20

Anna lächelte in die Dunkelheit, als sie sich, bis auf die Stiefel komplett angezogen, auf dem Bett in Ethans Arme schmiegte. Es war ein harter Kampf gewesen, und sie hatte es mit vier unglücklichen Männern zu tun gehabt, doch jetzt war sie gottlob hier.

Es wäre ihr Eigentum, hatte sie argumentiert, und ihre Zukunft stünde auf dem Spiel, und sie wollte nicht zulassen, dass man sie an einen sicheren Ort abschob, während die Männer in der Nacht Fox Run bewachten. Schließlich hatte sie gedroht, auf eigene Faust zurückzuschleichen, wenn man sie fortschickte, und dann versprochen, alles zu tun, was man ihr auftrug, wenn man sie nur bleiben ließ.

Ethan, der sie nach wenigen gemeinsamen Wochen schon ganz gut kannte, hatte als Erster kapituliert – als John erklärt hatte, dass er sie nicht grundlos hinter Gittern festhalten konnte. Deshalb standen abgesehen von ihrem alten Truck, den sie Gaylen abgekauft hatte, vor der Tür keine Autos, das Sägewerk war dunkel und still, bis auf die leisen Geräusche nächtlichen Getiers. John, Alex und Paul hockten in verschiedenen Verstecken über das Camp verteilt da und warteten, dass Ron Briggs und sein Komplize sich zeigten.

Anna hatte nicht gewusst, wie viel Planung, Einsatz und Geduld für ein Unternehmen dieser Art nötig war. Um den Eindruck zu erwecken, sie wären alle nach Loon Cove Lumber zurückgekehrt, hatten sie Fox Run in ihren jeweiligen Fahrzeugen verlassen, hatten die Wagen beim Sägewerk abgestellt und waren dann in Annas SUV zurückgefahren, den sie auf einem alten Transportweg eine Meile weiter unten am See parkten. Von dort waren sie dem Ufer folgend durch den Wald gelaufen, und jeder hatte sein ihm zugeteiltes Versteck aufgesucht und sich dort aufs Warten eingerichtet. Paul war mit einem Funkgerät unweit der Straße postiert und beobachtete die Zufahrt von Fox Run; Alex lag in der Finsternis auf dem alten Müllplatz der Sägemühle am Rand des Camps; und John wartete unten am Ufer beim Küchenhaus. Ethan, Anna und Bear hatten sich im ausgekühlten Haus vergraben. Auf ein Feuer im Kamin hatten sie verzichtet, damit das Camp einen verlassenen Eindruck machte.

»Warum wollte John nicht andere Sheriffs um Hilfe bitten?« , fragte Anna im Flüsterton.

»Weil wir ja nicht mal wissen, ob Briggs hier tatsächlich aufkreuzt. Es ist nur eine Theorie, dass er den Brand legte und auch dein Eindringling ist. Wir haben auch keinen Beweis, dass Frank Coots dahintersteckt.«

»Es ergibt aber einen Sinn.«

»Trotzdem kann John nicht auf eine Vermutung hin Polizisten aus anderen Bezirken anfordern. Er hat zwar Daniel Reed angerufen, doch der steckt heute selbst in einer Sache.«

Anna seufzte. »Es ist nicht dein Kampf oder der deiner Familie«, sagte sie leise in die Dunkelheit. »Ich hätte meine Brüder anrufen können. Sie wären in höchstens vier Stunden zur Stelle gewesen.«

Ethan umfasste sie fester. »Wir schaffen das«, beruhigte er sie. Er stützte sein Kinn in die Höhlung ihres Halses. Wieder überlief sie ein Schauer. »Und es ist unser Kampf. Wir kümmern uns um unser Eigentum.«

»Ich bin aber nicht dein Eigentum.«

»In drei Wochen wirst du es sein.« Seine Lippen auf ihrer Haut schickten erneut einen Schauer über ihren Rücken.

