8
Die Arbeit lief gut – vermutlich war die Belegschaft froh, sie wieder bei sich zu haben –, und Anna war glücklich, wieder an der Arbeit zu sein. Stand sie inmitten eines betriebsamen Werkhofes, schienen alle ihre Probleme sich in Wohlgefallen aufzulösen. Alle bis auf eines; Ethan saß ihr noch immer schmerzlich im Nacken und schwankte zwischen Verdruss und bösen Blicken, weil alles wie ein gut geöltes Uhrwerk lief.
»Keith, kann ich mir Ihren Truck für eine Fahrt nach Oak Grove ausborgen?«, fragte Anna.
»Aber sicher, Chefin. Die Schlüssel sind drinnen. Nehmen Sie ihn, so lange Sie wollen.« Keith, der einen Haufen Baumstämme inspizierte, notierte etwas auf seinem Klemmbrett und lächelte ihr zu. »Sie können ihn heute mit nach Hause nehmen. Ich fahre bei David mit.«
»Danke, aber ich brauche den Wagen nur über Mittag.«
»Ich muss auch in die Stadt«, ließ sich Ethan hinter ihr vernehmen. »Ich fahre mit Ihnen.«
Anna fuhr herum. »Ich bin zwei Stunden zum Lunch verabredet.«
Er zog eine Braue in die Höhe. »Während der Arbeitszeit?«
»Nein, während meiner Freizeit.«
Nun zuckte die andere Braue in die Höhe. »Ihr Scheck wird diese Woche spärlich ausfallen.«
Anna winkte Bear heran, indem sie sich auf den Schenkel klopfte. »Das sollte er besser nicht sein. Die Krankentage zählen mit.«
Ethan fiel neben ihr in Gleichschritt. »Haben Sie schon einen geeigneten Truck gefunden? Ich komme mit und sorge dafür, dass Sie keine lahme Ente kaufen.«
»Ich will in den Waffenladen.«
Er drehte sie zu sich um. »Sie wollen doch nicht allen Ernstes eine Handfeuerwaffe kaufen? Die können gefährlich sein.«
»Nur für den, der am falschen Ende steht«, schoss sie zurück und ging wieder zurück zu Keiths Truck.
Ethan kletterte auf den Beifahrersitz und ließ den Sicherheitsgurt klicken. »Ein Waffenkauf dauert nicht zwei Stunden«, sagte er über Bears Kopf hinweg.
Anna verbarg ihr Lächeln, indem sie den Verkehr im Auge behielt, als sie vom Parkplatz auf die Straße nach Oak Grove einbog. »Außerdem bringe ich Bear zur Untersuchung. Dr. Knox soll mit seinen vierbeinigen Patienten sehr einfühlsam umgehen. Ich kann es kaum erwarten, ihn kennenzulernen.«
Schweigen senkte sich auf die Fahrerkabine des Trucks. Sie hätte Ethan nicht reizen dürfen, aber es war so verführerisch leicht. Außerdem wollte sie ihm seinen ach so verwirrenden Kuss heimzahlen, der bewirkte, dass sie sich bis zum Morgengrauen schlaflos im Bett gewälzt hatte.
»Knox ist eine Handbreit kleiner als Sie, fast ganz kahl und riecht immer antiseptisch«, bemerkte Ethan und zog Bears Kopf auf seinen Schoß herunter, damit er sie ansehen konnte. »Und er ist mindestens zehn Jahre älter als Sie.«
»Dann ist er also dreißig?«
»Ich weiß, dass Sie neunundzwanzig sind. Ich habe ja Ihre Arbeitsunterlagen. Knox ist ein rundlicher Gnom.«
Nun erst lächelte Anna ihn offen an. »Was hat das Aussehen mit der Persönlichkeit zu tun? Außerdem sollen Gnome richtig knuddelig sein.«
Der Blick, mit dem Ethan sie bedachte, hätte Anna zu Toast rösten sollen, sie aber lächelte nur noch breiter und fuhr auf einen Parkplatz vor dem Drooling Moose Café. »In zwei Stunden treffen wir uns hier«, erklärte sie und bedeutete Bear, er solle sitzen bleiben. »Ich bringe dir einen leckeren Burger mit, Kleiner«, versprach sie, sperrte ab und ging ins Café.
Ethan fiel neben ihr in Gleichschritt und ließ ihr den Vortritt in das gut besuchte Lokal. Anna ging zur Theke und setzte sich auf den einzigen leeren Hocker zwischen einen älteren Herrn, der ihr unbekannt war, und einer Frau mit zwei kleinen Kindern, die sie gut kannte.
