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Ist es wahr, Boss? Wird Tom den Betrieb wirklich verkaufen?«
Anna saß auf einem Stapel roher Bretter, die darauf warteten, in den Hobelschuppen geschafft zu werden, und schraubte ihre Thermoskanne auf. »Während wir hier reden«, erklärte sie den sichtlich besorgten Männern in der Frühstückspause, »ist er in Greenville und unterschreibt den Kaufvertrag.«
Weitere Männer gesellten sich zu der betreten wirkenden Gruppe. Es hatte sich rasch herumgesprochen. Das Gerücht war heute Morgen aufgekommen – vermutlich von Tom Bishop selbst in die Welt gesetzt, der wusste, dass die Männer sich an Anna wenden würden.
Loon Cove Lumber war Toms Werk. Er hatte den Betrieb an die fünfundvierzig Jahre geführt. Nun aber brachte er es nicht über sich, es den Männern selbst zu sagen, dass er verkaufen wollte, und hatte deshalb ein Gerücht ausgestreut. Anna blickte links und rechts auf ihre Schultern hinunter und fragte sich, ob sie breit genug waren, damit dreißig ausgewachsene Männer sich an ihnen ausweinen konnten.
»Es könnte ärger sein«, sagte sie. »Die meisten Sägewerke hier in der Gegend haben aus dem einen oder anderen Grund aufgegeben, Tom aber konnte Loon Cove Lumber verkaufen, weil der Betrieb schwarze Zahlen schreibt. Eure Jobs sind sicher – und das ist es, was zählt.«
»Wer ist der Käufer?«
»Ich weiß es nicht. Aber Tom sagte, es wären Einheimische. Das ist günstig für uns.«
»Einheimische?«, wiederholte Keith. »Vielleicht Clay Porter. In der Stadt hörte ich, dass er für irgendetwas Kapital aufzutreiben versuchte.«
Einige der Männer ächzten. »Zum Teufel. Doch nicht Porter«, sagte einer. »Der ist Holzfäller und hat keine Ahnung vom Sägen. Der kommt hier glatt hereingeschneit und will alles verändern.«
»Der feuert sicher ein paar Leute«, meinte ein anderer.
Anna schüttelte den Kopf und trank einen Schluck Tee. »Kann er nicht. Tom hat dafür gesorgt, dass ein Jahr lang niemand entlassen werden kann.«
»Das geht?«
»Ja«, versicherte sie. »Das ist üblich, wenn kleine Privatbetriebe den Besitzer wechseln. Der Verkäufer kann vereinbaren, dass nach dem Verkauf niemand seinen Job verlieren darf.«
Keith lächelte sie plötzlich an. »Heißt das, dass Sie ein Jahr lang niemanden feuern können, Chefin?«
»Nein. Denkt an den Burschen, der letzten Monat meinem Ladegerät in die Quere kam. Wer etwas vermasselt, ist draußen.«
Die Männer aßen wortlos ihren Proviant und tranken Kaffee, während sie sich die Neuigkeit durch den Kopf gehen ließen. Anna musterte ihre besorgten Gesichter. Es waren gute Männer, jeder einzelne, harte Arbeiter, Familienväter, anständige Menschen. Obwohl sie erst seit vier Monaten hier war, waren sie ihre Freunde.
In ihren ersten Wochen hatte sie Situationen erlebt, die einer gewissen Komik nicht entbehrten. Einige der Männer hatten umlernen müssen, als es darum ging, Anordnungen von einer Frau entgegenzunehmen, die in einigen Fällen jünger war als ihre Töchter. Aber Anna hatte ihre Feuerprobe bestanden, indem sie ihnen ruhig und geduldig bewies, dass sie von Holz und Holzverarbeitung etwas verstand und keine Bedrohung für ihre Existenz und ihre Männlichkeit darstellte. Sie hatte sich eine gute Arbeitsbeziehung geschaffen und stand mit den meisten auf freundschaftlichem Fuß.
»Ach, kommt schon, Leute«, mahnte sie und stieß Keith mit dem Ellbogen an. »Es könnte sich als geschickter Schachzug für Loon Cove Lumber erweisen: neues Blut, neues Kapital, neue Ideen. In den nächsten paar Jahren werden wir sicher wachsen und zu einer Kraft werden, mit der man in dieser Branche rechnen muss.«
Keith rieb sich die Rippen und runzelte die Stirn. »Ich überlege, wer in dieser Gegend so viel Geld hat.« Er schüttelte den Kopf. »Mir fällt niemand ein.«
»Na, wir werden es herausfinden«, sagte sie mit einer Kopfbewegung zum vorderen Tor. »Da kommen sie.«
Alle Blicke richteten sich auf den äußeren Parkplatz, als Tom seinen Truck auf seinen üblichen Platz fuhr. Ein blauer SUV parkte neben ihm, und alle vier Türen wurden geöffnet. Ihm folgte rasch ein roter Pick-up, in dem zwei Männer saßen.