»Ich komme mir ganz schlecht vor, da die anderen draußen in der Kälte auf dem harten Boden sitzen, während wir es hier im Bett schön weich haben«, sagte sie.

Sein Arm umfasste sie wieder fester, und er lachte. »Soll das ein Witz sein? Die…«

Das Funkgerät auf dem Nachttisch gab plötzlich drei kurze Piepser gefolgt von einer Pause von sich, dann einen einzigen, etwas längeren Ton. Ethan setzte sich sofort auf und zog Anna mit sich.

»Drei?«, flüsterte sie und hielt sich eine Hand auf ihr plötzlich rasendes Herz. »Wer ist der Dritte?«

Sein Schulterzucken spürte sie mehr, als dass sie es sah. »Frank Coots ist in der Stadt. Könnte ja sein, dass er Briggs und dessen Kumpel begleitet.«

Wieder piepste das Funkgerät, diesmal dreimal lang.

»Das war Paul, der meldete, dass er Johns Nachricht bekommen hat«, erklärte Ethan und griff nach dem Gerät.

»John ist der lange Piepton?«

Ethan stand auf und zog sie mit sich. »Ja«, bestätigte er. »Das heißt, dass die Halunken vom See her kommen. Ich nehme an, das Eis ist so weit zurückgegangen, dass man ein Boot oder Kanu manövrieren kann.« Ethan wartete, bis Alex mit zwei langen Pieptönen reagierte, dann schaltete er das Mikro viermal ein und aus, um allen zu melden, dass Anna und er auf dem Laufenden waren.

»Wo ist das Pfefferspray, das John dir gegeben hat?«, fragte er, als er leise die Treppe hinunterging.

»In meiner Tasche.« Sie klopfte auf ihre vordere Hosentasche.

»Nimm es in die Hand«, wies er sie an. Am Fuße der Treppe blieb er stehen und hielt sie fest. »Was müsste ich dir versprechen, damit du dich da heraushältst?«

»Dass du dich mit mir heraushältst.«

Er umfasste ihre Schultern fester. »Wie wär’s, wenn du wieder einfrierst, Anna?«, flüsterte er mit belegter Stimme. »Wie letzten Samstagabend.«

»Das werde ich nicht, versprochen. Am Samstag wurde ich überrascht, heute aber bin ich vorbereitet.« Sie klopfte ihm auf die Brust. »Und ich bin wie du darauf erpicht zu sehen, wie Ronald Briggs bekommt, was ihm gebührt. Es geht um mich, Ethan. Ich muss mich endlich meiner Vergangenheit stellen, wenn ich eine lohnende Zukunft haben möchte.«

Er hielt noch immer ihre Hand an seiner Brust fest, beugte sich über sie und küsste sie. »Also gut, mein Schatz.«

Er führte sie zur Hintertür und vergaß auch nicht, die an der Theke lehnende Schrotflinte mitzunehmen. »Ich lasse dich hinter dem großen Felsblock versteckt zurück, während ich gleich neben dem Weg warte, der vom Haus zur Sägehalle führt. Die anderen kommen bereits langsam auf uns zu. Von deinem Versteck aus hast du nach allen Richtungen freien Blick, deshalb ist es deine Aufgabe, uns den Rücken freizuhalten.«

»Warte«, hielt sie ihn zurück, als er die Tür öffnen wollte. »Bear drängt hinaus«, erklärte sie und bückte sich, um den Hund wegzuschieben.

Ethan zog sie hoch. »Wenn Briggs und seine Komplizen Samuels Tod auf dem Gewissen haben, sollte Bear doch mitmachen dürfen, meinst du nicht auch?«

»Aber sie werden ihn sehen und misstrauisch werden.«

»Sie werden ihn nicht sehen. Er ist schwärzer als die Nacht und könnte uns eine Hilfe sein.«

Sie hielt ihn wieder zurück, bevor er hinausgehen konnte. »Ethan, er ist schon alt«, zischelte sie. »Er könnte verletzt werden.«

Ethan drehte sich um und umfasste mit einer Hand ihre Wange. »Dann soll er im Kampf fallen, Anna. Gib ihm die Chance und überlass alles andere ihm selbst.«

Sie ließ sich seine Worte durch den Kopf gehen und dachte an die vielen liebevollen Bemerkungen über Bear, die Samuel in seinen Briefen hatte einfließen lassen. »Also gut«, sagte sie und schmiegte sich an ihn. »Wir gehen die Sache gemeinsam an.«

»Braves Mädchen«, meinte Ethan, der endlich die Tür öffnete und hinausspähte.