»Na, du hast ja alle Hände voll zu tun, wie ich sehe«, sagte sie lachend und entriss der Zweijährigen auf Jane Trotts Schoß eine Gabel, ehe die Kleine Jane ins Auge stechen konnte, die den vierjährigen Jungen festhalten musste, da er von seinem Hocker rutschen wollte. »Du spielst also noch immer Babysitterin für deine Schwester. Wie geht es ihrem Mann?«
Jane sah sie mit einem entschuldigenden Lächeln an und setzte Anna die schreiende Zweijährige auf den Schoß. »Pete macht sich ganz gut. Kannst du Megan eine Weile halten? Travis muss mal.«
Anna gab Megan einen Löffel als Ersatz für die Gabel, die sie stibitzt hatte. Sofort steckte die Kleine ihn in den Mund, und es trat eine angenehme Stille ein. »Klar.«
»Ach … hi, Ethan«, begrüßte Jane ihn und lief tiefrot an, als sie mit Travis im Schlepptau nach vorne ging.
»In der Ecke ist eben ein Tisch frei geworden«, bemerkte Ethan und nahm Anna die kleine Megan ab, bevor sie protestieren konnte. Dann drehte er sich um und ging mit dem plötzlich lachenden Kind, das ihm den Löffel in den Mund zu schieben versuchte, durch den Raum.
Verdammt, warum schaffte sie es nicht, diesem Mann mindestens eine Nasenlänge voraus zu sein? Immer wenn sie dachte, sie hätte ihn endlich abgehängt, hatte er einen Weg gefunden, ihr direkt ins Gesicht zu springen. Anna griff nach der großen Windeltasche, die Jane unter der Theke hinterlassen hatte, und lief ihm nach.
»Hier ist es für die Kinder günstiger«, sagte er, als Anna sich setzte, und fing an, Besteck und Kaffeetassen aus Megans Reichweite zu schieben. »Ich fasse es nicht, dass Jane sich mit diesen Rackern in die Öffentlichkeit wagt«, fuhr er fort und fing Megans ausholende Faust ab.
»Seit Petes Unfall kümmert sie sich um die Kinder, damit ihre Schwester bei ihm in Bangor bleiben kann. Zu Hause fällt ihr wohl die Decke auf den Kopf, deshalb dachte sie, es wäre nett, mal mit den Kindern auswärts zu essen. Haben Sie schon gehört, wie es Pete geht?«, erkundigte Anna sich und kramte in ihrer Tasche, bis sie einen grünen Stift gefunden hatte, den sie Megan überließ. Sofort ließ die Kleine den Löffel fallen und fasste nach dem Stift, um die papierene Platzmatte vollzukritzeln.
»Er ist in besserer Verfassung als sein Holzlaster, der ein Wrack ist. Er wird eine Therapie brauchen, in zwei, drei Monaten aber wird er wieder Holz transportieren.«
»Er arbeitet für Sie?«
Ethan führte Megans Hand und zeichnete ein Strichmännchen. »Wir haben ihn unter Vertrag«, bestätigte er und blickte auf. »Nächsten Samstag findet ein Tanzabend statt, um Geld für seine Rechnungen aufzubringen, bis er wieder arbeiten kann. Gehen Sie hin?«
»Natürlich. Ich lasse keine Wohltätigkeitsveranstaltung aus.«
Ganz plötzlich erstarrte Ethan, seine Miene verwandelte sich auf sonderbare Weise. Er hob Megan von seinem Schoß. »Ach, Teufel«, murmelte er.
Anna hielt sich die Hand vor den Mund, um nicht laut loszuprusten, als Ethan aufstand und die feuchten Flecken auf seiner Hose begutachtete. »Sie hat mich angepinkelt«, knurrte er und blickte sich suchend nach Jane um. »Lachen Sie nicht«, stieß er leise hervor, klemmte die Kleine unter den Arm wie einen Fußball und steuerte mit der Windeltasche auf die Toilette zu.
Zwei Minuten später kam er mit Travis in den Armen wieder. Anna stand auf und schlüpfte in ihre Jacke. »Eigentlich bin ich nicht sehr hungrig. Wir treffen uns in etwa anderthalb Stunden beim Wagen«, sagte sie. Ohne seine Antwort abzuwarten, ging sie auf die Suche nach Jane.