Anna stöhnte auf. »O Gott. Kinder.« Sie sah ihr Team an. »Keiner startet einen Motor, solange sie da sind. Verstanden?«
Alle nickten. Die meisten waren Väter und wussten, dass Kinder und Maschinen eine gefährliche Konstellation darstellten. Die Kinder sprangen aus dem SUV und rannten sofort auf das Tor zu. Ihnen auf den Fersen war eine Frau, eine Schönheit, wie Anna auch aus dieser Entfernung erkennen konnte. Die Männer ihres Teams stellten sich sofort in Positur.
Hinter den Kindern stieg ein älterer Gentleman aus und ging auf Tom zu. Ein zweiter Mann, groß und dunkelhaarig, wartete, dass die zwei Männer aus dem roten Pick-up ausstiegen.
»Was zum Teufel …«, stieß Keith aufspringend hervor und richtete fassungslos den Blick auf die Gruppe, die mit Tom Bishop das Tor durchschritt. Er drehte sich um und blickte mit schiefem Lächeln auf Anna hinunter. »Ich glaube, jetzt kriegen Sie Ärger, Chefin. Erkennen Sie den Kerl in der Mitte?«
Anna saß stocksteif da, als Ethan Knight neben ihrem bisherigen Boss und alten Freund durch das Tor schritt. Plötzlich spürte sie die Blicke ihres Teams auf sich. Anna klappte den Verschluss ihrer Thermoskanne zu und stopfte ihren halb verzehrten Donut zurück in die Tüte. »Kommt, Leute. Die sollen nicht glauben, dass hier gebummelt wird. An die Arbeit.«
»Und die Kinder?«, fragte Keith.
Anna hielt inne. »Okay. Jetzt wird eben ohne Motoren gearbeitet.« Sie deutete auf den Hof. »Schaufelt den Schnee vom Dach der Lagerhalle. Die Maschinen müssen geölt werden – überhaupt könnt ihr euch mit der Wartung der Geräte beschäftigen. Die Sägen bleiben abgeschaltet, bis ich sage, dass ihr weitermachen sollt.«
Wie ein Idiot grinsend verschränkte Keith die Arme und sah sie an. »Und was werden Sie machen?«
Sie trat auf ihn zu und stieß ihm mit Thermosflasche und Lunchpaket in den Leib. »Ich begrüße unsere neuen Eigentümer«, sagte sie zuckersüß, knirschte dabei aber mit den Zähnen. Sie drehte sich um, straffte die Schultern und ging auf die Gruppe zu, die vor dem Büro stehen geblieben war.
Er hatte diesen Moment wochenlang kaum erwarten können. Ethan stand neben seinem Vater und seinen Brüdern und beobachtete Anna Segee, die entschlossen ausschreitend mit gezwungenem Lächeln auf Tom Bishop zuging.
Ethan grinste insgeheim. Seit einer Stunde war er ihr Boss.
Er hatte den Moment genau mitbekommen, als sie ihn erkannte; er hatte gesehen, wie ihr ganzer Körper erstarrte, als sie im Begriff war, aus ihrer Thermosflasche zu trinken. Alle Männer hatten sich zu ihr umgedreht, um ihre Reaktion zu sehen.
Eines musste man ihr lassen: Sie hatte einen kühlen Kopf bewahrt. Aber er hätte ihr frisch erworbenes Sägewerk verwettet, dass die Dame ein paar saftige Flüche unter ihrem Lächeln verbarg, als Tom Bishop sie Grady vorstellte.
Sie reichte seinem Vater bis zur Nase, war also groß für eine Frau. Ihren Arbeitshelm trug sie unter dem Arm, das Haar hing ihr in einem dicken Zopf über den Rücken. Es war hellbraun und hatte Glanzeffekte, die nicht aus der Flasche kamen, wie Ethan erkannte. Einige Strähnen hatten sich gelöst und umrahmten ihr entschieden junges Gesicht.
Ethan erkannte sofort, dass er sie zu jung eingeschätzt hatte und sie älter sein musste als zweiundzwanzig. Sie sah zwar aus, als ginge sie noch zur Highschool, doch wusste er, dass es unmöglich war. Es war sonderbar genug, dass Bishops Leute von einer Frau Anordnungen entgegennahmen, allerdings noch merkwürdiger, dass man sie zu respektieren schien.
Sie hatte ihre Jacke gewaschen, ihre Stiefel glänzten. Ethans Grinsen wurde breiter. Offensichtlich wollte sie bei den neuen Besitzern von Loon Cove Lumber einen guten Eindruck machen. Das bedeutete, dass Bishop den Mund gehalten und keiner Menschenseele, nicht einmal seiner Vorarbeiterin, verraten hatte, wer seinen Betrieb gekauft hatte.
Hätte Anna Segee sich so feingemacht, wenn sie es gewusst hätte?
Und wusste sie, wem sie ihre Hütte vermietet hatte?
Herrgott, es würde ein Heidenspaß werden.
»Warum laufen die Sägen nicht?«, wollte Tom wissen, dem offenbar erst jetzt auffiel, wie still es war.
