
»Ja.«
»Für Vermögenswerte im Staatseigentum.«
»Ja.«
»Wie viel wurde gezahlt? Für alle vier?«
»Das darf ich nicht sagen. Ich erinnere mich nicht.«
»Was denn nun? Sie dürfen es nicht sagen, oder Sie wissen es nicht?«
»Ich darf es nicht sagen.« Lock schaute zu Kesler hinüber, doch Kesler gab lediglich Griffin mit einem Nicken zu verstehen, er solle weitermachen.
»Finden Sie es nicht ungewöhnlich, Mr. Lock, dass vier ausgesprochen wertvolle Lizenzen ohne Konkurrenzangebote an Ihr Unternehmen verkauft wurden?«
»Nein. Ich denke, das ist in Russland durchaus normal.«
»Tatsächlich? Obwohl es allen Richtlinien für den Verkauf von staatlichem Vermögen widerspricht?«
Darauf hatte Lock keine Antwort.
»Mr. Lock, können Sie mir sagen, welches Ministerium für den Verkauf der Lizenzen verantwortlich war?«
»Das Ministerium für Industrie und Energie.«
»In dem Mr. Malin arbeitet?«
»Ja.«
»Danke, Mr. Lock.« Griffin schaute zu Kesler.
»Sehen Sie, Richard?« Keslers Tonfall schwankte zwischen Verzweiflung und Triumph. »Sie haben uns nie von diesen Lizenzen erzählt. Können Sie mir sagen, warum?«
»Ich hatte sie ganz vergessen. Es schien mir nicht wichtig.«
»Nun, Richard, genau damit müssen Sie übrigens unbedingt aufhören: Entweder haben Sie es vergessen, oder es war nicht wichtig, entweder Sie dürfen es nicht sagen, oder Sie wissen es nicht. Es kann nicht beides sein. Geben Sie eine einzige Erklärung, und belassen Sie es dabei. Seien Sie klar. Verstanden?«
Lock seufzte. Er war es müde, gemaßregelt zu werden. »Ja, ich verstehe.«
»Also, in dieser Situation sagen Sie, dass Sie nicht wissen, wie viel das Unternehmen genau für die Lizenzen bezahlt hat – Sie sind zu wichtig, um solche Details zu kennen –, dass es aber Marktpreise waren und dass Sie glauben, dass der russische Rechnungshof es abgesegnet hatte. Wenn das Tribunal genaue Zahlen benötigt, werden Sie sie nachliefern.«
»Okay.«
»Scheuen Sie sich nicht, ihnen weniger zu geben, als sie haben wollen. Sie sind ein wichtiger Mann. Man kann nicht erwarten, dass Sie alle Details parat haben.«
Lock fühlte den Memorystick in seiner Hosentasche: etwas über ein Gigabyte Unterlagen, Transaktionen, Aufstellungen, Tabellen, Memoranden. Nein, dachte er, ich weiß eine ganze Menge Details. Aber immer die falschen.
Als die Anhörung näherrückte, sah Lock mit kindlicher Erleichterung jeder Atempause von Kesler und dessen endloser Abfolge der Fragen und Anweisungen entgegen. Noch nicht einmal in seinem Hotel war er sicher: Das Connaught war ausgebucht und Kesler deswegen ebenfalls im Claridge’s abgestiegen. Also genoss Lock jeden Moment der Freiheit – Frühstück auf seinem Zimmer, Zigaretten vor der Tür, Telefonate mit Moskau (manche davon echt, manche erfunden) –, und der Sonntagmorgen war purer Luxus: nichts zu tun bis zum Mittag, dann mit dem Taxi zum Bahnhof St. Pancras und in den Zug nach Paris steigen.
Er hatte den Abend mit Marina und Vika verbracht. Seine erste Idee war gewesen, sie in der Wohnung zu besuchen und mit Marina essen zu gehen, sobald Vika im Bett lag, aber Marina hatte vorgeschlagen, zu dritt loszuziehen, und das hatte ihm eingeleuchtet. Gegen sechs Uhr war er im gespenstisch leeren Büro von Bryson Joyce fertig gewesen, und sie hatten sich in Vikas Lieblingsrestaurant in Kensington getroffen. Das London dieser Stadtviertel war neu für ihn – er kannte das Zentrum, Mayfair, die City und sah alles dazwischen meist nur aus dem Taxifenster. Er fühlte sich privilegiert, in diese stillen, beinahe geheimen Freuden eingeführt zu werden. Sie hatten Burger gegessen, einander geneckt und zugesehen, wie Vika mit einem langen Löffel aus einem hohen Glas Eis löffelte. Das Restaurant war voll von Familien, die das Gleiche taten, und für ein oder zwei Stunden hatte Lock vergessen, dass der Abend damit enden würde, allein in sein Hotelzimmer zurückzukehren.