Sie stieß mit ihr zusammen, als sie aus der Toilette kam. »Wohin gehst du?«, fragte Jane ein wenig verzweifelt. »Wo ist Travis?«
»Bei Ethan.«
»Ach bitte, lass mich mit Ethan nicht allein«, bat Jane. »Hole Travis und begleite mich dann hinaus zu meinem Wagen. Bitte!«
»Du hast doch nicht etwa Angst vor Ethan?«, wollte Anna erstaunt wissen. »Warst du nicht eine Zeitlang mit seinem Bruder Paul zusammen?«
Jane verschob Megan auf ihrer Hüfte und nickte. »Deshalb wäre es mir peinlich, mich zu Ethan zu setzen. Bitte, hole Travis. Ich mache uns zu Hause einen Lunch, und wir könnten … wir könnten miteinander reden.« Sie trat näher. »Bitte, Anna. Ich muss mit jemandem sprechen, und meine Familie hat im Moment genug um die Ohren.«
Aus Janes Augen sprach so viel Verzweiflung, dass Anna nicht ablehnen konnte. Jane war die erste Freundin, die sie in Oak Grove gefunden hatte, als diese ihr vor vier Monaten in ebendiesem Café einen Platz an ihrem Tisch angeboten hatte. Seither hatten sie einander oft besucht und hatten auch die neunzig Meilen nach Bangor auf sich genommen, um dort zu shoppen oder ins Kino zu gehen.
»Natürlich esse ich bei dir«, erwiderte Anna rasch und machte auf dem Absatz kehrt, um Travis zu holen. »Planänderung«, erklärte sie Ethan und hob den Jungen hoch. »Ich bringe mit Jane die Kinder nach Hause und esse bei ihr.«
»Und was wird aus dem Waffenladen und Bears Arztbesuch?«
»Beides muss bis morgen warten.« Sie reichte ihm die Schlüssel zu Keiths Truck. »Besorgen Sie für Bear einen Hamburger und bringen Sie ihn in den Betrieb, ja? Ich werde vom Haus von Janes Schwester aus fahren.«
»Wie das?«
»Das Haus liegt an der Hauptstraße. Ich hüpfe bei einem Holztransporter hinein, der nachmittags eine Lieferung bringt.«
»Sie werden doch nicht autostoppen?«
Anna verdrehte die Augen. »Ich kenne alle Fahrer.«
»Und was ist mit der Arbeit? Sie können sich doch nicht freinehmen, wann es Ihnen passt. Wir haben einen Betrieb zu führen.«
»Der läuft jetzt von allein. Ich bin spätestens um drei wieder da.« Sie drehte sich um, ehe er etwas einwenden konnte, und schleppte Travis durch den dicht besetzten Raum. »Herrje, was bist du für ein großer Junge«, sagte sie und verschob den Kleinen auf der Hüfte.
»Megan hat Pipi auf ihn gemacht«, verriet Travis.
»Ja, das hat sie«, sagte Anna. »Dafür stehe ich tief in ihrer Schuld.«
Anna schluckte ihren plötzlich trocken gewordenen Sandwichbissen. »Aber ich dachte, du hättest mit Paul Knight schon vor Monaten Schluss gemacht?«
»Habe ich auch«, sagte Jane, die auf ihren Teller starrte. »Er trifft sich jetzt mit Cynthia Pringle.«
»Und in welchem Monat bist du?«, fragte Anna leise.
»Im vierten. Ich war in Bangor bei einem Arzt, damit hier niemand Wind davon bekommt.«
»Paul weiß es also nicht?«
Jane schüttelte den Kopf.
»Niemand weiß es? Auch nicht deine Eltern und Geschwister?«
Wieder schüttelte Jane den Kopf.
»Jane, du musst es jemandem sagen.«
»Ich sage es dir.«
Anna lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Du musst Paul sagen, dass du sein Kind bekommst«, sagte sie. »So etwas kannst du nicht für dich behalten. Außerdem wird es ohnehin bald jeder wissen«, sagte sie und deutete dabei auf Janes Bauch. »Sicher kann Paul so weit zählen, um sich auszurechnen, dass er der Vater ist.« Anna beugte sich vor und schob den Teller von sich, um die Arme auf dem Tisch aufzustützen. »Er verdient es, es von dir zu erfahren und nicht von einer übereifrigen Klatschbase aus der Stadt – je früher, desto besser. Ihr beide müsst entscheiden, was ihr weiterhin tun wollt.«
»Aber ich weiß nicht, wie ich es ihm beibringen soll«, flüsterte Jane.