Er ließ Bear zuerst hinaus und schlich dann mit Anna an der Hand die Verandastufen hinunter. Schweigend gingen sie über den leicht ansteigenden Hof, und da ihre Augen sich nicht erst an die Dunkelheit anpassen mussten, sah Anna den Felsblock sofort, der als ihr Ausguck dienen sollte. Nun ging ihr auf, weshalb Ethan sie gebeten hatte, graue und nicht schwarze Sachen anzuziehen. In gedämpftem Grau würde sie sich im schwachen, zwischen den Ästen einfallenden Licht der Mondsichel nicht vom Stein abheben.

»Von hier aus überblickst du den größten Teil des Camps«, sagte er dicht an ihrem Ohr. Er half ihr, sich neben dem Stein niederzulassen, und reichte ihr das Funkgerät. »Wenn einer von uns in der Klemme steckt, dann piepst du die anderen an.«

»Wird gemacht.« Sie nahm das Gerät in die eine und das Pfefferspray in die andere Hand.

Ethan gab ihr einen Kuss auf die Stirn und drückte ihre Schulter, um dann lautlos wie ein Gespenst in der Nacht zu verschwinden. Anna lehnte sich an ihren Stein, während sie versuchte, die Schatten von den festen Objekten zu unterscheiden. Da fiel ihr ein, warum Tarnungen so gut funktionierten: Raubtiere reagierten auf Bewegung und nicht auf Formen. Sie tat es ihnen gleich und konzentrierte sich nun auf Bewegungen in ihrer Umgebung.

Sie hatte keine Ahnung, wohin Bear verschwunden war. Ethan hatte in der Nähe des Hauses bleiben wollen – wohl um sich nicht zu weit von ihr zu entfernen. Paul würde von der Hauptstraße her vorrücken, er würde aber lange brauchen, um die Meile in der Finsternis hinter sich zu bringen. Und John und Alex lagen über das ganze Camp verteilt auf der Lauer.

Ron hatte hier fast fünf Monate lang herumgestöbert, was also wollten die drei hier noch durchsuchen? Und warum zog Frank Coots nicht einfach vor Gericht? Konnte er sich nicht denken, dass der Kaufvertrag nicht mehr existierte, wenn seine Handlanger ihn bis jetzt nicht gefunden hatten? Das war echt stur.

Und mörderisch. Hatte Frank wirklich Gramps Unfall herbeigeführt? Wegen eines Streifens Land und …

Dort! Zu ihrer Linken, auf halbem Weg zwischen Haus und See. Dort bewegte sich etwas … nein, einige Etwas bewegten sich! Anna drückte Funkgerät und Pfefferspray an sich. Es konnten die Bösewichte sein – aber auch Alex oder John.

Dann vernahm sie geflüsterte Worte der sich bewegenden Schatten, Worte, die ihr verrieten, dass es Ronald Briggs und seine Komplizen waren. Sie rührte keinen Muskel, als sie sich näherten, und wagte kaum zu atmen. Angestrengt lauschend versuchte sie zu verstehen, was gesprochen wurde.

Verdammt, wo steckte Ethan?

»Bist du sicher, dass niemand da ist?«, fragte einer der Schattengestalten.

»Die Frau war eine Weile im Haus, auch ein paar Männer waren mit dem Sheriff kurz da. Ich folgte ihnen, als sie alle zusammen gingen. Sie sind jetzt bei Loon Cove Lumber, auch das Weibsstück. Dort werden sie jetzt tagelang den Dreck wegräumen«, sagte der Zweite.

