5
Ein keuchendes Bellen verriet Ethan, dass er am richtigen Ort angelangt war. Er trat die Tür auf, trug seine leblose Last hinein und legte sie auf die Couch. Sofort leckte der große schwarze Hund Anna das Gesicht ab.
Sie rührte sich nicht.
Das sah nicht gut aus. Viel lieber wäre er mit ihr ins Krankenhaus gefahren, doch waren die fünfzig Meilen im Schneesturm zu weit und zu gefährlich. Ethan lief zur Rückseite des Hauses, wo er die Küche vorfand. Kein einziger Lichtschalter funktionierte. Er stolperte umher, bis er auf dem Tisch eine Batterielampe fand, mit der er auf Erkundung ging. Nachdem er das Badezimmer gefunden hatte, tat er den Stöpsel in den Wannenausfluss und ließ lauwarmes Wasser einlaufen, in der Hoffnung, dass der Wassertank noch ausreichend Druck hatte, um die Wanne zu füllen. Auf dem Rückweg durch die Küche nahm er sich die Zeit, um den Wasserkessel auf den Herd zu stellen, dann ging er zurück ins Wohnzimmer – und blieb wie angewurzelt stehen.
Ein halbes Dutzend Meisen hockten zirpend auf Annas Brust und Schultern. Der alte schwarze Hund saß neben der Couch, sein Kopf ruhte auf ihrem Arm. Ethan ging zur beschädigten Tür und schloss sie mit einer Stütze, dann schob er den Hund sanft mit seinem Knie weg und verscheuchte die Vögel. Als er Annas Stirn berührte, war sie kalt und trocken. Er ging daran, sie auszuziehen, und lächelte dabei unwillkürlich. Sie würde stinksauer sein, wenn sie erwachte und feststellte, dass er sie nackt ausgezogen hatte.
Ethan ahnte nicht, welche Entdeckung ihm bevorstand. Unter ihrer maskulinen Arbeitskleidung steckte eine schöne Frau. Ihre ausgekühlte Haut war wie Alabaster, die straffen Muskeln leicht ausgeprägt. Die langen Beine passten perfekt zu ihrem athletischen Körper. Ihre Brüste waren voll – und von einem zarten gelben Satin-BH umhüllt.
Was für eine köstliche Überraschung. Anna Segee war unter ihrer männlichen Kluft ganz Frau, mit BH und passendem Höschen, beides so sexy, wie Ethan es seit Monaten nicht gesehen hatte. Er fing zu schwitzen an, obwohl er schon bis auf die Haut durchnässt war. Es war eine Weile her, seitdem er das Vergnügen gehabt hatte, eine schöne Frau zu berühren – auch wenn diese hier bewusstlos war.
Seinen Instinkt ignorierend – oder war es seine Libido? – , der ihm sagte, er solle seine Aufgabe zu Ende bringen, ließ Ethan ihr das bisschen Unterwäsche an und deckte sie rasch mit einem Quilt zu, der auf der Couchlehne lag. Dann machte er sich daran, ihr nasses Haar aufzuflechten. Er ging mit der Lampe ins Bad und drehte den Wasserhahn ab, dann holte er Anna und trug sie zur Wanne. Als er sie ins Wasser setzte, rührte sie sich und öffnete nach Luft schnappend die Augen.
»Ganz ruhig. Das Brennen hört gleich auf.«
»Ich bin nackt.«
»Nicht ganz«, widersprach er, packte ihre wild fuchtelnden Hände und hielt sie fest. »Sitzen Sie ruhig da, und lassen Sie das Wasser einwirken.«
Sie befreite ihre Hände, um ihre Brust zu bedecken, und versank bis zum Kinn im Wasser. Sofort stieß sie einen Schrei aus und versuchte, aus der Wanne zu springen.
»Ich weiß, dass es wehtut, wir müssen aber Ihre Temperatur in die Höhe treiben.«
»Es brennt!« Sie beruhigte sich, Tränen flossen über ihre Wangen.
Ethan schloss die Augen. Herrgott, er hasste es, eine Frau weinen zu sehen. Das Pfeifen des Kessels, der lautstark meldete, dass das Wasser kochte, durchdrang sein Bewusstsein. »Passen Sie kurz auf sich selbst auf, während ich Ihnen ein heißes Getränk hole, in Ordnung?«
Sie verneinte stumm und mit gebeugtem Kopf. Ihre Tränen tropften ins Wasser. Erst zögerte er, dann stellte er die Lampe so neben sie, dass ein wenig Licht in die Küche fiel.
Ethan tat einen Teebeutel in einen Humpen, löffelte Zucker aus einer Dose auf dem Küchenbüffet dazu und goss kochendes Wasser darüber. Als er wieder ins Bad kam, schob Anna ein großes nasses Handtuch auf ihrem Körper zurecht.
