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Kein Wunder, dass Sie hier in der Gegend keine Freunde finden, wenn Sie die Leute so empfangen«, sagte Tom, als er von einem Ohr zum anderen grinsend aus seinem Truck stieg. Er deutete auf die Flinte in ihrer Hand. »Ist sie geladen?«

Anna klappte die uralte Waffe auf und schaute durch den leeren Lauf in den Himmel. »Ich traue Samuels alten Patronen nicht. Und ich hatte keine Zeit, neue zu kaufen.«

»Dann besorgen Sie sich lieber gleich eine neue Schrotflinte. Die da könnte glatt nach hinten mitten in Ihr Gesicht losgehen.«

Anna lehnte die nutzlose Waffe im Hausinneren an die Wand und drehte sich wieder zu Tom um, der die Verandastufen heraufkam.

»Schrecklich, wie Sie aussehen«, erklärte er nach einem Blick in ihr Gesicht.

»Danke.« Sie beugte sich zur Seite, um hinter ihn zu gucken. »Was haben Sie da?«

»Es wird Ihre Wehwehchen heilen. Mildred hat für Sie einen Blaubeerkuchen gebacken.« Er zog einen tiefen, schwer aussehenden Teller hinter seinem Rücken hervor. »Und das da«, setzte er hinzu, griff in seine Tasche und holte eine Halbliterflasche heraus, »ist von mir.«

Anna öffnete die Schokomilch auf der Stelle, trank einen tiefen Schluck und wischte ihren wunden Mund vorsichtig am Ärmel ab. »Danke.« Sie lächelte Tom zu. »Das habe ich gebraucht.«

»Und jetzt sagen Sie mir, auf wen Sie schießen wollten.« Er scheuchte sie vor sich ins Haus.

»Sie müssen ihnen unterwegs begegnet sein«, antwortete sie und ging voraus in die Küche. Tom erwartete natürlich, dass sie Mildreds milde Gabe mit ihm teilen würde.

»Ich bin an einer Karre voller Anzugträger vorübergefahren. Ich schätze also, dass es die Bauleute und nicht die Historiker waren.« Er setzte sich auf einen Stuhl am Tisch und warf seine Jacke über einen anderen Stuhl.

»Bingo. Diesmal haben sie ihre schwersten Geschütze aufgefahren.« Sie setzte Wasser auf. »Aus Boston.«

»Und deshalb wollten Sie ihnen diesmal Ihr Geschütz zeigen?« Tom schüttelte seufzend den Kopf. »Hören Sie damit auf, Männer mit Montiereisen und nicht geladenen Schrotflinten zu bedrohen. Eines schönen Tages wird jemand Sie zwingen, Farbe zu bekennen, ob es ernst gemeint ist.«

Sie rieb ihre geschwollene Wange. »Ist schon passiert.«

»Sie haben daraus wohl nichts gelernt?«

»Ich habe gelernt, außer Reichweite zu bleiben.« Sie setzte sich ihm gegenüber und stützte ihre Arme auf den Tisch. »Also, was führt Sie heute zu mir?«

»Ich bin ein besorgter Freund. Reicht das nicht?«

»Nein.« Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf den Kuchen. »Das ist zwar wunderbar, ist aber nicht der Grund Ihres Kommens. Also, was gibt es?«

Tom stand auf und machte sämtliche Schubladen auf, bis er ein Messer gefunden hatte. Anna wartete geduldig. Er kam zurück an den Tisch und setzte sich wieder. Dann begann er methodisch wie ein Chirurg den Kuchen anzuschneiden. »Ich habe Loon Cove Lumber verkauft«, meinte er im Flüsterton.

Anna lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und starrte ihn an.

Als Tom schließlich den Blick hob, war sein Gesicht fast so rot wie ihres. »Nächsten Monat wird der Vertrag unterschrieben.«

Sie sagte noch immer nichts.