Annas Wangen röteten sich leicht, als sie Delaney und Tucker ansah und dann wieder Tom. »Ich dachte, heute wäre ein guter Tag für Reparaturen und Wartungsarbeiten.«
Tom bedachte sie mit einem fragenden Blick, und Ethan wusste, dass sie log. Sie sah wieder zu den Kindern hin, und Ethan wurde klar, dass Delaney und Tucker der Grund waren, weshalb das Werk stillstand. Anna Segee hatte sich bereits als Sicherheitsfreak bewiesen, und sie war nicht bereit, die Kinder der neuen Eigentümer einem Risiko auszusetzen. Sie wollte ihnen aber auch nicht die Schuld daran geben, dass dreißig Mann zur Untätigkeit verdammt waren.
»Ich warte schon den ganzen Monat darauf, Sie kennenzulernen«, sagte Sarah Knight und schüttelte Anna die Hand. »Ich habe nicht schlecht gestaunt, als ich gehört habe, dass hier eine Frau als Vorarbeiter arbeitet. Oder sollte ich sagen, als Vorarbeiterin?«
Anna Segee lächelte und erwiderte höflich den Händedruck. »Vorarbeiter geht in Ordnung. Damit halten Sie es mit der Mehrheit, Mrs Knight«, erwiderte sie. »Tom ist eben ein vorurteilsloser Unternehmer.«
»Und Sie können alle diese Maschinen bedienen?«, fragte Sarah in aufgeregtem Ton und mit erwartungsvollem Blick.
»Ich bin mit großen Maschinen aufgewachsen und durfte sie auch fahren.«
Alex umfing seine Frau und zog sie an sich. »Nein, Sarah, sie hat keine Zeit, dir Stunden zu geben«, sagte er lachend. Er sah Anna an. »Machen wir einen Rundgang durch den Betrieb?« Alex drehte sich um und winkte seine Kinder herbei. »Aber zuerst sollten Sie den Rest der Familie kennenlernen. Das ist Delaney, und das ist Tucker.«
»Ich bin sieben«, erklärte Tucker. »Du hast Onkel Ethan gefeuert.«
Anna Segee, die sich nicht in Verlegenheit bringen ließ, lächelte dem jungen Mann zu und erklärte: »Ja, allerdings, weil dein Onkel etwas sehr Dummes gemacht hat. Hoffentlich bist du gescheiter. Bei der Betriebsbesichtigung heißt es aufpassen. Hier gibt es viele gefährliche Geräte, und ich möchte nicht, dass ihr euch verletzt.«
Nach dieser kleinen Lektion tätschelte sie Tuckers Kopf, und Ethan sagte zu seinem Neffen: »Stimmt, Tuck. Benimm dich, sonst lässt sie dich glatt im Truck warten.«
Sarah fasste nach Tuckers Hand. »Keine Angst. Die Kinder kennen die Gefahren auf einem Werkshof«, antwortete sie beruhigend.
»Auch wenn mein Sohn sie nicht kennt«, entgegnete Grady und sah Ethan kritisch an. Dann wanderte sein Blick zu ihrem neuen Vorarbeiter. »Sollte er sich nicht ordentlich dafür bedankt haben, dass Sie ihm das Leben gerettet haben, hole ich es nach. Danke, Miss Segee.«
»Ach, gern geschehen«, flüsterte sie, wieder errötend.
»Ich bin Paul«, sagte Paul und ging an Alex vorüber und nahm ihre Hand. »Haben Sie heute Zeit für ein Dinner?«
Anna Segee wurde noch röter. Rasch entzog sie ihm ihre Hand und steckte sie in die Tasche. »Sie werden heute Abend sicher Fox Run beziehen wollen, Mr Knight«, erwiderte sie. »Und ich trenne Privates immer vom Geschäftlichen.«
»Ach, Paul wird Loon Cove Lumber nicht leiten«, erklärte Grady, dessen Gesicht sich zu einem Grinsen in Fältchen legte. »Das wird Ethan machen. Vielen Dank auch, dass Sie uns eine Ihrer Hütten vermieten. Damit ersparen Sie ihm, dass er allabendlich um den ganzen See herum nach Hause fahren muss.«
Anna sah aus, als hätte sie eben einen Tannenzapfen verschluckt, wenn Ethan auch seinen Kopf verwettet hätte, dass sie eher fast an ihren Flüchen erstickte.
Schließlich sah sie ihn an und zwang sich wieder zu einem Lächeln. »Hoffentlich stoßen Sie sich nicht daran, dass die Umstände etwas primitiv sind. In der Hütte gibt es noch kein fließendes Wasser.«
Und jetzt würde sie sich erst recht nicht darum bemühen, schätzte er. Das Lächeln, mit dem er sie ansah, war völlig aufrichtig. »Ach, ich komme damit sicher gut zurecht.«
»Umso besser.« Sie wandte sich an Grady. »Was möchten Sie zuerst sehen?«
»Die Sägen«, gab Grady zurück. »Außerdem möchte ich die Belegschaft kennenlernen.«
Anna machte auf dem Absatz kehrt und ging auf das Büro zu. »Ich hole rasch ein paar Schutzhelme«, rief sie über die Schulter, als sie im Haus verschwand.
»Sie ist ein wenig durcheinander«, sagte Tom, der dabei Ethan ansah. »Sie wusste nicht, dass du bei ihr einziehen würdest, als ich sie überredete, eine ihrer Hütten zu vermieten.«
»Und warum?«, fragte Ethan.