Anna umfasste die kalten Finger ihrer Freundin. »Ignoriert man die Fakten, bringt man sie nicht zum Verschwinden. Du kannst das alles nicht allein durchstehen. Es Paul nicht zu sagen, wäre unfair – Paul, dir und dem Baby gegenüber.« Sie tätschelte Janes Hände und lehnte sich wieder zurück. »Glaube mir, ich weiß, wovon ich rede. Meine Mutter verheimlichte mich meinem Vater, und ich fragte mich während meiner ganzen Kindheit, wer er sein mochte … und wer ich bin.«
Jane schaute erstaunt auf. »Du hast deinen Vater nicht gekannt?«
Anna lächelte andeutungsweise. »Ich war elf, als ich ihn schließlich traf. Doch er machte die verlorene Zeit wett und ist bis heute ein liebevoller, überbesorgter Vater geblieben.«
»Und wie hat deine Mutter dich vor ihm verheimlicht?«
»Sie lebten nicht im gleichen Ort. Meine Eltern lernten einander bei einer Holzfäller-Show kennen, hatten eine Affäre, und nachdem die Woche um war, ging jeder seines Weges.« Sie stützte wieder die Arme auf den Tisch. »Aber du und Paul werdet einander dauernd über den Weg laufen. Die Knights sind doch anständige Leute. Paul wird das Richtige tun.«
»Aber was ist richtig?«
Anna zog die Schultern hoch. »Ich weiß es nicht. Ihr habt ein Baby gemacht, und jetzt liegt es an dir und Paul zu entscheiden, was für euch drei das Beste ist. Liebst du ihn?«, fragte sie leise.
Jane sah sie blinzelnd an. »Ja. Doch ich habe Angst.«
»Vor Paul?«
»Vor ihm weniger, sondern vor seiner ganzen Familie.« Jane rutschte nervös hin und her. »Die Knights haben in Bezug auf Frauen keine Erfolgsbilanz aufzuweisen – zumal was Frauen betrifft, die schwanger werden. Alex Knights erste Ehe endete mit einer Katastrophe, und alle Welt wusste, dass Charlotte ihn mit ihrer Schwangerschaft zur Ehe zwang. Und Ethan …« Jane überlief ein Schauer. »Vor ein paar Jahren gab es einen Riesenskandal um Ethan und eine gewisse Pamela Sant. Gerüchten zufolge lieferten sie sich nach einem fürchterlichen Streit ein Wettrennen auf einer einsamen Forststraße. Pamela kam ums Leben, als ihr Wagen eine Kurve nicht schaffte und im Oak Creek landete. Ihre Eltern brachten Ethan wegen Totschlag vor Gericht, da ihre Tochter von der Straße abgekommen wäre, nachdem er sie gejagt hätte. Weil er aber nicht in Pams Wagen gesessen hatte und es keine Zeugen gab, wurde er freigesprochen. « Jane beugte sich zu ihr. »Pamela war schwanger«, flüsterte sie. »Und Ethan ist seither nicht mehr derselbe. Er wurde hart und unzugänglich und ist zu Frauen meist sehr abweisend. Verstehst du jetzt, warum ich zögere, es Paul zu sagen?«
»Nein, eigentlich nicht«, erklärte Anna ebenso leise, bemüht, der Argumentation ihrer Freundin zu folgen. »Was haben Alex und Ethan mit dir und Paul zu tun?«
Jane ballte die Fäuste auf dem Tisch. »Wir waren immer vorsichtig, doch als wir vergangenen Herbst für ein paar Tage nach Bangor fuhren, muss es passiert sein. Und jetzt gehöre ich zu den Frauen, denen ein Knight-Mann ein Kind machte. Paul wird glauben, ich wäre mit Absicht schwanger geworden, und alle anderen werden glauben, ich versuche, in eine der reichsten Familien der Gegend einzuheiraten.«
Anna konnte sie nur sprachlos anstarren.
»Das behaupteten alle von Pamela Sant. Es hieß, sie wäre so wie Alex’ erste Frau gewesen, und deshalb war Ethan so wütend«, erzählte Jane. »Und genau das wird Paul glauben, wenn ich es ihm sage.«
»Du bist ja nicht von selbst schwanger geworden.«
Jane schlug schluchzend die Hände vor das Gesicht. »Ich werde enden wie Madeline Fox«, jammerte sie. »Alle werden wissen, dass ich leicht zu haben bin, man wird mein Kind in der Schule hänseln, Männer werden sich an mich heranmachen, es wird eine lieblose Ehe nach der anderen folgen genau wie bei Madeline.«
»Wovon redest du da?«
Jane blickte auf und zwinkerte ihre Tränen fort. »Von der legendären Madeline Fox«, sagte sie mit dramatischer Handbewegung. »Der Tochter von Samuel Fox. Du weißt schon, das ist der Bursche, dem dein Sägewerk gehörte. Seine Tochter war das Stadtflittchen, und jede Mutter, auch meine, führt sie immer als abschreckendes Beispiel für das Schicksal leichtfertiger Mädchen an.« Jane schluchzte wieder in ihre Hände. »Meine Mutter bringt mich um.«