»Dann bringen wir die Sache rasch hinter uns und verschwinden wieder«, schlug eine dritte – und vertraute – Stimme vor.

»Immer mit der Ruhe, Frank. Eile verleitet zu Fehlern. Wir legen das Feuer und paddeln dann davon, als hätten wir alle Zeit der Welt. Das ganze Camp wird in Vollbrand stehen, ehe jemand bemerkt, dass es brennt. Die Feuerwehr ist am Ende ihrer Kräfte, so dass es morgen hier nur glosende Asche geben wird.«

Anna atmete schaudernd ein. Sie wollten Fox Run niederbrennen? Frank hatte offenbar entschieden, dass niemand den Vertrag bekommen sollte, falls es ihm nicht gelänge, ihn doch noch zu finden. Sie ließ den Blick über das Camp schweifen und suchte nach Anzeichen von Ethan und den anderen, während sie zugleich das Gespräch belauschte.

Die in ein leises Gespräch vertieften Schatten gingen seitlich um ihr Haus herum und blieben keine hundert Yards von Anna entfernt stehen, an einer Stelle, wo das gefilterte Mondlicht auf die drei Männer fiel. Einer war unverkennbar Frank Coots, der andere war eher konservativ gekleidet und sprach mit Bostoner Akzent, während der dritte wie ein Einheimischer aussah, obwohl Anna ihn aus der Stadt nicht kannte. War das Ron Briggs? Er sah … nun, er kam ihr gar nicht Furcht einflößend vor.

»Frank, du legst ein paar Feuer um das Haus herum«, ordnete der Mann mit dem Bostoner Akzent an. »Gary, du setzt Sägeschuppen und Küchenhaus in Brand. Ich übernehme die anderen Nebengebäude.« Er stieg die Stufen zur Veranda hinauf und öffnete die Tür zum Generatorhaus. »Bingo«, meinte er, griff hinein und zog etwas heraus, das aussah wie einer ihrer Dieselkanister.

Diese dreckigen Bastarde; die wollten doch glatt ihr Sägewerk mit ihrem eigenen Treibstoff abfackeln! Und der Kerl aus Boston hatte den Einheimischen Gary genannt und nicht Ron. Wo zum Teufel steckte Ron Briggs? War er wegen Unfähigkeit ersetzt worden?

Plötzlich traten zwei Männer aus dem Dunkel, aus verschiedenen Richtungen. »Wir haben genug gehört, Gentlemen«, sagte John Tate, der Knarre und Taschenlampe auf den verdutzten Brandstifter richtete. »Sie sind verhaftet.«

Der Einheimische namens Gary rannte los, auf den Wald zu, nur um plötzlich mit einem erstickten Aufschrei aufs Gesicht zu fallen. Anna sah, dass Ethan den Kerl am Kragen packte und ihn auf die Beine zerrte. »Warum so eilig, Gary?«, fragte Ethan ihn scharf. »Die Party fängt doch erst an.«

»John, hör mal«, sagte Frank Coots mit erhobenen Händen und großen Augen. »Es ist alles ganz anders.«

»Wie denn, Frank?«, wollte John wissen, als er auf ihn zutrat und ihm Handschellen anlegte. »Ein wenig spät für Besuche in der Nachbarschaft, meinst du nicht auch?«

»Wir sind nur da, um etwas zu suchen, das ich vor einem Monat verloren habe, als ich Anna besuchte. Ich bin so gut wie sicher, dass ich mein Taschenmesser hier irgendwo fallen gelassen habe.«

»Ich kann mich nicht erinnern, dass Sie bis hinter das Haus kamen«, sagte Anna, die endlich aus dem Schatten ihres Felsblocks hervorkam und zu den Männern trat. »Sie kamen und gingen durch meine Vordertür«, setzte sie hinzu. Ihr fiel auf, dass auch Alex eine Waffe auf die Männer richtete, vor allem auf den Burschen aus Boston, der noch kein Wort geäußert hatte.