Tom Bishop runzelte die Stirn. »Weil ich nicht möchte, dass sie dort draußen allein lebt. Und ich wusste, dass sie ablehnen würde, hätte sie gewusst, wer ihr Mieter sein wird.«
Das war eine Untertreibung. Ethan war sicher, dass die Lady sich im Moment den Kopf zermarterte, wie sie aus dem Mietvertrag aussteigen konnte. Doch er hatte heute Morgen zusammen mit der Besitzurkunde einen Mietvertrag für ein halbes Jahr unterschrieben. Anna war an ihn gebunden.
»Was ist so schlimm, wenn sie allein lebt?«, hakte Sarah nach. »Sie scheint selbst auf sich aufpassen zu können.«
»Ja, das kann sie allerdings«, räumte Tom ein. »Es ist nur so, dass Anna in letzter Zeit Ärger hatte. Ich werde ruhiger schlafen, wenn ich weiß, dass ein Mann in der Nähe ist.«
»Was für Ärger?« Ethan fragte sich, ob er sich auf einen Rollenwechsel vom Mieter zum Babysitter gefasst machen musste. »Macht ihr ein Ex-Freund Schwierigkeiten?«
Tom schüttelte den Kopf. »So einfach ist es nicht.« Er warf einen Blick zum Büro, ehe er wieder Ethan anschaute. »Ein paar Bauunternehmer wollen sie überreden, ihnen Fox Run zu verkaufen. Außerdem setzt ihr auch eine Gruppe von Historikern zu, die den Besitz erwerben möchte, um dort ein Museum hinzustellen.«
»Und sie will nicht?«, fragte Sarah.
»Nein. Das hat sie ihnen wiederholt gesagt, aber die Leute wollen sich nicht damit abfinden. Und dann wäre da noch ihr Gespenst.«
»Gespenst?«, wiederholte Paul.
Tom nickte. »Jemand stattet Fox Run nächtliche Besuche ab. Bis jetzt wurden nur die alten Gebäude heimgesucht, aber ich bin in Sorge. Man weiß nicht, ob es die Baulöwen, die Historiker oder sonstwer ist.«
Ethan schnaubte. »Sie müsste ihnen nur ihr Montiereisen zeigen.«
Als Tom und Grady ihn ungehalten ansahen, drehte Ethan sich einfach um und ließ seine Familie stehen – nicht ohne sich nach beiden Seiten umzublicken, als er über den Hof in Richtung Sägehalle ging.
An jenem Abend schneite es so stark, dass die Heimfahrt zur Karussellfahrt geriet, mit vier Zoll Schnee auf der Hauptstraße und mindestens sieben Zoll auf der Zufahrt nach Fox Run, der letzten Meile. Damit nicht genug, hatte Anna die Scheinwerfer eines anderen Pick-ups hinter sich, die sie ständig daran erinnerten, dass ihr ein Mann nach Hause folgte, der ihrem Magen Flickflacks bescherte.
Den ganzen Tag über hatte sich ihr Inneres in einem chaotischen Zustand befunden. Sie versuchte dies auf den Umstand zurückzuführen, dass sie ihre neuen Chefs durch den Betrieb geführt hatte, sowie darauf, dass sie in letzter Zeit zu wenig Schlaf bekommen hatte, da sie bemüht gewesen war, für ihren neuen Mieter die Hütte an das Wasser anzuschließen. Sogar das nahende Unwetter musste als Erklärung für ihren Anfall von Nervenschwäche herhalten.
In Wahrheit wusste sie es besser. Sie hatte gierig den Mietvertrag unterschrieben, bevor ein Name auf dem Vertrag erschien, und jetzt hatte sie es nicht nur den ganzen Tag bei der Arbeit mit Ethan Knight zu tun, er würde ihr im nächsten halben Jahr auch Abend für Abend nach Hause folgen und Nacht für Nacht nur einen Steinwurf entfernt schlafen.
Was bedeutete, dass es nicht die Gespenster sein würden, die sie wachhielten. Verdammt, er war zu einem gut aussehenden Mann herangewachsen.
Und er hatte sie noch immer nicht erkannt. Einerseits war es eine Erleichterung, andererseits schmerzte es teuflisch. Wie war es nur möglich, dass er sich nicht an sie erinnerte? Vor achtzehn Jahren war er ihretwegen grün und blau geschlagen worden und hatte einen Sommer lang einen Gipsarm getragen – und sie hatte ihn nicht trösten können, da sie unmittelbar nach dem Vorfall rasch nach Kanada verfrachtet worden war.
Als sie Ethan vor einem Monat gefeuert hatte, war es seit achtzehn Jahren der erste Kontakt mit ihrem Kindheitshelden gewesen.
In Loon Cove Lumber hatte er seine Familie umarmt, dann hatte er sich wie der edle Ritter, der er auch war, verbeugt und Anna bedeutet, in ihren Truck einzusteigen und vorauszufahren. Und die ganze Zeit über hatte er gegrinst wie die sprichwörtliche Katze, die entdeckt, wo der Kanarienvogel steckt.