Allmächtiger, der Ruf ihrer Mutter war in Oak Grove noch immer ein Thema, obwohl Madeline der Stadt vor achtzehn Jahren den Rücken gekehrt hatte! Anna stand auf, ging um den Tisch herum und bückte sich, um Jane in die Arme zu nehmen. »Du wirst nicht enden wie Madeline Fox«, beruhigte sie sie und zog Janes Hände von deren Gesicht. »Du wirst Paul sagen, dass du schwanger bist, und ihr beide werdet entscheiden, was die beste Lösung ist – ohne Rücksicht auf seine Familiengeschichte und irgendwelche Stadtlegenden. Verstanden?« Sie strich das Haar aus Janes Gesicht. »Wichtig ist nur dein Baby, nicht der Ruf einer Frau, die hier lebte, als du selbst noch ein Baby warst.«
»Aber … aber was ist mit Cynthia?«
»Pauls neuer Freundin? Zur Hölle mit ihr«, erwiderte Anne mit einem schiefen Lächeln. »Nicht sie bekommt sein Baby, sondern du. Warum habt ihr übrigens Schluss gemacht?«
Jane senkte den Blick. »Es fing an, als wir letzten Herbst heimlich nach Bangor fuhren. Am Ende des Ausflugs …« Sie sah Anna an. »Ich machte Andeutungen, sprach von einer gemeinsamen Zukunft. Eine Woche nach unserer Rückkehr sah ich Paul im Drooling Moose mit Cynthia beim Essen und drehte durch.« Sie schloss die Augen und schüttelte den Kopf. »Ich machte ihm öffentlich eine Szene und sagte ein paar dumme Dinge. An Pauls Stelle hätte ich auch Reißaus genommen.«
»Hast du mit ihm seither Kontakt gehabt?«
»Nicht direkt. Es gab nur ein paar peinliche Augenblicke, als wir einander in der Stadt begegneten.«
»Und jetzt steht dir wieder ein peinlicher Augenblick bevor«, sagte Anna, die sich aufrichtete. »Wenn du ihn anrufst und ihn auswärts zu einem Dinner einlädst.«
»Das kann ich nicht!«
»Irgendwohin … wo ihr ungestört seid«, fuhr sie fort. »Nicht in Oak Grove. Vielleicht in Greenville. Nein, das ist auch zu nahe.« Sie lächelte über Janes erschrockenen Gesichtsausdruck. »Wie wäre es mit einem selbst gekochten Dinner hier im Haus deiner Schwester? Deine Mom könnte doch abends Megan und Travis hüten, oder?«
»Er wird nicht kommen. Du hast ja keine Ahnung, was für eine Szene ich ihm im Drooling Moose gemacht habe. Sie ist noch immer Stadtgespräch.«
»Er wird kommen, wenn du die Einladung richtig formulierst.«
»Aber was soll ich sagen?«
Anna entfernte sich ein paar Schritte, dann drehte sie sich wieder um und sah sie an. »Wie lange warst du mit Paul zusammen?«
»Etwas über ein Jahr.«
»In dieser Zeit muss er dir Geschenke gemacht haben.«
Jane nickte. »Zum Geburtstag hat er mir einen Pullover geschenkt und zum Valentinstag habe ich letztes Jahr einen Teddybären bekommen.«
»Es müsste etwas Besonderes sein. Etwas, das seine Gefühle für dich ausdrückt. Hat er dir jemals Schmuck geschenkt?«
Jane schnaubte. »Niemals.« Plötzlich erhellte sich ihre Miene. »Er hat mir eine Porzellanfigur gegeben, die seiner Mutter gehörte.«
»Perfekt«, entgegnete Anna und zog ihre Freundin auf die Beine. »Zumal ihr Haus bis auf die Grundmauern abgebrannt ist. Du kannst Paul sagen, dass du ihm die Porzellanfigur zurückgeben möchtest, weil sie seiner Mutter gehörte. Er wird sicher kommen und sie abholen.«
Jane biss sich auf die Unterlippe. »Meinst du nicht, dass das nach einem Hinterhalt klingt?«
»Hattest du nicht das Gefühl, in einen Hinterhalt geraten zu ein, als du entdeckt hast, dass du schwanger bist? Einem Mann beizubringen, dass er Vater wird, ist nie einfach, schon gar nicht, wenn man mit ihm nicht verheiratet ist. Du musst einfach damit herausrücken und es ihm sagen.«
»Woher weißt du in diesen Dingen so gut Bescheid?«
»Ich habe miterlebt, was passierte, ehe meine Brüder im Hafen er Ehe landeten.« Sie schlug Jane leicht auf die Schulter, schlüpfte in ihre Jacke und ging zur Tür. »Du rufst heute noch an und lädst Paul für morgen zum Dinner ein, weil ich euch beide nächsten Samstag beim Wohltätigkeitstanz für Pete zusammen sehen möchte. Verstanden?«
»Heute noch?«
»Du darfst keine Zeit verlieren, Jane. Also, mach es heute noch.«
»Megan stinkt«, verkündete Travis, der die Treppe herunter in die Küche kam und sich die verschlafenen Augen rieb.