»In der Küche ist ein Schwarm Meisen. Sie umschwirren mich wie Fliegen.«
»Sie sind hungrig«, erwiderte sie, ohne aufzublicken.
Ihre Wangen leuchteten rot. Obwohl er hoffte, dass Wärme in ihren Körper zurückkehrte, war die Frau vermutlich bis zu den Zehenspitzen errötet. So oder so, sie schien sich aufzuwärmen.
Er ging vor der Wanne in die Knie und reichte ihr den Tee. »Was bekommen sie als Futter?«
»Die Körner aus der hohen Dose«, flüsterte sie und blies auf den dampfenden Tee.
Noch immer hielt sie den Blick gesenkt, und Ethan blickte auf sie hinunter. Gut so. Sogar ihre Füße waren rosig. »Ich muss wissen, ob Sie irgendwo Schmerzen haben. Ihre Rutschpartie war nicht ohne.«
»Da und dort schmerzt es, aber bewegen kann ich alles.«
Er wusste nicht, ob er ihr glauben konnte. »Sobald Sie sich aufgewärmt haben, bringe ich Sie ins Krankenhaus nach Greenville. Sie könnten innere Verletzungen haben.«
»Das würde ich merken. Ich bin nur ein wenig lahm. Der viele Schnee, der in den Wagen eindrang, hat mich geschützt.«
»Okay. Wo ist der Generator? Ich werde ihn anlassen und dann Feuer im Kamin machen.«
»Hinter dem Haus, in dem Schuppen am Ende der Veranda. Erst müssen sie den Choker betätigen«, riet sie ihm, noch immer ohne ihn anzusehen.
Ethan fand den Generator, ließ ihn anspringen und betätigte den Hauptschalter. Licht durchflutete den Schuppen, die Küchenfenster waren erhellt. Wieder im Haus entfachte er ein prasselndes Feuer im Kamin, dann ging er wieder ins Bad und sah Annas Teehumpen leer auf dem Boden stehen.
»Wo ist Ihr Schlafzimmer? Sie brauchen frische Sachen.«
»Oben. Erste Tür rechts.«
»Gut. Ich kann es kaum erwarten, Ihre Wäschelade zu durchwühlen.«
Sie stutzte und hob den Blick.
Ethan verlieh seinem Lächeln einen lüsternen Anflug. »Ich bin scharf auf Sie, Lady, weil ich jetzt weiß, was unter diesen vielen Schichten Männerkleidung steckt.«
»Ein einziges Wort zu den Männern im Betrieb, und Sie bekommen alle neun Kugeln ab, das schwöre ich.«
Er lief lachend die Treppe hinauf.
Anna zog sich an und trocknete ihr Haar. Sie verwünschte den Kerl, der sich in ihrem Haus einnistete. Dieses arrogante Ekel. Er hatte ihr einen cremefarbenen Kaschmirpullover und schwarze Leggins gebracht. Eine rosa Wäschegarnitur krönte den Stapel. Und er hatte ihr zugeblinzelt, ehe er die Badezimmertür schloss. Sich anzuziehen erwies sich als mühsame Sache, da sie das Gefühl hatte, jemand hätte sie durchgeprügelt. Anna blickte in den Spiegel und sah einige kleinere Abschürfungen in ihrem Gesicht, dazwischen winzige Kratzer. Verdammt, normalerweise stießen ihr keine Unfälle zu – erst seit Ethan Knight wieder in ihrem Leben aufgetaucht war. Allein der Gedanke, zu ihm ins Wohnzimmer gehen zu müssen, ließ Annas Magen revoltieren.
Er hat dir heute das Leben gerettet, sagte sie sich.
Und er hat dich ausgezogen, war ihr nächster Gedanke.
Wie sollte sie die Arbeitsstunden überleben, da Ethan nun wusste, dass sie verführerische Unterwäsche trug? Würde er sie mit vielsagenden Blicken verfolgen oder zweideutige, nur für sie verständliche Bemerkungen machen? Anna seufzte und steckte ihre widerspenstigen Locken hinter die Ohren. Nun, sie würde sich behaupten müssen. Da sie ihren Job bei Loon Cove Lumber dringend brauchte, würde sie sich von Ethan auf keinen Fall vertreiben lassen. Sie öffnete die Tür, machte zwei Schritte und griff stöhnend nach ihrem Rücken. Der Schmerz war so groß, dass sie ins Wohnzimmer humpelte.
Als Erstes fiel ihr auf, dass die Couch vor den Kamin geschoben und zum Bett umfunktioniert worden war. Dann sah sie den Koffer auf dem Boden am Fuß der Treppe. In einem Sessel neben dem prasselnden Feuer saß Ethan und trank Tee. Er hatte sich umgezogen und gekämmt.