Tom legte das Messer hin. »Ich bin müde, Anna. Und ich friere. Ich möchte dort leben, wo ich nicht durch hüfthohen Schnee stapfen muss, wenn ich die Post hole. Ich möchte im Januar in Shorts am Strand in Florida laufen, und ich möchte meine Enkel öfter als nur einmal im Jahr sehen.«

Sie machte den Mund auf, um zu antworten, doch kam nichts heraus.

Tom beugte sich über den Tisch und fasste nach ihren Händen. »Es wird sich nichts ändern. Ihren Job werden Sie behalten. Sie werden nur einen neuen Boss bekommen.«

»Wen?«

Er rückte ab und stand wieder auf. Dann öffnete er einige Hängeschranktüren, bis er Teller gefunden hatte. Als er wieder am Tisch stand und den Kuchen verteilte, vermied er es, sie anzusehen. »Ich kann es jetzt nicht sagen, weil ich mein Wort gegeben habe. Es sind gute Leute. Einheimische. Sie werden den Betrieb so führen, dass die Interessen der Mitarbeiter gewahrt werden.«

»Einheimische«, wiederholte sie. »Das bedeutet, dass ihnen ein weiblicher Vorarbeiter nicht in den Kram passen wird.«

Nun erst sah er sie an. Seine Stirn war in Falten gelegt. »Wer sagt das? Sie sind eine verdammt gute Vorarbeiterin.«

Anna hob mit einem Auflachen die Hände. »Wir sind in Maine, Tom, wo Männer noch Männer sind und Frauen ins Haus gehören, um zu kochen, zu putzen und Kinder zu kriegen.« Wieder lachte sie über seinen finsteren Gesichtsausdruck. »Wie schwierig war es für Sie, mich einzustellen? Ihre Bedenken, ob die Leute von mir Anordnungen entgegennehmen würden, waren so groß, dass Sie einen ganzen Monat mit drohender Miene hinter mir gestanden haben, damit kein Einziger es wagen sollte, mir Schwierigkeiten zu machen.«

»Sie haben sich bewährt. Und ich habe im Kaufvertrag dafür Vorsorge getroffen. Die ersten zwölf Monate darf kein einziger meiner Leute gefeuert werden.«

Anna lehnte sich zurück. »Wie lange denken Sie schon über einen Verkauf nach?«

»Sehr lange«, musste er zugeben. »Mildred bearbeitet mich bereits seit Jahren, dass ich mich zurückziehen soll.«

Anna ging an den Herd, als der Kessel zu pfeifen begann, tat Teebeutel in die Kanne und stellte sie auf den Tisch. Dann holte sie zwei Tassen und aus dem Kühlschrank Milch für Tom.

»Anna, ich bin zweiundsiebzig. Höchste Zeit, dass ich die Früchte meiner Arbeit ernte«, fuhr er fort. »Und da meine beiden Söhne sich außerhalb von Maine niedergelassen haben, hält mich hier nichts mehr.«

»Und die Wälder?«, hakte sie nach. »Hier haben Sie völlige Bewegungsfreiheit.« Sie fasste nach seiner Hand, als er nach der Milch griff. »In Florida werden Sie nur Menschen vorfinden. Tom, dort unten gibt es nicht mal richtige Bäume.«

Er wechselte ihren Griff und drückte ihre Hand. »Alles ist schon entschieden, Anna. Und ich bin froh darüber. Und jetzt freuen Sie sich für mich.«

Sie bedeckte seine Hand und erwiderte den Druck. »Das tue ich doch, Tom. Ich bin nur ein wenig überrascht, das ist alles.« Sie lächelte. »Aber in Shorts kann ich mir Sie trotzdem nicht vorstellen.«

Sein Gesicht rötete sich wieder, er befreite seine Hand und machte sich über seinen Kuchen her. »Da wäre noch etwas«, sagte er, ehe er zu essen anfing.

Anna hatte selbst ein Stück Kuchen aufgespießt und hielt auf halbem Weg zum Mund inne. »Was denn?«

»Ich habe eine Ihrer Hütten dem neuen Eigentümer angeboten«, erklärte er und ließ dieser Information rasch einen Schluck Tee folgen, worauf er in seine Serviette spuckte und würgte. »Verdammt. Heiß ist das.«

Anna sah ihn nur finster an.