Anna fuhr um eine enge Kurve und schickte automatisch ein stilles Stoßgebet zu Gramps, als sie sich der Stelle näherte, an der er vor vier Monaten von der Straße abgekommen war. Plötzlich verlor ihr Truck die Bodenhaftung, geriet ins Schleudern, und Anna riss das Steuer herum und ging vom Gas, verzweifelt bemüht, nicht von der Fahrbahn abzukommen. Das rechte Vorderrad rutschte ab, und der Wagen drohte durch sein Gewicht rasch tiefer und damit in den Abgrund zu fallen. Verzweifelt drehte sie das Steuer, trat das Gaspedal durch und manövrierte sich aus der Gefahrenzone.
Eine plötzliche Schneewolke nahm ihr die Sicht, und Anna spürte, wie der Vorderreifen wieder abrutschte, diesmal über den kritischen Punkt hinaus. Ihr Wagen schürfte an Felsen und Baumstümpfen vorbei, das Steuer sprang ihr aus der Hand. Der Wagen geriet immer schneller ins Rollen, sie wurde gegen die Tür und dann gegen die Decke gedrückt, als er unter ohrenbetäubendem Getöse auf dem Dach den Steilhang hinunterglitt.
In ihrem Sicherheitsgurt hängend, hielt Anna sich die Arme vors Gesicht, als Zweige durch die Windschutzscheibe und die Seitenfenster schlugen und gegen ihren Körper prallten. Schnee drang ins Wageninnere, bedeckte ihren Kopf und ihre Schultern und glitt wie Eisnadeln unter ihre Jacke.
Das mahlende Geräusch verstummte mit einem heftigen, endgültigen Aufprall, der ihr den Atem raubte. Der Wagen erbebte und erstarb, Stille umfing sie in einem Kokon aus verbogenem Metall und Schnee, der mit Rinde und Zweigen durchsetzt war. Sie roch Tannennadelduft, während sie mit dem Kopf nach unten in ihrem Sicherheitsgurt hing.
Anna öffnete die Augen. Um sie herum war unheimliche weiße Dunkelheit. Die Stille war erstickend; schwacher Benzingeruch ließ sie befürchten, Treibstoff könnte auf den heißen Motor gelangen. Unter angstvollem Herzklopfen verrenkte sie sich, baumelte vor und zurück und versuchte, einen freien Raum um sich herum zu schaffen. Ihre Arme waren intakt, ihre Zehen beweglich. Sie hatte keine Brüche abbekommen, saß aber in der Falle.
Sie verdrehte sich, um an den Gurtverschluss heranzukommen. Schnee fiel auf den Rücken ihrer Jacke, ein Schauer überlief Annas Kreuz und ließ sie bis ins Innerste erbeben. O Gott. Hatte Gramps das alles durchmachen müssen? Hatte er wie sie stundenlang gefangen hier liegen müssen?
Als etwas mit gedämpftem Aufprall gegen die Seite ihres Trucks schlug und ein Schimpfwort folgte, war sie erleichtert.
»Anna!«, hörte sie Ethans erstickte Stimme durch die weiße Dunkelheit, die sie umgab. Der Wagen schaukelte und presste sie gegen den Gurt. »Anna!«
Sie schlug auf den Schnee in Richtung Tür ein. »Ich stecke fest«, rief sie zurück. »Ich kann den Gurt nicht öffnen.«
»Ich bekomme die Tür nicht auf«, stieß er hervor. »Ich muss hinüber auf die andere Seite. Halten Sie sich fest.«
Sie schnaubte. Sie wurde festgehalten. Und der Schnee, der unter ihren Mantel geraten war, schmolz jetzt und lief als eisiges Rinnsal ihren Rücken hoch. Bis auf einen gelegentlichen Fluch des Mannes im Freien wurde es wieder still.
Anna drehte und wand sich und erweiterte ihren Kokon so weit, dass sie den Schnee auf die Beifahrerseite scharren konnte. Wieder erzitterte der Wagen und glitt ein Stück weiter hinunter, auf den Abgrund zu.
»Verdammt! Nicht rühren!«, brüllte Ethan.
»Holen Sie mich hier raus!«, rief sie zurück. »Ich rieche Benzin!«
»Erst muss ich den Wagen abstützen«, hörte sie noch, dann wurde seine Stimme undeutlich.
Vorsichtig und in kleinen Portionen buddelte Anna Schnee aus, um einen Tunnel zu schaffen. Sie brauchte Luft. Obwohl sie wusste, dass sie nicht Gefahr lief zu ersticken, hatte sie das verdammte Gefühl, es wäre der Fall. Plötzlich war ihr Retter wieder an der Fahrertür.
»Anna, hören Sie mich?«
»Ja.«
»Der Wagen ist abgestützt, aber ich weiß nicht, wie lange das hält. Keine der Türen lässt sich öffnen, und ich wage es nicht, Sie durch die Windschutzscheibe herauszuziehen, weil das Lenkrad ein Hindernis bildet, aber Ihr Seitenfenster ist zerbrochen. Ich grabe mich zu Ihnen durch und ziehe Sie dort heraus.«
»Ich kriege den Gurt nicht auf. Ich komme an den Verschluss nicht heran.«
»Ich habe ein Messer.«
Plötzlich erschien seine Hand durch den Schnee neben ihr, und Anna ergriff sie.