»Sie werden nicht auf meiner Couch schlafen«, erklärte sie, als sie eintrat, beraubte jedoch ihre Anordnung mit einem Stöhnen jeglicher Wirkung.
Das Grinsen, das er zur Schau trug, verschwand. Seine Augen wurden groß, als er sie von oben bis unten musterte und bei ihren aufsässigen Locken hängen blieb. Ebenso plötzlich war sein Lächeln wieder da. »Nein, werde ich nicht. Sie schlafen hier.«
»Wie bitte?«
Seine Kopfbewegung galt ihrer Hand, die ihren Rücken stützte. »Ich bezweifle, ob Sie es nach oben schaffen. Deshalb werde ich in Ihrem Bett schlafen und Sie hier unten.«
Nur über ihre Leiche würde er in ihr Bett gelangen. Sie würde nie wieder in ihrem Bett schlafen können und wissen, dass er darin gelegen hatte – vermutlich nackt. Sie schüttelte den Kopf. »Ihre Hütte ist auf der andere Seite des Camps. Der Generator läuft, das Verandalicht brennt. Das Feuer im Holzofen ist wahrscheinlich ausgegangen, die Glut dürfte aber reichen, um es frisch anzufachen.«
»Dort gibt es kein fließendes Wasser, hier aber schon.« Er nahm einen Schluck Tee und drückte sich tiefer in seinen Sessel. »Ich glaube, ich krieche bei Ihnen unter, bis es mit dem Wasser klappt.«
Sie humpelte weiter und blieb vor ihm stehen. »Ich wohne allein. Und Sie wohnen leider nebenan.«
Er stand auf. Anna wich einen Schritt zurück. Es behagte ihr nicht, dass sie zu ihm aufblicken musste, um ihn unfreundlich anzusehen.
»Setzen Sie sich, bevor Sie umfallen. Sie sind so zerschlagen, dass Sie nicht aufrecht stehen können.«
Sie drehte sich auf dem Absatz um und wollte in die Küche. Dabei verlor sie das Gleichgewicht und drohte zu stürzen. Ethan fing sie auf, ehe sie auf dem Boden aufschlug, hob sie hoch und setzte sie behutsam auf die Couch.
»Und Sie nannten mich letzten Monat einen Idioten«, murmelte er, nahm die Decke und warf diese über sie. »Segee, Sie sind zu eigensinnig, als Ihnen guttut.«
»Anna. Ich heiße Anna.«
»Und ich ziehe Ethan vor. Ich werde daran denken, wenn Sie es auch tun.«
Er ging hinaus, kam mit frischem Tee wieder, den er ihr reichte. Anna rümpfte die Nase. Sie brauchte nicht zu kosten, um zu wissen, dass er wieder gezuckert war. »Ich trinke meinen Tee pur«, sagte sie und hielt ihre Tasse hoch.
Er setzte sich in seinen Sessel. »Das dachte ich mir schon, als ich den Zucker überall gesucht habe. Im Moment brauchen Sie zusätzliche Stärkung. Ihr Körper hat einen Schock hinter sich.«
Da er ihr zweifellos das Gebräu einzuflößen gedachte, trank Anna den Tee, während sie beobachtete, wie die Flammen im Kamin auf den Holzscheiten tanzten.
»Das war heute sehr knapp«, sprach er in die Stille hinein. »Der Unfall war schon schlimm genug, dann aber haben Sie mir eine Heidenangst eingejagt, als Sie umkippten.« Er hielt inne, sah sie an und sagte dann: »Erzählen Sie mir von Ihrem Gespenst. Tom sagte, in Ihrem Betrieb würde es geistern.«
Sie schnaubte. »Kann ich mir denken. Tom Bishops Fantasie übersteigt seine Diskretion. Trinken Sie aus, und verziehen Sie sich in Ihre Hütte. Wenn Sie Angst haben, borge ich Ihnen meine Flinte.«
Er stellte seine Tasse auf den Kamin und stützte mit einem durchdringenden Blick seine Ellbogen auf die Knie. »Heute schlafe ich hier, Anna. Sie könnten Verletzungen haben, von denen Sie nichts wissen.«
»Wer hat Sie zum Allmächtigen aufrücken lassen?«
Sein verheerendes Lächeln, das sie so wütend machte, zeigte sich wieder, und Anna spürte, wie ihr Magen einen Salto vollführte. Ethan lehnte sich zurück und verschränkte die Finger über seinem Bauch. »Ich bin praktisch von selbst über dieses Amt gestolpert.«
»Ich brauche keinen Babysitter.«
»Gemeinsam ist man stärker«, sagte er. »Und wenn Ihr Gespenst auftaucht, kann ich Ihnen helfen, die Geisterjäger zu rufen.«
»Wahrscheinlich sind es die Historiker, die Fox Run kaufen wollen«, erklärte sie. »Sie sind irgendwie besessen von diesem Ort und schnüffeln in den alten Gemäuern herum.«
»Warum in der Nacht? Warum nicht untertags, wenn Sie bei der Arbeit sind?«
Sie runzelte die Stirn. Auf diesen Gedanken war sie noch nicht gekommen.