Seine Reaktion war ein Lächeln. »Er wird Miete zahlen«, bot er ihr als Lockmittel an. »Sechshundert Dollar im Monat.«

»Was!«

»Für ein halbes Jahr«, setzte er hinzu, ihren Schock ignorierend. »Das Geld können Sie für Ihre Steuern verwenden.«

»Der Mann wird entsetzt sein, wenn er sieht, was er gemietet hat. In der einzigen bewohnbaren Hütte gibt es nicht mal fließendes Wasser.«

»Ein Mieter bedeutet auch, dass Sie Muskelkraft zur Verfügung haben, wenn Ihr Gespenst sich wieder bemerkbar machen sollte«, fuhr er fort, ohne auf ihre Proteste einzugehen. Er lächelte breit. »Das ist das Beste an der Sache.«

»Für Sie«, fuhr sie ihn an.

Er nickte. »Ich habe ein besseres Gefühl, wenn ich weiß, dass Sie hier draußen nicht allein sind.« Er warf einen Blick auf den zu Annas Füßen zusammengerollt liegenden Bear. »Sie wollen sich ja keinen neuen Wachhund zulegen, also habe ich Ihnen einen besorgt.«

»Haben Sie diesem Mann auch gesagt, dass Gespensterjagd Teil des Mietvertrages ist?«, fragte sie. Sie stand auf und stützte die Hände auf den Tisch. »Ich kann selbst auf mich aufpassen.«

»Sechshundert Dollar mal sechs sind dreitausendsechshundert, Anna. Damit lässt sich eine hübsche Summe Steuerschuld abzahlen.«

Anna atmete auf, setzte sich wieder und rieb ihr schmerzendes Kinn. Sie hatte die Zähne zusammengebissen, wie sie jetzt merkte. Tom hatte recht, damit konnte sie ihre Schulden erheblich reduzieren. Und Fließwasser in der alten Hütte anzuschließen konnte doch nicht so schwierig sein. »Wer ist es denn?«, wollte sie wissen und griff wieder zu ihrer Gabel.

»Sie werden ihn kommenden Monat kennenlernen.«

»Wen?«

»Das darf ich nicht sagen, Anna. Ich habe es versprochen. Die Käufer sind Einheimische und wollen nicht, dass der Verkauf vor dem endgültigen Abschluss bekannt wird.« Er lächelte. »Das wird früher der Fall, als ich erwartet habe. Erst sollte es am ersten April passieren, doch mein Anwalt rief gestern an und sagte, wir können am fünfzehnten März unterschreiben.«

»Tom, sind Sie Ihrer Sache ganz sicher? Sie wissen genau, was Sie tun?«

»Ganz sicher, Mädchen.«

»Dann freue ich mich wirklich mit Ihnen. Auch Samuel würde sich freuen, meinen Sie nicht auch?«

»Er würde sich auch darüber freuen, dass Sie einen Mieter bekommen«, antwortete er. »Als er Ihnen den Besitz hinterließ, machte er sich Sorgen, wie Sie hier allein leben würden.«

»Sicher hätte er nicht gedacht, dass ich so bald hier sein würde, da er ja nicht geplant hatte, in die Schlucht zu stürzen.«

Ehe er sich wieder ein Stück Kuchen in den Mund schob, murmelte Tom, er sei froh, dass der alte Samuel nicht im Bett gestorben war. Anna richtet den Blick auf ihren Teller.

Ja, der Samuel Fox, den sie in Erinnerung hatte, hätte seinen Lebensabend nicht in einem Altersheim verbringen wollen, und das war ihm auch erspart geblieben. Dennoch wünschte sie sich, sie hätten wieder zueinandergefunden, bevor er verunglückte.