Jane seufzte und hob den Jungen hoch, um ihn in seinen Kinderstuhl an den Tisch zu setzen und ihm ihr Thunfischsandwich zu überlassen. »Ich bin für die Mutterschaft nicht bereit«, sagte sie wieder auf dem Weg zur Treppe.
»Es soll einfacher sein, wenn es sich um eigene Kinder handelt«, beruhigte Anna sie, als sie die hintere Tür öffnete. »Versprich, dass du Paul noch heute anrufst.«
Jane blieb mit einem Fuß auf der Stufe stehen. »Ich verspreche es.«
Anna nickte. »Dann sehe ich euch in acht Tagen auf dem Fest. Zusammen.«
»Dein Wort in Gottes Ohr.« Jane lief hinauf, als Megan einen lauten Schrei ausstieß.
Anna, die hinaus auf die Veranda trat, zog den Reißverschluss ihrer Jacke zu und machte sich auf den Weg zur Hauptstraße. Sie dachte noch immer darüber nach, was Jane über Ethan gesagt hatte. Abweisend? Nun, wenn er nicht die Nervensäge spielte, war er ganz einfach nur verdrossen.
Dass er sie davor bewahrt hatte, in ihrem Truck in den Abgrund zu stürzen, war allerdings nicht abweisend, sondern sehr umsichtig gewesen. Dass er sie ausgezogen hatte, als sie bewusstlos war, dass er sie mangels eines Wasseranschlusses in seiner Hütte drei Nächte lang auf der Couch hatte schlafen lassen und wortlos gegangen war, nachdem er sie besinnungslos geküsst hatte – waren dies Beispiele für das Verhalten eines Mannes, der auf Frauen schlecht zu sprechen war? Vielleicht auf sie im Besonderen, weil es ihm nicht passte, dass sein Vorarbeiter weiblichen Geschlechts war?
Warum aber wollte er jeden Abend mit ihr essen, folgte ihr bis in die Stadt und kritisierte jeden Mann, für den sie Interesse bekundete? Verdammt, Ethan war ein ganzer Kerl. Sie hatte Pamela Sant von der Schule her noch als affektiert lächelndes, verzärteltes Mamakind in Erinnerung; blasse Haut, große braune Augen und weißblondes Haar. Immer hatte sie Ausreden gehabt, um sich vor Schulausflügen zu drücken. Ethan war mit ihr ausgegangen? Und hatte die Zimperliese geschwängert?
Anna schritt auf der asphaltieren Straße in Richtung Loon Cove Lumber aus. Pamela war tot, Ethan hatte sich einer Anklage wegen fahrlässiger Tötung stellen müssen und war seither hart und unzugänglich. Hatte er Pamela so sehr geliebt, dass er ihren Tod noch nicht verwunden hatte?
Und ging es sie etwas an? Wenn er mit sich und der Welt zerfallen war, war es sein Problem – solange sein Groll sich nicht gegen sie richtete.
Nun, sie sollte ihn vermutlich nicht mehr absichtlich reizen.
Anna hörte hinter sich das Geräusch eines schweren Lasters, der sich die lange Steigung hinaufquälte. Sie drehte sich um und streckte den Daumen aus. Als das schwere Gefährt zurückschaltete, drehte sie sich um und fing zu laufen an, da der Fahrer nicht mitten auf der Steigung anhalten konnte, um sie mitzunehmen. Mit einem lauten Hupen fuhr er an ihr vorüber und blieb unmittelbar hinter dem Scheitelpunkt stehen. Staub wirbelte unter den Reifen hoch und wurde von der sanften Märzbrise davongetragen.