»Und die Baulöwen? Sind die auch so scharf auf Ihr Land?« »So sehr, dass schon etliche korrekt gekleidete Typen aus Boston hier auftauchten und mich herumkriegen wollten.«
»Vielleicht versuchen die, Sie von hier wegzuekeln.«
»Daran habe ich auch schon gedacht.«
»Und ein alter Freund?«, fragte er mit einem gewissen Blitzen in den Augen. »Haben Sie in Quebec einen enttäuschten Verehrer, der Sie zurückholen möchte?«
Sie verschluckte sich an ihrem Tee. »Nein. Nur vier Brüder, einen Vater und ein paar Onkel, die sogar noch schrecklicher sind als Sie.«
Ethan stand plötzlich auf und streckte mit lautem Gähnen die Arme nach oben. Anna versuchte die Augen zu schließen, wirklich, doch es funktionierte nicht. O Gott, wie schön er war. Sein Hemd hob sich und enthüllte einen ganz flachen, sehr männlichen Bauch. Seine Muskeln spielten über den Rippen und spannten sein Hemd. Wieder krampfte sich Annas Magen zusammen.
»Sind Sie hungrig?«, fragte er.
Wenn sie es recht bedachte, hatte sie Hunger. Vielleicht war dies der Grund, dass ihr Magen verrücktspielte. »Nein, ich könnte keinen Bissen hinunterbringen. Aber in ihrer Hütte habe ich ein paar Vorräte deponiert; dort können Sie sich etwas zubereiten.«
Er ging in die Küche, und Anna war sich selbst überlassen und starrte wieder ins Feuer. Es war ein Problem, das sie ihr ganzes Leben verfolgte: Männer setzten sich über ihre Wünsche hinweg, streiften ihre Ideen und Vorschläge wie nichtige Spinnweben beiseite und »wussten« immer, was gut für sie war. Anna seufzte und trank wieder einen Schluck von dem grässlichen Tee. Zu schade. Es wäre nett, einmal auf einen Mann zu treffen, der nicht so von sich überzeugt war. Sie wusste, dass es diese Männer gab; in ihren einsamen Wäldern hatte sie jedoch noch keinen finden können.
Vielleicht war dies das Problem – die Wälder. Holzwirtschaft war gleichbedeutend mit gefährlicher und anspruchsvoller Schwerarbeit. Man musste äußerst intelligent sein, um in dieser Branche zu überleben, und dazu die Fähigkeit haben, schwierige Entscheidungen treffen zu können und mit ihnen zu leben. Da falsche Einschätzungen zu Pannen oder sogar zum Tod führen konnten, waren die Männer, die im Wald arbeiteten, ein von sich eingenommener, selbstherrlicher Haufen. Sie mussten es sein, um unversehrt zu überleben.
Und dieser Zug setzte sich in ihrem übrigen Leben fort. Auch heutzutage waren Frauen für sie noch immer die Partnerin, die sich darauf beschränkte, Haus und Herd zu hüten und die Kinder aufzuziehen. Es war in Ordnung, wenn Frauen nebenbei zum Familienunterhalt beitrugen, doch waren diese Jobs immer zweitrangig. Frauen konnten kellnern, die Buchhaltung machen und auch gelegentlich die Laster fahren, die das Holz zu den Sägen brachten; nie aber würden sie in leitender Stellung sein.
Das war der Grund, weshalb ihr Job bei Loon Cove Lumber so prekär war. Und deswegen würde sie es mit ihrem neuen Boss zunächst nicht leicht haben. Der Mann in ihrer Küche würde jeden ihrer Schritte überwachen und nur darauf warten, dass sie ihm einen Grund lieferte, sie zu feuern.
O ja, ihr neuer Mieter war ebenso selbstherrlich und so männlich gepolt wie alle anderen. Er blieb die Nacht über, um ihre Gesundung zu überwachen, er hatte sich auf Tom Bishops Vorschlag hin zum Wachhund ernannt, um sie vor ihren Gespenstern zu beschützen, und er würde sich ständig ungefragt einmischen – nur weil er »wusste«, was sie zu ihrem eigenen Besten brauchte.