»Anna, sagen Sie ihnen, dass wir Partner sind«, bat Frank.

»Haben Sie meinen Großvater getötet, Frank?«

»Samuel?«, fragte er. Er hielt den Atem an und blickte über die Schulter zu John, der eben die Handschellen hinter seinem Rücken befestigte. »Ich hatte nichts damit zu tun, Tate«, verteidigte er sich in verzweifeltem Jammerton. »Das geht ausschließlich auf Rons und Garys Konto.«

»Wir wollten den alten Mann nur ein wenig außer Gefecht setzen«, beeilte Gary sich zu sagen, während Ethan ihn noch immer am Kragen festhielt. »Töten wollten wir ihn nicht.«

»Und Anna?«, knurrte Ethan und schüttelte seinen Gefangenen heftig. »Wenn ihr niemanden töten wolltet, warum wurde dann ihr Unfall genauso inszeniert?«

»Auch das war Rons Idee«, gestand Gary, der sich vor Ethans Wut duckte. »Sie würde nur ein paar Schrammen abkriegen, sagte er, weil diesmal genügend Schnee da war, um den Aufprall zu dämpfen.«

»Wo ist Briggs?«, wollte Ethan wissen und schüttelte Gary wieder, als dieser sich mit der Antwort Zeit ließ.

»Abgehauen. Inzwischen ist er sicher schon auf halbem Weg nach Mexiko. Er hatte ein Polizeiauto vor seinem Haus gesichtet.«

John trat zu ihnen und legte dem Mann aus Boston, der Anna zu ruhig und kooperativ vorkam, rasch Handschellen an.

»Wer ist Ihr neuer Partner, Frank?«, fragte John.

»Klappe halten, Coots«, knurrte der Mann drohend. »Wenn du dichthältst, kommen wir bis Mittag gegen Kaution frei.«

»Ihre Anwälte aus der Stadt werden hier oben nicht viel ausrichten«, warnte John ihn, packte seinen Arm und drehte ihn herum. »Unsere Richter mögen Typen nicht, die unsere Betriebe niederbrennen.«

John warf Ethan ein Paar Handschellen zu, dann griff er nach dem an seiner Schulter befestigten Funkmikro. »Wir alle sind hier in Sicherheit«, sprach er hinein. »Wir haben drei Mann zu transportieren. Kommt rasch.«

»In Ordnung, Tate«, war die Antwort. »Wir sind in zehn Minuten da.«

Da nun Verstärkung unterwegs war, atmete Anna erleichtert auf, obwohl alles ganz glattgegangen war. Dennoch wurde sie das Gefühl nicht los, dass etwas nicht stimmte.

»Zum Teufel, Paul, wo steckst du?«, schimpfte Alex in sein eigenes kleines Funkgerät. »So lange braucht kein Mensch bis hier herunter.«

Er ließ die Taste los und wartete, aber Paul meldete sich nicht.

»Paul«, rief Alex nun energischer, »gib endlich Antwort!«

»Mist«, knurrte Ethan und schob Gary zu den anderen zwei Gefangenen. Er ging zu Anna, nahm ihr Funkgerät und hielt es an seinen Mund. »Verdammt, wenn du dich verirrt hast, dann gib es zu«, sagte er. »Wo steckst du?«

Das Funkgerät blieb stumm.

»Er könnte gestürzt sein und sich verletzt haben. Womöglich liegt das Funkgerät außer Reichweite«, mutmaßte Anna und legte ihre Hand auf Ethans angespannten Arm. »Vielleicht ist er gestürzt, und das Gerät ist kaputt. Wir müssen ihn suchen.«

»Setzt euch hier auf die Stufen«, meinte John und schob seine drei Gefangenen zur Veranda. »Anna, das Pfefferspray haben Sie doch noch?«

»Ja, hier«, antwortete sie und ging zu John.

»Kann man Ihnen zumuten, die drei zu bewachen, während wir Paul suchen?«, fragte er.