Dieser Augenblick war immer schmerzhaft. Er nahm an, dass es für Vika ebenso war, zumindest momentan, und er fragte sich, ob auch Marina litt. Er hatte vorgehabt, nach dem Essen mit ihr zu reden, über Dmitri, über sie beide, doch irgendwie hatte es sich nicht ergeben. Marina hatte festgestellt, dass es spät war und Vika ins Bett musste, und das war es gewesen. Er wusste nicht, welchem Thema sie eifriger aus dem Weg ging. Für Lock war dies ein Rückschlag, wenn auch kein ernster. Jahrelang hatte er sich nach Kräften bemüht, Marina zu ignorieren, sobald sie ihm sagte, was sie fühlte. Nun wollte er es wissen – und wenn er ehrlich war, von Tag zu Tag dringender. Aber er konnte noch ein wenig warten, schließlich würde er bald wieder hier sein.
Trotz alledem wäre er lieber in Holland Park gewesen, als seinen Koffer zu packen und sich auf zweieinhalb Stunden Zugfahrt mit Kesler einzustellen. Dort würden sie nicht über Geschäftliches reden können, das war immerhin ein Fortschritt, doch was würden sie stattdessen tun? Worüber redete Kesler, wenn er nicht über die Arbeit redete? Es dauerte einen Augenblick, bis Lock sich eingestand, dass sich Kesler vielleicht die gleiche Frage über ihn stellte.
Kesler stand an der Rezeption, als er herunterkam, um auszuchecken.
»Guten Morgen, Richard. Oder ist es schon Nachmittag? Gut geschlafen?«
Lock sagte, das habe er, und bat um seine Rechnung. Mit der Rechnung wurde ihm ein Brief ausgehändigt, der an diesem Morgen persönlich abgegeben worden war. Sein Name stand in Marinas Handschrift auf dem Umschlag.
»Ein billet doux?«, fragte Kesler.
Lock fühlte, wie er errötete. »Nein, nein. Nur eine private Sache.« Er steckte den Umschlag in die Tasche seines Jacketts und gab der Empfangsdame seine Kreditkarte.
Auf dem gesamten Weg zum Bahnhof und während sie in der Business Lounge auf Griffin warteten (Griffin durfte nicht auf Malins Kosten im Claridge’s absteigen, wie Lock befriedigt festgestellt hatte), selbst beim Besteigen des Zuges konnte er den Brief auf seinem Herzen spüren. Er schien regelrecht Hitze abzustrahlen. Erst als sie sich in ihrem Wagen hingesetzt hatten und der Zug eine Weile durch Südlondon gefahren war, wagte er, sich zu entschuldigen. Er fand im Speisewagen einen freien Platz und öffnete dort den Brief. Er war mit schwarzer Tinte auf schwerem, elfenbeinfarbenem Papier mit ausgeprägter Struktur geschrieben, die Handschrift war grazil und doch präzise, die Zeilen gerade und mit gleichmäßigem Abstand. Sobald er den Brief sah, hatte er alle Briefe vor Augen, die Marina ihm je geschrieben hatte; ernsthafte und leidenschaftliche vor ihrer Hochzeit; geschwätzige, wenn er auf irgendeiner sinnlosen Geschäftsreise war; schmerzerfüllte und resolute am Ende ihrer Ehe. Sie hatte ihm weitaus öfter geschrieben als er ihr; seine eigenen Briefe wirkten neben ihren unbeholfen, und sie zu schreiben war ihm immer schwergefallen. Er fragte sich, ob sie sie dennoch aufgehoben hatte, so wie er die ihren.
Es waren drei Blätter, beidseitig beschrieben.
Holland Park
Samstagabend
Liebster Richard,
vielen Dank für einen wundervollen Abend. Ich hoffe, es hat Dir nichts ausgemacht, Deine Pläne zu ändern. Es ist wichtig, dass wir drei immer noch Spaß zusammen haben können. Vika hat den Abend genossen, aber sie ist jedes Mal traurig, wenn sie sich von Dir verabschieden muss. In gewisser Weise schreibe ich Dir aus diesem Grund.