»He! Verschwinde, du verrücktes Biest!«, drang Ethans Ausruf aus der Küche.
Anna lächelte. Ihr Flughörnchen wollte sein Abendbrot. Als Nachttier holte Casper sich seine Leckereien erst, nachdem die Lichter erloschen waren, doch der Schneesturm musste ihn ungeduldig gemacht haben, so dass er nun versuchte, sich von Ethans Abendessen, was immer es sein mochte, etwas zu stibitzen.
»Segee! In Ihrem Haus gibt es ja mehr Viehzeug als in einem Naturreservat. Ein Wunder, dass es hier keine Tollwut gibt.« Er ging ins Wohnzimmer und hielt dabei ein Tablett in den Händen und sah missbilligend drein.
»Haben Sie denn auf Ihrem Ufer drüben keine Tierchen?« , fragte sie und nahm sich ein Sandwich vom Tablett, das er ihr hinhielt.
»Im Wald, nicht in unserem Haus.«
Sie brach ein Stück von ihrem Sandwich ab und teilte es mit Bear, dann gönnte sie sich selbst ein Riesenstück. »Casper hat wahrscheinlich die Erdnussbutter gerochen«, sagte sie mit vollem Mund. Sie spülte ihn mit dem grässlichen Tee hinunter und biss wieder ab.
»Casper ist wohl das kleine Biest, dem die Haut noch ein wenig locker sitzt?«
»Er ist ein Flughörnchen«, erklärte sie um einen weiteren Bissen herum und leckte sich die Finger ab, während ihr Blick dem Tablett auf dem Tisch neben ihm galt. »Geben Sie von der Suppe etwas ab?«
Er hielt auf halbem Weg zum Mund mit seinem Sandwich inne. »Sie wären nicht hungrig, sagten Sie.«
»Das war gelogen.«
Er schüttelte den Kopf. »Das soll nicht zur Gewohnheit werden, Segee.«
»Wenn es doch klappt, Knight.«
Er nickte auf ihren mahnenden Hinweis hin und reichte ihr eine Schüssel mit Suppe. »Kannten Sie Samuel Fox sehr gut?«, hakte er nach und warf noch ein Scheit ins Feuer, ehe er es sich wieder bequem machte. »Sie sagten, Ihr Truck wäre an derselben Stelle von der Straße abgekommen wie der seine.«
Anna blies in ihre Suppenschüssel. Sie hielt es für besser, ihm die Antwort schuldig zu bleiben. »Ja, soviel ich weiß, war es so. Man fand ihn erst nach zwei Tagen. Damals gab es nur wenig Schnee, deshalb muss der Aufprall noch härter gewesen sein als meiner. Hoffentlich musste er nicht leiden.«
»Vermutlich war er sofort tot. Er war achtzig, oder nicht?«
»Dreiundachtzig, soviel ich weiß.«
Er nickte. »Dann war er zu gebrechlich, um den Unfall zu überleben. Haben Sie Fox Run von seiner Tochter gekauft? Sie heißt Madeline, glaube ich.« Er lachte unvermittelt auf. »Wie ihr zweiter Name lautet, weiß kein Mensch.«
»Was meinen Sie damit?«
Ethans Grinsen wurde breiter. »Als Letztes hörte ich, dass Madeline Fox bei ihrem sechsten oder siebten Ehemann angelangt sei.« Er sah an Annas Schulter vorüber, offenkundig in Gedanken versunken. »Sie hatte eine Tochter namens Abby. Abby Fox muss jetzt sieben oder acht Jahre älter sein als Sie.« Er beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf die Knie. »Sind Sie ihr begegnet, als Sie den Kaufvertrag unterschrieben? Bei Samuels Beerdigung war sie nicht zugegen.« Er wandte den Blick ab und sah wieder ins Leere. »Ich hatte gehofft, sie zu sehen.«
Was glaubte er denn, wie alt sie war? Anna fand, dass das Gespräch sich auf gefährliches Terrain verlagerte. »Das alles hat ein Anwalt in Quebec erledigt. Ich verstehe von diesen Dingen nichts«, setzte sie rasch hinzu und hoffte damit, einen endgültigen Themawechsel eingeleitet zu haben. »Seitdem ich hier bin, habe ich die Stelle im Auge, wo Samuel von der Straße abrutschte, aber bis heute war dort nie Eis. Wenn es eine Quelle ist, dann fließt sie nicht ständig.«
Er zuckte kauend mit den Schultern, dann schluckte er. »Quellen können tückisch sein.«
»Warum hat Ihre Familie Loon Cove Lumber gekauft? Von meiner Belegschaft weiß ich, dass die Knights einige Hunderttausend Morgen Wald besitzen. Warum steigen Sie jetzt in die Sägeindustrie ein?«
»Mein Dad meinte, wir sollten uns diversifizieren.« Er aß noch einen Bissen, dann griff er nach der Suppenschüssel. »Wir mussten die Erfahrung machen, dass die Zahl unserer Abnehmer sich stetig verringerte. Anstatt unser Holz nach Kanada zu schicken und dort verarbeiten zu lassen, wollten wir uns ein eigenes Sägewerk zulegen.«
»Sie müssen noch immer mit kanadischem Holz konkurrieren.«
»Mit Ihrer Familie?«, fragte er schmunzelnd.