Sie nickte. »Ich werde sie nicht aus den Augen lassen.«

»Sie tragen Handschellen, und ich habe sie nach Waffen abgetastet. Zwei Hilfssheriffs müssten in Kürze hier eintreffen, aber wenn einer der drei auch nur mit der Wimper zuckt«, sagte er mehr zu den drei Gefangenen als zu ihr, »richten Sie das Pfefferspray auf sein Gesicht und drücken ab. Verstanden?«

»Verstanden«, bekräftigte Anna und hielt das Spray so, dass die drei es sehen konnten.

Ethan legte ihr den Arm um die Schultern und drückte sie leicht. »Sie machen das tadellos«, versicherte Tate ihr und gab ihr das Funkgerät zurück. »Wir sind in Hörweite. Sollte es Ärger geben, schreien Sie einfach ganz laut.«

»Sie können mir ja eine Waffe dalassen«, schlug sie vor.

»Bloß nicht!«, stöhnte John, und Ethan lachte nur.

»Los, gehen wir«, sagte Alex, der schon unterwegs zum Wald in Richtung Hauptstraße war. »Wir trennen uns. John, du nimmst den Weg. Ethan, du suchst den Bereich zwischen uns ab.«

»Schaffst du das?«, hakte Ethan noch einmal nach, diesmal im Frageton.

»Aber sicher«, versprach sie und versetzte ihm einen Schubs, um ihm endlich Beine zu machen. »Tatsächlich«, fuhr sie ein wenig lauter fort, damit ihre Gefangenen es hören konnten, »hoffe ich, dass einer von ihnen etwas versucht.« Sie drehte sich zu ihnen um und richtete das Spray direkt auf ihre Gesichter. »Sobald sie außer Hörweite sind, könnte ich euch einsprühen, weil ihr mein Haus niederbrennen wolltet«, flüsterte sie aufgebracht.

»Anna«, flehte Frank und versuchte der Bedrohung auszuweichen. »Das alles war nicht meine Idee.«

»Sie wussten von dem alten Vertrag, nicht wahr? Haben Sie den gesucht, Frank? Damit ich nichts in der Hand hätte, um zu beweisen, dass Samuel Ihren Vater nicht übervorteilte?« Sie versetzte ihm einen Tritt gegen sein Schienbein und hob drohend das Spray, als er aufschrie. »Sie haben meinen Großvater getötet, Sie Schuft! Aus Habgier.«

»Damit hatte ich nichts zu tun«, erwiderte Frank. »Das war Rons und Garys Idee. Nie habe ich verlangt, dass sie den alten Mann anrühren.«

Nun trat Gary Frank gegen das andere Schienbein. Wieder schrie Frank auf und drückte sich an den Kerl aus Boston, um auszuweichen. Der aber drängte ihn mit der Schulter zurück, gerade als etwas Festes gegen Annas Seite stieß, sie zu Boden riss und mit scharrendem dumpfem Aufprall auf ihr landete.

»Ach sieh mal an, wen ich da erwischt habe«, stieß ihr Angreifer hervor, als Anna den Auslöser der Spraydose drückte.

Sofort war die Luft mit zerstäubtem Pfeffer erfüllt, und beide husteten heftig. Pfeffer brannte in Annas Nase und ließ ihre Augen tränen. Sie drückte die Sprechtaste an ihrem Funkgerät, rammte gleichzeitig ihrem Angreifer den Ellbogen in die Rippen und trat ihn heftig, und das alles während sie bemüht war, sich von ihm wegzurollen.

»Da ist ein Vierter!«, schrie sie, ehe ein Hustenkrampf sie überfiel. Das scharfe Spray brannte im Mund so gemein wie in den Augen.