»Ich weiß nicht, ob ich einen Mann als Mieter möchte«, überlegte sie laut, nur um etwas zu sagen. Sie sah Tom reuig an. »Hier ist es so friedlich. Niemand steckt seine Nase in meine Angelegenheiten.«

»Der neue Eigentümer wird lernen müssen, wie es in einem Sägewerk läuft. Er wird zu eingespannt sein, um Ihnen lästig zu werden.« Plötzlich blitzte es in seinen Augen auf. »Wahrscheinlich hat er vor Gespenstern mehr Angst als Sie.«

Anna verdrehte die Augen. »O Gott. Er wird mich bei der Arbeit herumkommandieren und seine Nase in alles stecken.«

Tom verspeiste den Rest seines Kuchens und trank seine Tasse leer, dann stand er auf und zog seinen Mantel an. »Schaffen Sie sich nicht künstlich Ärger, Mädchen. Wenn der Mann weiß, was gut für ihn ist, wird er Ihnen das Herumkommandieren überlassen.« Er ging zur Küchentür und drehte sich dort nach ihr um. »Bloß sollten Sie ihn in den ersten Tagen nicht mit dem Montiereisen bedrohen.«

 

Kaum war Tom gegangen, ging Anna zu der einzigen Hütte, die noch nicht so windschief war, dass sie ihren neuen Mieter abgeschreckt hätte. In seiner besten Zeit war Fox Run Mill ein florierendes Sägewerk gewesen, das täglich zwei Zehn-Stunden-Schichten gefahren hatte. Der Betrieb, der sich aus zwei Dutzend über fast zehn Morgen verstreuten Gebäuden zusammensetzte, lag inmitten von zweitausend Morgen dichten Waldes zwischen der Hauptstraße und Frost Lake. Die meisten Bauten befanden sich in traurigem Zustand, einige waren völlig eingefallen. Der Stall, der über dreißig Pferden Platz geboten hatte, war vergleichsweise noch gut erhalten. Der niedrige Bau, in dem sich die Hauptsäge befunden hatte, erstreckte sich über fast hundertfünfzig Fuß und war ebenfalls einigermaßen intakt, genauso wie das Küchenhaus und die Unterkünfte für die ledigen Arbeiter. Aber etliche Schuppen und viele der Familienhütten hatten den Kampf mit der Natur aufgegeben und verschmolzen allmählich mit dem vordringenden Wald.

Vor hundert Jahren, als Holzarbeit noch sehr arbeitsaufwendig gewesen war, hatte Fox Run Mill als Winterquartier für fast neunzig Holzfäller und Sägewerker sowie deren Familien gedient. Jetzt war es ein Geister-Camp. Und seit drei Monaten gehörte es ihr – Geister inklusive.

Seit Anna eingezogen war, hatten sich hier sonderbare Dinge abgespielt. Nachts drangen zuweilen Geräusche aus den verschiedenen Nebengebäuden und rissen sie aus dem Tiefschlaf. Wenn sie dann am Morgen nachsah, waren Werkzeuge und alte Ausrüstungsgegenstände verschoben worden, als hätte ihr Gespenst etwas gesucht. Eines Morgens musste sie feststellen, dass sogar ihr Truck durchstöbert worden war.

In Wahrheit aber waren Gespenster im Moment ihr geringstes Problem, da die Steuerbehörde viel bedrohlicher war. Samuel hatte ihr einen Haufen Steuerrückstände hinterlassen. Anna steckte nun bis zum Hals in Schulden. Sie gestand es sich nur ungern ein, aber Tom Bishop hatte recht: Dreitausendsechshundert Dollar brachten sie der Schuldenfreiheit ein ganzes Stück näher.

Und außerdem: Was war schon ein Mann mehr in ihrem Leben? Sie war noch keinem begegnet, den sie nicht mit ein wenig berechnendem Charme hätte manipulieren können. Sie grinste. Und wenn ihr Charme nicht wirkte, blieben noch immer das Montiereisen oder die Knarre.