Sie erwiderte sein Lächeln nicht. »Ja.«
»Sie könnten uns ja mit Insider-Informationen einen kleinen Vorteil verschaffen.«
»Ich bin wütend auf meine Familie, aber nicht rachsüchtig.«
Er nickte zustimmend. »Ich finde es unglaublich, dass Ihre Leute Sie ganz allein losziehen ließen.«
»Sie konnten mich ja nicht einsperren.«
»Wären Sie meine Schwester, hätte ich es getan. Sie müssen ja frisch von der Highschool sein.«
Anna verschluckte sich an ihrer Suppe.
»Oder gehen Sie noch zur Schule?«
Anna stellte ihre Schüssel auf den Kamin und kämpfte gegen das Erröten an, das ihr in die Wangen stieg. »Ich bin alt genug, um zu wissen, was ich tue, Mr Knight, und ich habe seit meinem fünfzehnten Lebensjahr in der Holzindustrie gearbeitet. Es gibt auf diesem Gebiet keine Maschine, die ich nicht bedienen, kein Problem, das ich nicht lösen könnte. Die letzten fünf Jahre habe ich in einem Betrieb meiner Familie in Quebec gearbeitet und mir den Respekt eines jeden einzelnen Mitarbeiters erworben, auf die harte Tour, indem ich mich in einer Krise als verlässlich erwies.«
»Was machen Sie dann hier?«
»Was ich will«, sagte sie. »Mein Vater ist in seinen Bahnen so eingefahren, dass es für mich in der Firma keine Zukunft gibt. Meine Brüder werden den Laden übernehmen.«
Ethan schnaubte und lehnte sich in einem Sessel zurück. »Sicher würde man Sie nicht zum Betteln auf die Straße schicken.«
»Nein. Ich werde mein Leben lang versorgt sein. Meine Familie wird mir Autos kaufen, ein Haus, auf Wunsch sogar einen Ehemann. Aber man wird mir nie eigene Entscheidungen oder einen eigenen Betrieb zubilligen oder gar meinen Rat und meine Hilfe suchen, wenn es darum geht, unser Unternehmen fit für die Zukunft zu machen.«
Er machte große Augen. »Sie haben doch nicht etwa die Absicht, diesen Betrieb wieder anlaufen zu lassen?«
»Warum nicht?«
»Das ist doch ein Haufen vergammelter alter Gemäuer.«
»Mit ausreichend Land als Ausgleich.«
Er zog die Brauen zusammen. »Ausgleich wofür?«
»Ich besitze fast eine Meile Ufer am Frost Lake. Ich könnte ein Camp oder ein Ferienlager auf die Beine stellen oder damit mehr Wald kaufen.«
»Lächerlich.«
»Und dann gibt es ja noch meine Familie«, fuhr sie fort, ohne auf seine Bemerkung einzugehen. »Sie liebt mich, weiß aber nichts mit mir anzufangen. Ich könnte Fox Run benutzen, um mir einen Platz in Segee Logging and Lumber zu erkaufen.«
Er schüttelte den Kopf. »Anna, familiäre Akzeptanz kann man sich nicht erkaufen. So klappt das nicht.«
»Sagt einer, dessen Familie ihn nach Loon Cove Lumber verbannt hat.«
Er stand mit finsterer Miene auf. »Ich habe mich freiwillig gemeldet«, murmelte er und ging daran, das Geschirr abzuräumen. »Grady ist zu alt, Paul mit seinen Liebesaffären zu beschäftigt, und Alex konnte seine Familie nicht aus der gewohnten Umgebung herausreißen.«
Anna reichte ihm ihre Schüssel. »Aber Sie wollen eigentlich kein Sägewerker sein, oder?«
»Ich arbeite lieber im Wald. Ich habe keine Lust, Papierkram zu erledigen und mich mit Holzhändlern um die Preise zu streiten.«
»Darauf beschränkt sich die Arbeit nicht.«
Er blieb in der Küchentür stehen und blickte sich nach ihr um. »Ja. Ich habe es auch noch mit einem weiblichen Vorarbeiter zu tun, der sich kleidet wie ein Waldschrat und aussieht, als sollte er sich den Kopf darüber zerbrechen, wie man sich zum Abschlussball der Schule passend anzieht.«
Heute Abend hatte er bei ihrem kleinen Wortgefecht den Sieg davongetragen und lag nun behaglich in Annas mit Rüschen und Volants geschmücktem Bett. Aber zwanzig oder auch zweiundzwanzig war Welten von seinen dreißig Jahren entfernt, womit die Dame für ihn nicht in Frage kam, auch wenn sie mehr Selbstvertrauen besaß, als einer Frau guttat. Tatsächlich verlangte ihm Annas Entschlossenheit, ihren eigenen Platz in der Welt zu finden, anstatt sich auf die Familie zu verlassen, Bewunderung ab. Sie hatte jede Menge Mumm, hübsch verpackt in einem verlockenden weiblichen Körper.