Der vierte Mann, der ebenso stark hustete, warf sich wieder auf sie, und im selben Moment landete etwas anderes auf ihnen beiden. Der Kerl aus Boston, dachte Anna. Sie schloss die Augen und drückte auf ihr Spray, während sie sich wieder wegzurollen versuchte. Von seinen Handschellen behindert konnte er dem Spray nicht ausweichen und schrie laut auf, als er mitten im Gesicht getroffen wurde. Anna war nun frei und stand auf. Brennende Tränen wegblinzelnd drückte sie auf die Sprechtaste. »Ich brauche Hi-«

Ihre Bitte blieb unausgesprochen, denn sie wurde wieder angegriffen. Doch als sie im Begriff stand, dem Kerl mit dem Funkgerät ins Gesicht zu schlagen, ertönte in unmittelbare Nähe aus der Dunkelheit ein tiefes, haarsträubendes, gefährlich klingendes Knurren, das den Mann erstarren ließ.

Anna senkte den Kopf, und der Mann bäumte sich auf, als Bear ihn ansprang und einen wilden, urtümlichen Laut ausstieß, der ihr einen Schauer über den Rücken jagte. Ihr Angreifer brüllte auf, weil Bear ihn in irgendeinen Teil seiner Anatomie biss. Der Hund sprang mit so großer Wucht, dass die beiden von ihr fortgerissen wurden. Anna rappelte sich blindlings auf, stolperte gegen den Kerl aus Boston, der unter Bears Angriff wie erstarrt war, und sprühte ihn wieder an, um sicher zu sein, dass er auf dem Boden blieb. Dann rannte sie blindlings Bear nach, geleitet von wilden Kampfgeräuschen.

Plötzlich war Ethan an ihrer Seite. »Zurück«, rief er und drängte sie beiseite, um Bear selbst nachzusetzen.

Anna wollte ihm nachsetzen, doch stählerne Arme schlangen sich um sie. »Sie bleiben hier«, befahl John.

Nun folgte Sirenengeheul, Lichter kreisten. Anna, die mit brennenden Augen blinzelte, konnte Bear und den Mann, die miteinander kämpften, sowie Ethan, der auf die beiden zulief, kaum erkennen.

Plötzlich waren Bear und der Mann wie vom Erdboden verschluckt.

John ließ Anna los und lief zu Ethan, ließ den Strahl seiner Taschenlampe zwischen den Bäumen tanzen, um ihn zuletzt auf den Boden zu richten. Anna konnte nur ein gähnendes Loch in der Erde ausmachen.

Sie rannte zu Ethan und suchte Halt an seinem Arm, als sie in das Loch hinunterstarrte. »Bear!« In ein Fuß tiefem Wasser am Grund des alten Brunnens lag der Körper des Labradors unter dem Mann. Beide rühren sich nicht.

»Nicht zu nahe!«, warnte Ethan und drückte sie mit einem Griff, fest wie ein Schraubstock, an sich. »Man weiß nicht, wie sicher der Boden ist.«

»Er ist tot, nicht wahr?«, sagte sie leise. Tränen stiegen ihr in die brennenden Augen.

»Er hat sich das Genick gebrochen«, erklärte Ethan in ihr Haar. Er wusste, wen sie meinte, und drückte sie mit beiden Armen fest an sich. »Er war sofort tot, Anna«, flüsterte er. »Samuel konnte er nicht helfen, dafür konnte er jetzt jemanden retten, den er liebte. Er starb als Held.«

»Diese Angriffslust …«, meinte sie leise. »Er fiel den Mann so ungestüm wie ein … wie ein starker junger Hund an.«

»Ich habe es gesehen, mein Schatz.« Ethan drückte sie an sich. »Er konnte an Briggs Vergeltung üben.«

Anna atmete tief ein und drückte den Kopf an Ethans Brust. Ihr Angreifer war Ron Briggs!

Vielfaches Sirenengeheul hallte durch den Wald, immer lauter, während die Fahrzeuge über ihre Zufahrt zum Camp rasten. Die kreisenden blauweißen Lichter der zwei Cruiser des Sheriffs durchdrangen die Bäume, ihre Scheinwerfer beschienen den Hügel, als sie unten anhielten. Plötzlich trat Alex aus dem Walddickicht, den Arm um einen schwankenden Paul, der etwas an seine blutende Stirn drückte, das aussah wie ein herausgerissenes Stück eines Flanellhemdes.