»Und jetzt ganz ruhig«, sagte er aus unmittelbarer Nähe und zog seine Hand weg. »Erst muss ich den Schnee wegschaffen.«
»Rasch!«, rief sie.
Sie glaubte ein leises Lachen durch den Tunnel zu hören, den er gegraben hatte. Der zusammengepresste Schnee um sie herum verschwand langsam, bis Anna Ethan sehen konnte, wenn auch verkehrt herum. »Sieht aus, als wären Sie und meine Schwägerin auf Unfälle abonniert.« Er wischte ihr den Schnee aus Gesicht und Haaren. »Stecken Ihre Beine fest oder spüren Sie einen Knochenbruch? Ich werde nämlich in einem Zug den Gurt durchschneiden und Sie herausholen.«
»Meine Beine sind frei, es ist nichts gebrochen.«
Er richtete sich auf und zog ein Messer aus einer Scheide an seinem Gürtel und warf einen Blick zum Heck des Wagens, die Augen gegen den Flockenwirbel zusammenkneifend. »Wenn ich den Gurt durchschneide, plumpsen Sie wie ein Stein herunter und könnten die Karre in den Abgrund schicken.« Nun sah er wieder sie an. »Halten Sie sich mit aller Kraft an mir fest, wenn ich Sie herauszerre.«
Andernfalls lande ich mit dem Wagen ganz unten, dachte sie, als sie zustimmend nickte. Auf einmal fühlte Anna sich wieder wie als Elfjährige, als sie an den entschlossenen Blick in seinen zwölfjährigen Augen in jenem längst vergangenen Sommer erinnert wurde.
Er trat näher und streckte die Hand aus. »Festhalten, und dann los.«
Sie umfasste ihn mit zitternden Händen und spürte, wie seine Muskeln sich unter ihrem Griff anspannten.
»Ganz ruhig«, beschwichtigte er sie. »Ich lasse Sie schon nicht mit dem Wagen absacken.«
»Ich weiß.«
Er grinste. »Ach? Warum zittern Sie dann wie Espenlaub?«
»Ich friere«, fuhr sie ihn an. »In meiner Jacke schmilzt ein Schneeberg. Los, Knight … der Gurt.«
Er wurde ernst. »Ist wirklich nichts gebrochen? Nacken und Rücken in Ordnung?«
»Mir geht es prächtig, wenn ich nur aus dieser verdammten Karre freikäme!«
»Gut. Also, festhalten.« Er griff hinein und packte die Vorderseite ihrer Jacke mit der Faust.
Anna krallte die Finger in seinen Ärmel und schloss die Augen. Der Gurt, der sie festhielt, gab sie plötzlich frei, und sie fiel gegen das Dach. Unter dem Aufprall geriet der Wagen ins Schwanken und Rutschen. Metall schürfte über Fels, so heftig, dass das kreischende Geräusch ihren Aufschrei übertönte, als Ethan sie herauszog. Sie stieß sich den Kopf an der Tür an, ihre Hüfte prallte gegen den Außenspiegel, der sich in ihrer Jackentasche verfing, und Anna spürte, wie sie mit dem Wagen nach unten gezogen wurde.
Ethans Griff war unerschütterlich. Er hielt ihre Jacke fest und setzte sein Messer ein, um auf ihre Tasche einzustechen. Um sie entbrannte ein heftiges, nur Sekunden dauerndes Tauziehen, dann war sie frei und das Gefährt sauste als undeutlicher Eindruck von verbogenem schwarzem Metall an ihr vorüber in die Tiefe.
Anna tastete sich verzweifelt an Ethans Körper hoch, und er schlang beide Arme um sie und drückte sie an sich. Tief unter ihnen knickten Bäume um, als ihr Pick-up immer schneller kollernd und sich immer wieder überschlagend auf dem Grund der Schlucht landete und in Flammen aufging. Ein Feuerball explodierte in ihre Richtung, und Ethan ließ sich mit ihr in den Schnee fallen und begrub sie unter sich, während es Zweige und Trümmerstücke regnete.
Der Mann wog eine Tonne, doch kümmerte es sie nicht, dass sie keine Luft bekam. Er hatte ihr das Leben gerettet. Schließlich hatte der Regen feuriger Geschosse ein Ende, und Ethan hob vorsichtig den Kopf und blickte auf sie hinunter. Sein Lächeln war wieder da.
»Sie stehen wohl auf Gräben, Segee.«
»Das reicht«, zischte sie zähneknirschend und wollte sich unter ihm hervorwinden.
Er gab kein Zoll nach und packte ihre Hand, die gegen seine Brust trommelte. »Zittern Sie vor Kälte, oder mache ich Sie so nervös?«
»Gleich übergebe ich mich.«
Das wirkte. Er rollte sich weg, setzte sich auf und zog sie mit sich. Dann packte er sie am Nacken und drückte ihren Kopf hinunter zwischen ihre Knie. »Tief durchatmen«, riet er ihr und zog ihr die Jacke aus.
Sie griff hastig nach der Jacke. »Ich erfriere noch!«
»Sie sind durchnässt und haben eine ganze Schneeladung am Rücken.« Er griff unter ihren Pullover.