Anna blieb vor einer Hütte stehen, die noch einigermaßen gerade stand, und inspizierte sie kritisch. Sie neigte sich nach links, das Dach war eingesunken, doch war sie noch so weit intakt, dass sie dem neuen Besitzer von Loon Cove Lumber als Quartier zuzumuten war. Und was das Beste war, sie stand in beträchtlicher Entfernung von ihrem Haus.

Plötzlich landete Charlie auf ihrem Kopf. »Lästiger Kerl. Jetzt habe ich keine Zeit zum Spielen«, sagte sie zu dem Vogel und ließ ihn auf ihrem Finger Platz nehmen, damit sie ihn an ihr Gesicht halten konnte. »Du darfst dich nicht so anschleichen«, ermahnte sie ihn. »In einem Monat kommt ein neuer Bewohner. Du darfst ihn mit deiner Rasselbande nicht vertreiben.«

Charlie blinzelte sie an, legte den Kopf schräg und ließ ein Zwitschern hören. Anna warf ihn in die Luft und sah ihm nach, wie er auf einen nahen Ast flatterte. Dann stieg sie die Stufen zur Hütte hinauf.

Die Tür war eingefroren. Sie drückte dagegen, weil allerdings ihre Schulter noch vom Unfall am Tag zuvor schmerzte, unternahm sie erst gar nicht den Versuch, sie aufzubrechen. Sie ging stattdessen zum Fenster und wischte die Scheibe blank, um hineinsehen zu können. Der Raum sah trocken, aber total verdreckt aus, sie stapfte also zum alten Maschinenschuppen und kam mit einem Schlitten voller Werkzeuge wieder. Sie benötigte zehn Minuten mit einem Brecheisen, doch schließlich verschaffte sie sich Zutritt zur Hütte, trat ein und fing nach zwei Schritten zu niesen an. Hier gab es so viel Staub, dass man einen Toten hätte vergraben können.

Drei Stunden lang putzte sie, räumte auf und warf kaputte Möbel hinaus, bis sie vor der Tür einen Stapel angehäuft hatte, der einen Mülllaster gefüllt hätte. Schließlich wurde es Zeit, den alten Holzofen zu befeuern, erst aber musste sie aufs Dach klettern und im Kamin nachsehen.

Da sie sich mit einer Leiter nicht abmühen wollte und froh über den hohen Schnee war, der aller Wahrscheinlichkeit nach die Rückseite der Hütte stützte, arbeitete sie sich vorsichtig aufs Dach hinauf und hüpfte einige Male auf und ab, um sich zu vergewissern, dass es ihr Gewicht aushielt. Sie zog eben das kleine Hütchen vom blechernen Schlot, als ein Wagen über den Hof zu ihrem Haus fuhr. Ein Mann stieg aus, ging die Stufen hinauf und klopfte an die Tür.

»Hier bin ich«, rief sie laut.

Der Mann drehte sich um und ließ auf der Suche nach der Richtung, aus der ihre Stimme kam, den Blick über das Camp wandern.

»Hier oben!«, schrie sie und fuchtelte dabei mit den Armen.

Endlich hatte er sie erblickt und kam auf die Hütte zu, wurde aber von Charlie und dessen Bande am Weitergehen gehindert. Mit vor Schreck eingezogenem Kopf und hektischen Handbewegungen wehrte der Ärmste die Wegelagerer ab. Anna ließ sich auf dem schneebedeckten Dach nieder und sah belustigt zu, wie er auf sie zugelaufen kam. Bear, der endlich bemerkte, dass sie Gesellschaft hatten, erhob sich von der Veranda unter ihr und fing zu bellen an. Es hörte sich Mitleid erregend an, als er auf den Besucher zulief. Der blieb wie angewurzelt stehen und rührte sich nicht.

»Er tut nichts«, brüllte Anna, Vogelgezwitscher und Hundegebell übertönend. »Die Meisen sind auch harmlos. Sie haben nur Hunger.«

»Ist der Hund auch hungrig?«

»Nein. Er freut sich nur, Sie zu sehen.«

»Ich bin Frank Coots, Ihr abwesender Nachbar.«

»Ach, der Name kommt mir bekannt vor«, sagte sie und rutschte zum Rand des Daches hinunter. »Gehört Ihrem Vater nicht der Kent Mountain?«

»Der gehört jetzt mir«, erklärte er mit einem Nicken. »In der Stadt hörte ich, dass hier eine Anna Segee lebt. Sind Sie das?«

Anna nickte.