»Paul!« Anna lief auf ihn zu. »Was ist passiert?«

»Briggs lag knapp außerhalb des Camps auf der Lauer.« Er zuckte zusammen, als sie das Stück Stoff anhob, um seine Wunde zu begutachten. »Er hat mich überrumpelt, als ich an ihm vorüberging. Es ist nichts passiert.« Seine Verlegenheit machte ihm mehr zu schaffen als der Schmerz.

»Anna, gibt es hier eine Leiter?«, fragte John. »Wir müssen Briggs fortschaffen.«

»Sie hängt an der Rückseite des Hauses«, antwortete sie und wischte mit ihrem Hemdzipfel über die Augen.

Ethan, der wieder an ihrer Seite war, führte sie den Hang hinunter. »Du musst dein Gesicht waschen«, empfahl er ihr. »Das ist das Problem beim Pfefferspray. Es wirkt auf den Benutzer ebenso wie auf das beabsichtigte Opfer.«

»Wo zum Teufel steckt Gary Simpson?«, knurrte John, der vor ihnen ging. »Verdammt, er ist getürmt!«

»Mit seinen Handschellen kommt er nicht weit«, beruhigte Alex ihn, der Paul hinunter zum Haus führte und ihn Ethan übergab. »Ich mache mich auf die Suche nach dem Dummkopf«, erklärte Alex mit einem müden Seufzen.

Ethan führte Anna und Paul ins Haus, dann ließ er seinen Bruder in der Küche zurück, um mit Anna ins Bad zu gehen. »Wasche deine Augen mit kaltem Wasser«, riet er ihr. »Wo ist dein Erste-Hilfe-Kasten?«

»Im Schrank über dem Vogelfutter«, erwiderte sie und ließ das Wasser laufen. »Kannst du den Generator einschalten, damit wir Licht haben?«

»Klar.« Er lief durch die Hintertür hinaus. »Tate! Hol nur Briggs herauf!«, brüllte er. »Den Hund hole ich selbst!«

Anna ließ den Kopf über dem Waschbecken hängen. Armer, tapferer, großherziger Bear. Er war ihr mit derselben edlen Beherztheit zu Hilfe geeilt wie seinerzeit Ethan. Was für ein Glück, wenn man so geliebt wurde.

In dem Moment, als das Licht aufflammte, hob sie den Kopf und sah unter Tränen blinzelnd ihr Spiegelbild vor sich. Aber liebte Ethan sie wirklich? Und konnte Delaney mit ihrer Vermutung recht haben, dass ihr Onkel einfach nicht imstande war, seine Gefühle in Worte zu fassen?

Verdammt, hatte sie am Ende das gleiche Problem? Anna ließ wieder den Kopf hängen und benetzte ihr Gesicht. Ein feines Paar – keiner war bereit, dem anderen seine Gefühle zu gestehen. Sie liebte Ethan mehr als ihr Leben – immer schon; und doch hatte sie es sich selbst nicht eingestanden, und ihm schon gar nicht, aus Angst, ihre Kinderfantasie würde eines grausamen Todes sterben, wenn er ihre Liebe zurückwies.

Und Claire hatte es gewusst und ihr deshalb Kondome, Schmuck und schicke Klamotten geschickt. Ihre Stiefmutter hatte gewusst, dass Anna nicht nur wegen ihres Erbes nach Maine gegangen war, sondern wegen des Mannes, den sie seit ihrem elften Lebensjahr liebte.

Und ihr Daddy hatte es auch gewusst – und sich so heftig ihren Plänen widersetzt, da die Gefahr bestand, seine einzige Tochter könnte für den Rest ihres Lebens in Maine bleiben.

Anna griff seufzend nach einem Handtuch, um sich abzutrocknen. Drei Wochen waren für die Planung einer Hochzeit sehr knapp bemessen.