»Hi, Gaylen«, sagte Anna, als sie die Beifahrertür öffnete und auf das Trittbrett sprang. »Darf ich bis Loon Cove Lumber mitfahren?«
»Wie ich hörte, haben Sie Ihren Truck zu Schrott gefahren«, grüßte er sie zurück und winkte sie herein. Seine Augen funkelten erwartungsvoll. »Wie viel wollen Sie für einen neuen ausgeben?«
»Um etwa tausend Dollar weniger, als Sie zu bekommen hoffen, wenn Sie mir Ihre Karre andrehen, Sie alter Fuchs. Sie sollten sich schämen, Gaylen Dempsey, eine arme, hilflose Frau wie mich ausnutzen zu wollen.«
Gaylen sah gebührend gekränkt drein, doch die zwei roten Flecke, die auf seinen bereits geröteten Wangen erschienen, verrieten, dass Anna richtig getippt hatte. »Hilflos? Dass ich nicht lache, Missy«, murmelte er und schaltete die Gänge durch, als er wieder losfuhr. »Mein Pick-up sieht zwar nach nichts aus, läuft aber wie ein schnurrender Tiger.« Er sah sie an, dann wieder nach vorne auf die Straße. »Dreitausend Dollar, und Sie sagen zu Davis, dass er meine Ladungen beim Abwiegen nicht drücken soll.«
»Gaylen, ich kenne Ihren Pick-up. Zweitausend, und Sie sagen Clay Porter, dass er kein Faserholz in Ihre Ladungen schummeln soll«, konterte sie. »Wir machen Nutzholz und nicht Papier.«
»Ich werde von Clay pro Kubikfuß für den Transport bezahlt«, entgegnete Gaylen, dessen buschige graue Brauen sich unwillig zusammenzogen. »Und ich sagte ihm schon, dass er mir Stämme auflädt, die gerade noch hinkommen.«
»Ich schätze, dass ich mit Ihrem Boss ein ernstes Wort reden muss«, erklärte sie. »In letzter Zeit sind seine Ladungen nicht mehr einwandfrei, und das muss sich ändern. Zweitausend Dollar, und Sie bringen den Pick-up heute um sechs nach Loon Cove Lumber.«
Gaylen gab sich seufzend geschlagen. »Meine Frau bringt ihn rüber, während ich ablade. Sie kann dann mit mir zurückfahren.« Er warf ihr einen raschen Blick zu und schaltete zurück, als sie sich dem Werk näherten. »Sie wissen ja, dass die Knights und die Porters momentan auf Kriegsfuß stehen? Während Clay versuchte, das Geld für Loon Cove Lumber aufzutreiben, schnappten die Knights ihm die Säge vor der Nase weg.«
»Und deshalb liefert er uns versaute Ladungen? Damit schadet er sich doch nur selbst.«
»Der Zwist reicht weit in die Vergangenheit zurück«, setzte Gaylen hinzu. »Alex Knights erste Frau brannte mit Porter durch. Außerdem geht es darum, dass Clay sein Holz zehn Meilen auf Knight-Wegen transportieren muss und sie nicht zulassen, dass er sie instand setzt.« Gaylen fuhr durch das offene Tor von Loon Cove Lumber. »Ich brauche für die zehn Meilen jeweils eine Stunde, was bedeutet, dass ich täglich nur eine Ladung und nicht zwei fahren kann. Diese Meinungsverschiedenheit schmälert meinen Verdienst und den aller anderen Vertragsfahrer.«
Anna schüttelte den Kopf. »Zweitausend Dollar für Ihren Pick-up, das ist mein letztes Wort«, entgegnete sie. »Ich werde Ethan Knight nicht ersuchen, er möge bitte Porter die Straße reparieren lassen, damit Sie uns zwei versaute Ladungen pro Tag anstatt nur einer bringen können.«
»Habe ich Sie darum gebeten?«
»Sie waren auf dem besten Weg dazu.«
»Herrgott, Anna. Sie haben es irgendwie geschafft, dass dreißig Sturschädel von Männern sich von Ihnen dirigieren lassen. Ich weiß, dass Sie die Knights überreden können, sich von Clay ihre Wege reparieren zu lassen. Obwohl Ethan vielleicht nicht derjenige ist, den man darauf ansprechen sollte«, sagte er mit gerunzelter Stirn und lenkte sein Gefährt geschickt über den belebten Hof zu dem Mann, der ihn anwies, wo er neben dem langen Holzstapel anhalten sollte. »Grady Knight wäre der richtige Ansprechpartner. Jede Wette, dass er auf Sie hört.«
»Ich führe keine Verhandlungen, ich säge Holz.«
»Sie haben mich eben um tausend Dollar heruntergehandelt«, grollte er. Der Laster kam schwankend und mit zischenden Luftbremsen zum Stillstand. Gaylen, der die Tür öffnen wollte, warf ihr rasch einen Blick zu. »Wenn Sie Clay überreden könnten, seine Ladungen zu säubern, wäre das schon was.«
»Ich habe auf seinen Anrufbeantworter gesprochen, es sieht aber aus, als müsste ich mein Anliegen anders vorbringen.« Sie lächelte ihrem Chauffeur warm zu. »Danke fürs Mitnehmen. Wenn Ihre Frau kommt, machen wir die Sache perfekt.«
»Der Truck läuft wie eine Eins, Anna. Sie wissen, dass ich Ihnen keine lahme Ente andrehen würde.«
Sie tätschelte seinen Arm. »Ich weiß, Gaylen. Deshalb habe ich ihn auch gekauft, ohne ihn vorher Probe zu fahren.«
»Was haben Sie gekauft?«, fragte Ethan durch ihr Seitenfenster. »Es ist fast vier, Segee«, fuhr er fort und stieg hinunter, um die Tür zu öffnen. »Sie sind spät dran.«
»Das ist meine Schuld«, sagte Gaylen. »Ich muss meine Karre so vorsichtig behandeln wie ein rohes Ei. Die zehn Meilen auf Ihrer schlechten Straße fordern ihren Tribut.«
Anna verdrehte die Augen und drängte sich an Ethan vorüber aus der Fahrerkabine. »Ich habe eben Gaylens Pick-up gekauft. Und ich bekomme keinen Stundenlohn, sondern ein Gehalt und arbeite nicht nach der Stechuhr«, belehrte sie ihn und ging zu dem Mann, der eben Gaylens Ladung wog. »Davis, tun Sie den Ausschuss zum Papierholz. Die Fahrer sollen ihn am Montag zur Papierfabrik bringen. Wir können dieses Zeug ebenso gut verkaufen, anstatt es hier verrotten zu lassen.«
»Aber es gehört uns nicht«, gab Davis erstaunt zurück. »Wir verrechnen nur das Bauholz.«
»Clay Porter schickt es uns mit jeder Ladung«, erwiderte sie gedehnt. »Er muss also wollen, dass wir es bekommen.«
»Das gibt Zoff«, entfuhr es dem verblüfften Gaylen.