»Irgendwie mit Segee Logging and Lumber in Quebec verwandt?«

Wieder nickte sie.

»Haben Sie etwas gegen weißen Schnee?«, fragte er und deutete auf das Dach, auf dem sie saß.

Anna blickte hinunter und brach in Lachen aus. Der Schnee war mehr schwarz als weiß, und sie selbst war noch schmutziger. Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht und lächelte dem Mann spitzbübisch zu, der unter ihr stand. »Ich putze den Kamin.«

Er blickte besorgt um sich. »Allein?« Er blickte wieder zur ihr hoch.

»Nur ich und die Meisen. Ich muss mir ausdenken, wie ich eine dazu bringen könnte, mit einem Putzlappen im Schnabel den Schornstein hinunterzufliegen.«

Sie entlockte ihm kein Lächeln. Im Gegenteil, seine Miene wurde noch besorgter. »Sie sollten nicht aufs Dach klettern, wenn niemand in der Nähe ist.«

Anna ging nicht darauf ein. »Werden Sie Ihren Berg an die Baulöwen verkaufen?« Sie stand auf und klopfte ihre Hose ab.

Ihre Frage schien ihn zu überrumpeln. Anstatt zu antworten, fasste Frank nach Charlie, der sich im Sturzflug auf seine Tasche stürzte. Anna machte mit dem Kamin weiter, indem sie die Bürste mehrmals in den Kaminsims stieß und damit auf und ab strich, ehe sie wieder die Abdeckung aufsetzte. Dann ging sie zur Rückseite der Hütte und sprang in einen Schneehaufen. Sie landete bis zur Hüfte im weichen Pulver.

Sie lächelte, als Frank um die Hütte herumgelaufen kam. »Nun? Verkaufen Sie?«, hakte sie nach, während sie sich unter Verrenkungen aus dem Schnee herausarbeitete.

»Lady, Sie sind wohl nicht bei Trost. Unter dem Schnee hätte etwas Hartes sein können.«

»Denn wenn Sie verkaufen, können Sie hier gleich verschwinden. Ein Feriendorf ist das Letzte, was wir hier brauchen.« Sie erfasste seine ausgestreckte Hand und zog sich aus dem Schnee. »Persönlich gefällt mir der Berg, wie er ist.«

Er trat beiseite und rieb seine schmutzigen Hände im Schnee ab. Anna studierte ihn dabei. Frank Coots sah gut aus; nicht allzu groß, blondes Haar, moderner Schnitt, Augen von der Farbe der Tannenadeln im Winter, das Gesicht eines Barockengels. Dreißig Pfund weniger hätten ihn noch besser aussehen lassen.

»Wollen Sie ihn kaufen?«, wollte er wissen, nachdem er sich aufgerichtet hatte.

Fast hätte es ihr die Sprache verschlagen. »Ich kann mir nicht mal die Steuern für diesen Besitz leisten. Wie hoch sie für den Berg sind, möchte ich gar nicht wissen, ganz zu schweigen von Ihren Preisvorstellungen.«

»Es sind dreitausend Morgen«, sagte er. »Durchwegs alter Baumbestand. Sie könnten Holz verkaufen, um die Steuern zu bezahlen.«

Sie ging auf das Haus zu. »Richtig, aber das Gelände ist steil und größtenteils gar nicht zu bearbeiten. Man müsste Antierosionsmaßnahmen treffen, dazu kommen die Kosten für die Aufforstung. Nicht zu reden von der Anlage der Forstwege.«

»Sie scheinen von Forstwirtschaft etwas zu verstehen.«

»Ja, ich kann einigermaßen mitreden. Wo leben Sie jetzt, Frank?«

»In Boston. Ich arbeite in der Werbebranche.«

Sie stieg zur Veranda hoch, öffnete die Tür und betrat vor ihm das Haus. »Und was machen Sie hier?«