Ethan starrte zu der Decke des alten Hauses hinauf. Vermutlich würde es einen Aufstand im Betrieb geben, wenn er Anna entließ. Außerdem war er neugierig, wie sie es schaffte, dreißig ausgewachsene Männer dazu zu bringen, sie zu respektieren und ihren Anordnungen nachzukommen. Sie behauptete, ihren Job zu kennen, Ethan aber hätte gewettet, dass mehr dahintersteckte. Da sie zu den seltenen Frauen gehörte, die wussten, wie Männer im Kopf funktionierten, verstand sie es, sie zu zähmen, zur Zusammenarbeit zu bewegen und sich Vernunftargumenten zu beugen.
Es lag vermutlich an ihrer Erziehung. Ihr ganzes Leben war ein Studium männlicher Denkweisen gewesen. Nachdem sie gelernt hatte, wie man Männer manipulierte, hatte sie es sich angewöhnt, es ihnen nachzumachen. Anna Segee reizte ihn; sie war eine Herausforderung für seinen Verstand, sie brachte sein Blut in Wallung und bewirkte, dass er sich lebendig fühlte. Und er konnte sich nicht erinnern, wann eine Frau sein Herz so zum Rasen gebracht hatte wie am heutigen Tag.
Es war viel zu lange her, seitdem er sich zu einer Frau hingezogen gefühlt hatte, ja seitdem er einem weiblichen Wesen auf Flirtdistanz nahegekommen war. Ethan wusste, dass die Liebe zwischen seinem Bruder Alex und seiner Schwägerin Sarah etwas Seltenes war. Dass der von den Toten auferstandene Alex plötzlich eine schöne, liebevolle Ehefrau an seiner Seite hatte, war ein Glücksfall. Die Chancen, dass wieder eine Frau mit diesen Qualitäten in dieser Waldeinsamkeit auftauchte, mussten eins zu einer Milliarde stehen.
Er wäre mit Anna Segee liebend gern ins Bett gegangen und hätte etwas von der Leidenschaft mitbekommen, die sie unter den vielen Schichten ihrer Männerkleidung verbarg. Der Anblick ihrer teuflisch verführerischen Dessous hatte ihm eine tiefe Einsicht gestattet – eine, die Anna peinlich war, nach der Reaktion zu schließen, die sie gezeigt hatte, als sie merkte, dass der Streit um ihre Schlafarrangements verloren war.
Während er mit dem Koffer in der Hand die Treppe hinaufgegangen war, hatte sie ihm mit erstaunlicher Treffsicherheit ein Buch nachgeschleudert. Dann hatte sie diesen Mitleid erregenden armen Hund auf ihn gehetzt. Bear hatte gewinselt und versucht, ihm zu folgen, war aber schon an der ersten Stufe gescheitert. Ethan hatte die vor Wut schäumende Anna unten allein bei ihren Waldtieren und dem schnaufenden Hund zurückgelassen. Sein »Gute Nacht« war mit einem wenig damenhaften Fluch beantwortet worden.
Er konnte es kaum erwarten, dass der Spaß richtig losging.
Anna lag auf der Couch, ihre Hand ruhte auf dem Kopf Bears, der auf dem Boden daneben lag. Sie blickte zu der Gardinenstange voll schlafender Meisen hoch. Das niedrige Feuer im Kamin ließ im ganzen Raum Schatten tanzen, so dass sie das Gefühl bekam, das alte Haus mache sich über sie lustig.
Sie war nicht einmal Herrin in ihrem eigenen Haus. Ethan Knight schlief oben in ihrem Bett, inmitten ihres verspielten weiblichen Ambientes. Sicher konnte er vor Lachen keinen Schlaf finden.