Seine Finger brannten wie glühende Kohlen. Annas Körper durchzuckte ein heftiges Schaudern. O Gott, jetzt musste sie sich übergeben. Sie raffte sich auf und fiel prompt flach aufs Gesicht.
»Ganz ruhig«, sagte Ethan, der aufstand und seine Arme um ihre Taille schlang, um sie im Gleichgewicht zu halten. »Ihnen ist noch schwindlig. Da kann man nicht einfach so aufspringen.«
Er machte sich daran, den Hang hinaufzusteigen, ohne auch nur einmal seinen Griff um sie zu lockern, und Anna war dankbar für seine Hilfe. Ihre Knie zitterten, weil sie erkannte, dass sie beinahe ums Leben gekommen wäre.
»Es sei denn, mein Charme bereitet Ihnen Schwindelgefühle«, meinte er, als er sie auf einen Felsblock auf halbem Weg zur Anhöhe setzte.
Sie sah ihn blinzelnd an. Sein Gesicht war vom Lichtschein des noch immer brennenden Autowracks umgeben. »Charme?«
Er legte den Kopf schräg. »Ja. Charme liegt bei uns in der Familie.«
Sie schnaubte und machte ihm Platz, als er auf den Felsblock sprang und sich neben sie setzte. Persönlich war sie der Meinung, dass er in seiner Familie das gute Aussehen mitbekommen hatte – wenn sie auch nicht die Absicht hatte, es ihm zu sagen. »Sie haben mehr Muskeln als Verstand mitbekommen«, sagte sie.
Er saß neben ihr, während um sie herum ein Schneesturm tobte und der Wind ihnen große nasse Flocken ins Haar und Gesicht trieb.
»Diese Muskeln haben Ihnen eben das Leben gerettet.«
»Und mein Verstand hat letzten Monat Ihr Leben gerettet.«
Ein Grinsen teilte sein Gesicht. »Dann sind wir quitt. Ziehen Sie den Pullover aus.« Er schlüpfte aus seiner Jacke. »Wir brauchen zehn Minuten, um bis zu meinem Truck hinaufzuklettern. Noch ehe wir oben sind, werden Sie erfrieren.«
Sie zögerte. Er hatte recht, wie sie wusste. »Drehen Sie sich um.«
Er lachte, folgte aber ihrer Aufforderung. Anna zog den Pullover über den Kopf, und als ihr Gesicht wieder frei war, sah sie, dass er sich wieder zu ihr umgedreht hatte. Und jetzt lachte er nicht mehr.
Sie schubste ihn mit aller Kraft, stieß ihn vom Felsblock und entwendete ihm die Jacke, als er hinfiel. »Sie nichtsnutziger dreckiger Idiot!«, beschimpfte sie ihn und sah direkt in sein schockiertes Gesicht.
»He, ich habe nur geschaut, ob Sie Verletzungen haben.«
»Ja, ganz recht!«
Sie schlüpfte in seine Jacke, die sie bis zum Hals zuknöpfte, und kuschelte sich in die himmlische Wärme. »Zum Teufel mit meinem Montiereisen, ich lege mir eine Flinte zu. Eine mit neun Kugeln und Laservisier.«
Er streckte ihr beide Hände entgegen. »Wollen Sie hier Wurzeln schlagen, oder möchten Sie noch vor dem Morgen nach Hause kommen?«
Sie warf einen Blick in den Abgrund. »Meinen Wagen habe ich zu Schrott gefahren«, sagte sie mehr zu sich als zu ihm. »Was soll ich jetzt machen?«
»War er versichert?«
»Nur Haftpflicht.«
»Dann rufen Sie Ihren Daddy an. Sicher wird er Ihnen eine neue Karre kaufen.«
Sie sah ihn mit einem Ruck an. »Wieso kennen Sie meinen Vater?«
Ethan hob die Schultern hoch. »Ich kenne ihn nicht. Aber ich schätze, dass es nicht viele Damen namens Segee gibt, die sich mit Sägewerken auskennen. Und ihr Akzent ist eindeutig frankokanadisch. Sie müssen mit Segee Logging and Lumber of Quebec verwandt sein.«
Anna, die wieder zu ihrem brennenden Wagen hinunterstarrte, stellte seine Vermutung nicht in Abrede. Es spielte keine Rolle, wenn er wusste, wer ihr Daddy war; kein Mensch würde Samuel Fox mit André Segee in Verbindung bringen. »Er würde diesen Unfall nur als einen Grund mehr für meine Rückkehr ansehen.«
Anna spürte plötzlich zwei Hände an ihrer Taille und wurde vom Stein heruntergezogen, bis sie gegen eine steinharte Brust gedrückt wurde. »Ich kenne jemanden, der Sie zur Arbeit und zurück fahren wird, bis Sie einen neuen Truck haben.«
Sie machte sich los, ging auf Abstand und drehte sich zu ihm um. »Ich fahre mit meinem Motorschlitten.«
Er ergriff ihre Hand und zog sie bergauf. »Sie sind doch die dickköpfigste Person, die ich kenne.«
»Danke.«
Er blieb stehen und sah sie unfreundlich an.
Anna kletterte an ihm vorüber.