»Sie kommen wohl immer gleich zur Sache.« Er wollte die Tür hinter sich schließen, als ein paar Meisen durch den Eingang flatterten. »He! Was machen die da?«

»Ich füttere sie im Haus. Sie schlafen auch hier drinnen, wenn es draußen stürmt.«

Frank sah verblüfft drein, was Anna zu der Annahme verleitete, dass sein Sinn für Humor nicht sehr ausgeprägt war. »Nun? Wollen Sie zurück nach Maine, oder bleiben Sie nur so lange da, bis Sie den Berg verkauft haben?«

»Ich bin zu Besuch. Das Tempo in Boston bringt mich um.«

Sie lachte. »Das hiesige Tempo würde Sie vor Langeweile umbringen.«

»Gehen Sie mal abends mit mir essen?«

Jetzt war die Reihe an Anna, überrumpelt zu sein. »Essen?«

Franks Barockengel-Gesicht strahlte. »Vorausgesetzt, Sie waschen sich ordentlich«, setzte er hinzu, auf Gesicht und Kleider deutend, die voller Ruß waren.

Anna blickte an sich hinunter. Vielleicht hatte er doch Humor, angesichts der Tatsache, dass sie aussah wie ein Staubsaugerbeutel von innen. Nur schmolz jetzt der Schnee und verwandelte Staub zu feuchtem Schmutz. Sie wischte ihre Wangen mit ihren Handschuhen ab.

»Was ist denn mit Ihrem Gesicht passiert? Sind Sie gestürzt?« , fragte er und wollte ihre Wange berühren.

Anna wich zurück und drehte sich um. »Ich bin gestern mit einem Lader umgekippt.« Sie ließ Wasser in die Küchenspüle rinnen und wusch ihr Gesicht, wobei sie registrierte, dass die Flüssigkeit schwarz in den Ausguss lief. Sie griff nach einem Handtuch und trocknete sich ab, als sie sich zu ihrem Gast umdrehte. »Vielen Dank für Ihre Einladung, aber ich habe hier viel zu tun.« Sie deutete auf ihr lädiertes Kinn. »Und für ein Essen in der Öffentlichkeit bin ich nicht herzeigbar.«

Er tat ihre Entschuldigungen mit einer Handbewegung ab.

»Ein bisschen Make-up verdeckt alles, und bei der Arbeit helfe ich Ihnen«, bot er ihr an.

Das einzige Problem war, dass sie kein Make-up besaß. »Das ist lieb von Ihnen, aber auf die Einladung komme ich gern später zurück. Stattdessen bekommen Sie ein Stück Kuchen von mir.«

Frank war aufrichtig erstaunt über ihre Ablehnung – und ein wenig ungehalten. Sie füllte den Wasserkessel.

»Auch ich komme auf die Verabredung später zurück«, sagte er und zog seine Handschuhe an. »Ich komme wieder, wenn Sie weniger zu tun haben.«

Sie stellte den Kessel auf den kalten Brenner. »Okay.«

»An wen vermieten Sie die Hütte?«

»An einen der Arbeiter von Loon Cove Lumber«, antwortete sie. »Er braucht vorübergehend eine Bleibe.«

»Wann zieht er ein?«

Frank Coots war ein recht neugieriger Nachbar. »In ein paar Wochen.«

»Das finde ich gut. Sie sollten hier draußen nicht so mutterseelenallein sein.«

Großartig, wieder ein Mann, der es nicht für möglich hielt, dass sie selbst auf sich aufpassen konnte. Anna ging ins Wohnzimmer. »Ich bin froh, dass Sie vorbeigekommen sind und sich vorgestellt haben. Und ich hoffe sehr, dass Sie Ihren Urlaub richtig genießen. Wie lange bleiben Sie?«