Sie hatte ihn zu nahe an sich herangelassen. Sie hätte nie von ihren familiären Problemen sprechen sollen, und vor allem hätte sie keinesfalls das Bewusstsein verlieren und sich von ihm ausziehen lassen dürfen. Nun würde er sie als Frau und nicht als Vorarbeiterin sehen, und es musste ein Wunder geschehen, um das an Boden wieder zu gewinnen, was ihre Dessous sie gekostet hatten.
Ein Plan tat not. Etwas Einfaches, etwas, das diesem arroganten Ekel nicht auffallen würde. Anna zermarterte sich fast eine Stunde lang den Kopf, aber ihr wollte nichts einfallen, als so zu tun, als wenn nichts passiert wäre.
Anna schätzte, dass sie mindestens zwei Tage das Bett hüten musste, und morgen nicht zur Arbeit zu erscheinen war definitiv ein Risiko, obwohl ihre Leute absolut spitze waren und es allein schaffen konnten. Aber würde Ethan nicht zwangsläufig zu der Meinung gelangen, er könne ohne sie, Anna, auskommen, da er mehr als befähigt war, einen Betrieb zu führen?
Keith kannte das Unternehmen so gut wie sie. Würden die zwei Männer sich zusammentun? Würde sie in drei Tagen noch ihren Job haben? Anna griff hinter sich auf den Tisch, bekam ihr Handy zu fassen und wählte Keiths Nummer.
»Keith, hier ist Anna. Ich rufe an, weil ich ein paar Tage nicht kommen werde. Können Sie mich im Betrieb vertreten?«
»Sicher, Chefin. Was ist denn? Sind Sie sich mit unserem neuen Besitzer schon in die Haare geraten?«
»Nein. Ich hatte auf der Heimfahrt einen Unfall und muss ein paar Tage Schonzeit einlegen.«
»Sind Sie in Ordnung?«
»Ja, ich bin nur ein wenig durchgerüttelt. Gebrochen habe ich mir nichts.«
»Was ist passiert?«
»Ich bin von der Straße abgekommen und habe meinen Wagen zu Schrott gefahren.«
Langes Schweigen am anderen Ende. »Herrje, Anna. Sind Sie sicher, dass Sie in Ordnung sind?«
»Mir geht es tadellos, Keith. Ethan Knight war direkt hinter mir und hat mich herausgezogen.«
»Gott sei Dank.«
»Ach, apropos Mr Knight. Ich werde nicht da sein, um ihn einzuführen.«
Ein Lachen kam über die Leitung. »Und Sie befürchten, er könnte auf die Idee kommen, dass er Sie nicht braucht, wenn er diese Woche ohne Sie überlebt, stimmt’s?«
Anna blickte mit gerunzelter Stirn ins Feuer. »So ähnlich.«
»Keine Angst, Boss. Darum kümmere ich mich. Wenn die Woche um ist, wird Ethan um Ihre Rückkehr beten.«
»Keine Dummheiten. Sie sollen sich nicht in Schwierigkeiten bringen«, warnte sie ihn.
»Ach was, Anna. Was wäre die Arbeit ohne ab und zu ein wenig Spaß? Ich werde nur ein paar Bestellungen verlegen und dafür sorgen, dass Jeremy die Schlüssel für den Lader verliert. So in diese Richtung.«
Die Tatsache, dass Keith gewillt war, ihr zu helfen, wärmte Annas Herz. Sie lächelte in ihr Handy. »Danke, mein Freund, ich stehe in Ihrer Schuld.«
»Denken Sie daran, wenn ich je Ihrem Lader in die Quere kommen sollte.«
»Das werde ich.«
»Na, dann gute Nacht«, sagte er. »Und keine Angst. Immer mit der Ruhe, und gute Besserung.«
»Ach, noch etwas, Keith. Könnten Sie verbreiten, dass ich einen neuen Truck suche? Einen, der mein Budget nicht sprengt?«
»Totalschaden?«
»Das kann man wohl sagen.«
»Donnerwetter, ohne Ethan wären Sie vielleicht tot. Sie haben Glück, dass Sie einen neuen Mieter haben.«
Anna blickte zur Treppe. »Warten wir’s ab. Gute Nacht, Keith.«
Sie legte das Handy hin und kuschelte sich mit einem Seufzer tief in die Kissen. So. Dieses kleine Problem war gelöst. Sie würde Keith zum Dank ein paar Tage freigeben.
Befriedigt von ihren Bemühungen, wohl wissend, dass sie den heutige Kampf, aber nicht den Krieg verloren hatte, verfiel Anna in Schlaf – und träumte von einem Ritter in schimmernder Rüstung, der sie zitternd und von den Halbwüchsigen bedrängt am Frost Lake fand. Der Kampf, der sich daraufhin entspann, war so heftig gewesen, dass sie unbemerkt hatte entkommen können.