Anna sah Ethan an, der nur leicht nickte, sich umdrehte und ins Büro ging. Ihr war jedoch ein deutliches Aufblitzen in seinen tiefblauen Augen nicht entgangen.
Gaylen pfiff leise durch die Zähne. »Daher weht also der Wind?«
»Woher?«, fragte Anna mit warnendem Blick.
»Sie halten bei diesem Konflikt eindeutig zu den Knights.«
»Ich bin auf Ihrer Seite«, fuhr sie ihn entrüstet an. »Wenn Clay Porter nicht damit aufhört, Ihre Ladungen mit Schund aufzufüllen, ermögliche ich Ihnen eine Fahrt zur Papierfabrik, damit Sie wenigstens eine Teilstrecke nicht leer fahren müssen.«
Plötzlich grinste Gaylen. »So ist’s recht, Missy.« Er trat näher und senkte die Stimme. »Tut mir leid, wenn ich angedeutet habe, Sie hätten ein Auge auf Ethan geworfen. Ich hätte wissen müssen, dass Sie zu klug dafür sind.«
»Zu klug?«
»Sie sind hier noch fremd, deshalb wissen Sie vielleicht nicht, dass Ethan ein sturer Bock sein kann, besonders was Frauen betrifft.«
Anna kicherte. »Ethan macht mir keine Angst.«
»Sollte er aber. Er ist gefährlich, Anna. Eine Frau ist seinetwegen ums Leben gekommen.« Gaylen beugte sich vertraulich zu ihr. »Ich will ja nicht klatschen, ich will Sie nur warnen, damit Sie sich nicht von seinem guten Aussehen blenden lassen.«
»Sie finden, dass Ethan gut aussieht?«, fragte sie und blickte zum Büro hinüber, um ihr Lächeln zu verbergen. »Das ist mir gar nicht aufgefallen.«
Gaylen räusperte sich und stieß sie an. »Im Ernst, Anna. Die ganze Stadt weiß, dass er die Woche über in Fox Run ist. Ich will Sie nur warnen. Beschränken Sie die Beziehung aufs Geschäftliche.«
Sie tätschelte seinen Arm. »Betrachten Sie mich als gewarnt.«
Wieder räusperte er sich, um im nächsten Moment mit einem lauten Ausruf nach hinten zur Ladefläche zu laufen und Davis zur Rede zu stellen, weil dieser einen einwandfreien Baumstamm zum Ausschussstapel tun wollte. Anna überließ es den beiden, sich zu einigen, und ging ins Büro, um ihren Gehaltsscheck abzuholen – und um Ethan ein wenig zu ärgern.
Doch einen verschwundenen Mann zu reizen erwies sich als schwierig. Das Einzige, was Anna in ihrem Büro vorfand, war eine nagelneue 12-Kaliber-Schrotflinte auf ihrem Schreibtisch, eine Schachtel Feinschrot Nummer vier sowie ihren Scheck, auf dessen Umschlag gekritzelt stand: Bin übers Wochenende nach Hause. Sperren Sie das Tor hinter sich ab, bringen Sie niemanden um, und vermissen Sie mich nicht zu sehr. Ethan
Anna griff nach der Patronenschachtel und schnaubte. Umbringen? Sie konnte von Glück reden, wenn sie jemanden mit dem Feinschrot ein paar Dellen verpasste. Ebenso gut hätte sie sich mit einer Faust voller Steine bewaffnen können.