Er zog eine Schulter hoch. »Das weiß ich noch nicht.«

»Lange genug, um Kent Mountain zu verkaufen?«

Er trat hinaus auf die Veranda und drehte sich zu ihr um. »Was ist mit Ihrem Vater? Wäre Segee Logging and Lumber an einem Kauf von Kent Mountain interessiert?«

Anna schüttelte lachend den Kopf. »Es sei denn, Sie schieben den ganzen Berg über die Grenze nach Kanada.«

Er zog eine Braue hoch. »Was ist aus dem alten Knaben geworden, dem das hier gehörte?«

»Er ist vor drei Monaten gestorben.«

»Ach. Haben Sie den Besitz seiner Tochter abgekauft? Hieß sie nicht Madeline?« Franks Augen wurden groß. »Sie haben das Sägewerk doch nicht etwa gekauft, um es wieder in Betrieb zu nehmen?« Sein Blick überflog die desolaten Gebäude, dann sah er wieder sie an.

»Ich weiß noch nicht, was ich machen werde«, erwiderte sie. »Im Moment konzentriere ich mich ausschließlich auf die Steuern.«

Sein Blick wurde scharf. »Sie haben Steuerschulden?«

Der Mann zeigte zu viel Interesse an ihren Plänen und Problemen. Anna trat zurück ins Haus. »Ach, es ist nichts, was ein Anruf in Quebec nicht in Ordnung bringen könnte. Es war nett, Sie kennenzulernen, Frank.«

Es gefiel ihm sichtlich nicht, einfach weggeschickt zu werden. Anna schloss die Tür vor seinem verstimmten Gesicht, lehnte sich an den Türrahmen und bat für ihre kleine Notlüge um Vergebung.

Wenn es nur so einfach gewesen wäre! Ihr Vater hatte ihr unumwunden erklärt, dass sie auf sich allein gestellt sein würde, falls sie darauf bestünde, nach Fox Run Mill zurückzukehren. Sie hatte nicht gelogen, als sie gesagt hatte, dass ihr Vater mit Maine nichts zu tun gehabt hatte.

Anna wartete, bis sie ihn wegfahren hörte, ehe sie sich wieder in die alte Hütte wagte, Zeitungspapier und Unterzündholz in den Händen, um die begonnene Arbeit zu Ende zu bringen.

Warum war er gekommen, und was hatte er zu erfahren gehofft? Ihre Frage, ob er an die Baugesellschaft verkaufen wolle oder nicht, hatte er unbeantwortet gelassen. Tatsächlich war er ihr geschickt ausgewichen, indem er sie zum Essen eingeladen hatte.

Etwas an ihm hatte sie bewogen, seine Einladung abzulehnen. Sie traute ihm nicht über den Weg. Vielleicht war es sein flotter City-Look oder die Tatsache, dass er zu bereitwillig lächelte, oder aber der leichte Anflug von Ärger, der über sein Gesicht gehuscht war, als auch sie seinen Fragen ausgewichen war. Möglicherweise aber war der Grund darin zu suchen, dass er ihre Meisen nicht gemocht hatte.

Wie auch immer, sie hatte die Absicht, Frank ebenso zu behandeln wie alle ihre anderen Problem-Besucher – indem sie alle bis auf den Letzten ignorierte, bis sie aufgeben würden und sie in Ruhe ließen. Daher verbrachte sie das ganze Wochenende damit, die Hütte mit Möbeln aus dem Haupthaus bewohn- und vermietbar zu machen.

Drei Wochen noch bis zu ihrem ersten Mietscheck, und sie würde schließlich so viel von ihrer Steuerschuld tilgen können, dass Fox Run Mill vor einer öffentlichen Versteigerung bewahrt blieb. Wäre sie nicht so entschlossen gewesen zu beweisen, dass sie ohne Unterstützung ihrer Familie auskommen konnte, hätte sie es nicht mit einem Mieter, mit Bauunternehmern, Historikern und lästigen Gespenstern aufnehmen müssen. Mochte Eigensinn manchmal ein richtiges Handicap sein, konnte er auch ein so starker Antrieb sein wie Schuldbewusstsein.