Als wir nach Hause kamen, hat sie mich gefragt, ob Du glücklich bist. Ich sagte Ja, das seist Du, doch Deine Arbeit sei sehr hart, und vielleicht gäbe es zu viele Dinge, die Dir Sorgen machten. Ich erzähle Dir das, weil Vika, so wie ich sie kenne, Dir deswegen Fragen stellen wird, aber auch, weil ich darüber nachgedacht habe, wie viel Wahrheit in meinen Worten steckt. Der Unterschied zwischen Dir jetzt und Dir, als ich Dich im Sommer zuletzt sah, ist so deutlich. Es liegt etwas Neues in Deinem Gesicht.
Ich möchte mich bei Dir entschuldigen, dass wir nicht richtig dazu kamen, über Dmitri zu sprechen. Es ist sehr schwer für mich. Wenn das, was Du befürchtest, stimmt, dann muss ich akzeptieren, dass ein Mann, den ich einmal respektiert habe – der Mann, der uns zusammengebracht hat –, zu etwas Schlechtem geworden ist. Ich sage nicht, dass das nicht zutrifft – ich habe das schmerzliche Gefühl, dass Du recht hast –, aber Du musst verstehen, dass es mir wehtut, so etwas zu glauben.
Ob es nun stimmt oder nicht, ich glaube, es will Dir etwas sagen. Die Tatsache, dass es wahr sein könnte, ist schon genug. Du hast zu Recht Angst. Vielleicht magst Du es nicht noch einmal hören, aber vielleicht ist auch jetzt der Zeitpunkt gekommen, an dem Du es hören kannst: Du arbeitest für einen korrupten Mann in einer korrupten Branche in einem korrupten Land, und es hat Dich korrupt gemacht. Ich will nicht, dass es dich umbringt.
Lock hielt an dieser Stelle einen Moment inne und schaute aus dem Fenster, wo die Stadt langsam in ländliches Gebiet überging. Sie hatte recht – immer, unfehlbar –, und er war zur Abwechslung in der Stimmung, das zu akzeptieren.
Früher warst Du voller Neugier, und in allem schien für Dich eine Möglichkeit zu stecken. Ich liebte Dich dafür. Ich liebte Dich, weil Du wolltest, dass Russland sich ändert. Ich liebte Dich, weil Du keine Angst hattest. Und ich liebte Dich, weil Du über all das lachen konntest. Alle unsere Leidenschaften werden schwächer, unsere Energie lässt zwangsläufig nach, doch Dein Job hat mehr getan als das. Er hat den größten Teil von Dir genommen, Richard, und das tut mir so weh.
Es gibt zwei Dinge, vor denen ich Angst habe. Ich habe Angst, dass ich eines Tages einen Anruf bekomme, dass Dir etwas Schreckliches passiert ist, und dass ich es dann Vika sagen muss. Schon vor Dmitri hatte ich diese Angst.
Doch mehr noch habe ich Angst, dass es bald ohnehin zu spät sein wird für Dich. Dass alles, was Du einmal warst, verschwunden sein wird. Das Schlimmste, was sie mit Dir gemacht haben, war, Dich davon zu überzeugen, dass es in der Welt nur um Geld und Macht und Öl geht. Das bist nicht Du. Wenn ich sehe, wie Du Vika zum Lachen bringst, dann weiß ich das immer noch. Diesmal hatte ich den Eindruck, dass Du es auch weißt.
Wenn ich Dich so sehe, wage ich zu hoffen. Hoffnung ist eine gefährliche Sache. Wenn ich mir vorstelle, dass wir drei zusammen sind, dann sage ich mir, dass ich es will, weil Vika glücklich sein soll. Aber ich will es auch, weil ich glücklich sein will. Es wäre leichter für mich, wenn Du nicht mehr zu retten wärst, aber so weit ist es noch nicht.
Dieser Brief hat einen Grund – einen praktischen Grund. Du musst Russland verlassen. Ich weiß, das ist schwierig, aber es kann nicht unmöglich sein. Ich werde alles tun, um zu helfen. Der Plan muss von Dir kommen: Überlege Dir etwas und lass uns darüber reden. Sobald Du wieder hier bist. Vielleicht kann ich mit Konstantin sprechen. Der Geist meines Vaters ist ihm immer noch wichtig, glaube ich.
Dmitris Tod ist ein Zeichen oder ein Signal. Es muss einen Weg geben. Bitte, finde ihn. Ich will, dass meine Ängste sich als grundlos erweisen.
Immer noch mit all meiner
Liebe
M.
Er hielt den Brief lange in den Händen, seine Augen auf die vertraute Handschrift geheftet, und ließ Marinas Gedanken in seinem Kopf zusammenfließen und konkret werden. Ohne nachzudenken wusste er, dass sie es auf den Punkt gebracht hatte, so wie sie es immer tat. Es war klar und einfach – und gleichzeitig unvorstellbar kompliziert.