Sie brauchten nicht zehn Minuten bis nach oben, sondern zwanzig. Ihre Beine wollten einfach nicht. Ethan musste ihr die meiste Zeit helfen, und als sie es endlich zur Straße geschafft hatten, warf Anna sich erschöpft in eine Schneewechte.
»Wir dürfen nicht stehen bleiben. Sie müssen sich vor Unterkühlung hüten.«
»Nur einen Moment«, sagte sie und keuchte bei jedem Muskelkrampf. Sie wusste, dass sie am nächsten Morgen keinen Finger würde rühren können. Ihr ganzer Körper schmerzte von Kopf bis Fuß.
Ethan, der vom Aufstieg nicht einmal außer Atem geraten war, ließ sich neben ihr nieder. »Sie müssen nach Hause und brauchen ein heißes Bad.«
Sie ließ den Blick über den dunklen Wald wandern. Die Flammen ihres brennenden Wagens waren erloschen, der Wald wirkte unheimlich und bedrohlich. O Gott, wie sie die Dunkelheit hasste. »Wo ist Ihr Truck?«
»Ein Stück weiter. Ich habe gesehen, wie Sie ins Schleudern gerieten, konnte aber nicht anhalten.« Er warf einen Blick nach hinten. »Die Straße muss unter dem Schnee voller Eis sein.«
Anna rieb sich die Stirn. »Hier kam Samuel Fox ums Leben. Ihm ist genau dasselbe passiert.« Sie sah den Mann an, der neben ihr saß. »Nur hatte er niemanden, der ihn herauszog. Ich hörte, dass man ihn erst zwei Tage später fand.«
»Wie sind Sie nach Fox Run geraten? Sind Sie mit Samuel verwandt?«
Als sie über ihre Stirn strich und dabei müde seufzte, richtete Ethan seine Aufmerksamkeit auf die Radspuren, die im Zickzack von einer Straßenseite zur anderen verliefen. Er griff hinunter und strich den Schnee neben sich weg. »Über die Straße muss ein Wasserlauf führen. Unter diesem Schnee ist es spiegelglatt.«
»Hier war nie eine Quelle. Eine Viertelmeile weiter gibt es eine tiefer im Wald.«
Er richtete seinen Blick wieder abrupt auf sie, und Anna sah, dass er die Augen zusammenkniff. »Ich bin schon den ganzen Winter über da, und mir ist nie aufgefallen, dass es an dieser Stelle besonders eisig wäre«, erklärte sie rasch. »Auf Fox Run gibt es eine Landkarte, auf der eine Quelle hier drüben eingezeichnet ist.« Sie deutete in Richtung Hauptstraße.
Es war einen Moment lang still, dann stand Ethan schließlich auf. »Quellen können schlimmer sein als alte Freundinnen. Sie tauchen plötzlich an den unmöglichsten Orten auf.«
»Haben Sie öfter dieses Problem?«, fragte sie und ergriff seine ausgesteckte Hand, um aufzustehen.
Er gab keine Antwort. Sie rutschten und schlitterten zu seinem Truck, der fast von der Straße abgekommen war und mit dem linken Vorderreifen tief im Schnee steckte. Sie folgte den Reifenspuren bis zu dieser Stelle.
»Sehr eindrucksvoll«, sagte sie spöttisch und öffnete die Tür.
»He, mein Truck ist immerhin noch auf der Straße.«
»Er steckt aber fest.«
»Der Motor ist in Ordnung, also können Sie sich wärmen. Ich habe hinten einen Greifzug, der uns heraushelfen wird.«
»Ich helfe Ihnen.«
Er hob sie auf den Sitz. »Nichts da. Sie werden hier schön bei laufender Heizung sitzen. Sie zittern nicht mehr, und Ihre Worte kommen undeutlich. Segee, Sie sind am Umkippen.«
»Sehr schön. Spielen Sie sich ruhig als Macho auf. Ich werde hier liegen und sterben.«
»Einschlafen dürfen Sie nicht. Lassen Sie den Motor an, öffnen Sie den Reißverschluss meiner Jacke und ziehen Sie die Schuhe aus.«
Sie blinzelte. Er sah tatsächlich ein wenig verschwommen aus. Und sie wusste um die Gefahr eines Einschlafens, aus dem es kein Erwachen gab. Aber es ärgerte sie, Ethan völlig ausgeliefert zu sein.
»Unter dem Sitz ist eine Thermosflasche mit Kaffee«, sagte er. »Er müsste noch lauwarm sein.«
»Ich hasse Kaffee.«
Der böse Blick, mit dem Ethan sie bedachte, hätte einen Bären abgeschreckt. Nur um ihm zu zeigen, dass sie noch nicht tot war, schob Anna ihn mit ihrem Fuß weg und zog die Tür zu. Dann drehte sie den Zündschlüssel um.
Ethan griff in die Ladefläche und zog den Flaschenzug heraus, der sich an einem Baum festhaken ließ, so dass man den Truck aus der Schneewechte herauskurbeln konnte. Anna zog den Reißverschluss seiner Jacke auf und machte sich daran, die gefrorenen Schnürsenkel aufzubinden. Einen Schuh schaffte sie, dann fielen ihr die Augen zu. Sie legte den Kopf mit einem Seufzer auf den Sitz und schlief ein.