16
Gibt es einen Grund, warum du hier sitzt und ein Bier nach dem andern kippst, während Anna mit Clay Porter draußen ist und seine Jacke trägt?«, fragte Paul, der einen Stuhl heranzog und sich neben Ethan setzte.
»Sie dürfte auf Jobsuche sein«, antwortete Ethan. »Außerdem ist es erst mein drittes Bier. Die leeren Flaschen gehen auf das Konto unseres desillusionierten Wildhüters«, setzte er hinzu und deutete mit dem Kopf auf die Tanzfläche, wo Daniel sein angeschlagenes Ego in den Armen einer zierlichen frisch geschiedenen Frau aufmöbelte.
»Desillusioniert weswegen?«
»Ein Blick auf Anna genügte, und er entschied sich, seinen Job zu kündigen und sie um eine Verabredung zu bitten.«
»Und?«
»Die Warteschlange wurde für ihn zu lang. Hast du sie gesehen? Ich meine, wirklich gesehen?«
»Ich habe gesehen, dass sie ihre Haare hochgesteckt hat«, sagte Paul verwirrt. »Aber Clay und sie standen zwischen den Fahrzeugen, deshalb habe ich nur seine Jacke und ihr Haar erkennen können. Warum?«
»Dann mach dich auf etwas gefasst«, erwiderte Ethan mit einem Blick zum Eingang. »Und gib acht, dass du vor Überraschung nicht auf den Boden knallst. Denk daran, dass du frisch verheiratet bist.«
Paul drehte sich auf seinem Sitz um, als Anna und Clay eintraten. »Heiliger Strohsack«, stieß er hervor, als Anna Clays Jacke abstreifte und sie ihm reichte. Paul drehte sich um und sah Ethan finster an. »Du hast sie so hierherkommen lassen – in dieser Aufmachung?«
Ethan hob einen Fuß und begutachtete seinen Knöchel. »Tut mir leid, ich habe wohl die Kette verlegt, mit der ich sie festhalte.« Er sah seinem Bruder in die Augen. »Ach, ich vergaß, du bist ja derjenige mit Kugel und Kette. Geh und tanz mit deiner Frau.« Er versetzte Paul einen brüderlichen Schubs. »Das ist deine Chance, aller Welt zu zeigen, wie verliebt ihr beide seid.«
Paul war kaum einen Schritt weit gekommen, als er sich zu seinem Bruder umdrehte. »Du musst sie hier wegschaffen, ehe eine Prügelei anfängt. Die Ehefrauen werden deine Belegschaft umbringen, wenn sie sehen, wie der Ex-Boss ihrer Männer wirklich aussieht. Du könntest wenigstens einige Male mit ihr tanzen, damit sie sehen, dass Anna an ihren Männern nicht interessiert ist.«
»Zu spät«, meinte Ethan mit einem Blick zur Tanzfläche. »Dad ist mir zuvorgekommen.« Er zog noch ein Bier aus seinem Kühler. »Keine Angst. Anna kann heute hier ihren Spaß haben, aber weggehen wird sie mit mir.«
Damit ging Paul kopfschüttelnd und mit einem Selbstgespräch auf den Lippen. Ethan stützte seine Füße auf einen Stuhl und schlürfte ein Bier, während er beobachtete, wie sich die Männer der Reihe nach ein Herz fassten und Anna um einen Tanz baten. Was hatte sie vor? Sie war nicht der Typ, der ihn eifersüchtig zu machen versuchte, und sie war keine Frau, die mit jedem anwesenden Mann flirten musste, um ihr Ego aufzurichten. Sie brauchte nicht einmal mit der Wimper zu zucken – sie musste nur ihre Haare hochstecken, in ein knappes kleines Schwarzes schlüpfen und auf drei Zoll hohen Absätzen durch die Tür stöckeln.
Und das wusste sie auch verdammt gut.
Sie wirkte völlig unbefangen, ihr Lächeln war echt, und die Partner, mit denen sie über die Tanzfläche glitt, waren zwischen sechzehn und neunzig. Anna schien sich in jeder Umgebung wohlzufühlen, sei es ein Werkshof, sei es am Steuer großer Arbeitsfahrzeuge, mit der Schrotflinte auf der Jagd nach Eindringlingen oder im Bett. Was in ihm die Frage weckte: Was konnte Anna überhaupt erschüttern?
»Ich habe mir die Sache angesehen, um die du mich gebeten hast«, sagte John Tate, der einen Stuhl heranzog und sich setzte. »Und du hast recht, sie ist es.«
»Das dachte ich mir«, erwiderte Ethan. »Ich wollte nur sicher sein. Bist du heute im Dienst?«
John blickte an seiner Sheriff-Uniform hinunter. »Um die Wahrheit zu sagen, ich bin verzweifelt.«
»Haben Frauen nicht eine Schwäche für Männer in Uniform? Macht das nicht deine Beliebtheit bei den Damen aus, Tate? Wo ist denn deine Knarre? Die würde noch mehr Eindruck machen als die Uniform.«
»Ich bin bewaffnet, aber nicht mit meiner Dienstwaffe. Ich möchte ja niemanden überwältigen«, antwortete er schleppend, und sein Blick wanderte zur Tanzfläche. »Dein Mädchen ist heute ein richtiger Hingucker. Sie ist aber auch eine Schönheit.«
»Du musst dich hinter Daniel einreihen«, entgegnete Ethan, »so wie alle anderen. Also, was ist mit Annas Eindringlingen? Hast du etwas herausgefunden?«
John drehte sich nach ihm um. »Frank Coots war den ganzen Monat über in Boston, was aber nicht heißt, dass er nicht ein paar Typen hätte anheuern können, die für ihn herumschnüffeln. Und was den Geschichtsverein anbelangt, so sind alle Mitglieder so alt, dass sie in Fox Run Mill hätten arbeiten können, als es noch lief, was bedeutet, dass sie zu alt sind, um Schrotkugeln auszuweichen.«
»Und Samuels Tod?«
»Als man ihn fand, war ich nicht im Dienst, doch ich habe mir den Bericht vorgenommen. Alles deutet auf einen Unfall hin. Der Mann war dreiundachtzig, es kommen also viele Leiden und Gebrechen in Frage, als deren Folge er in der Schlucht hätte landen können. Laut Autopsie erfror er binnen weniger Stunden.«
»Ist es nicht ein merkwürdiger Zufall, dass genau dasselbe einer jungen, gesunden Frau passiert, die eine ausgezeichnete Fahrerin ist? Nach ihrem Unfall habe ich die Stelle untersucht, und ich habe keine Anzeichen für eine aktive Quelle gefunden. Woher also kam das Eis?«
John zog die Schultern hoch. »Ich habe keine Ahnung.« Er senkte die Stimme, als sich ein paar Leute an einem der Nebentische niederließen. »Man müsste Gallonen von Wasser heranschaffen, um nur einen kleinen Teil der Straße zu vereisen.« Er strich nachdenklich über sein Kinn. »Es wäre jedoch ein perfektes Verbrechen. In Samuels Untersuchungsberichten war keine Rede von Eis, doch könnte es in den zwei Tagen, nach denen er gefunden wurde, geschmolzen sein. Das würde bedeuten, dass es sich um Mord handelt, und ich kann mir nicht vorstellen, warum jemand einen Dreiundachtzigjährigen töten sollte.«
»Ein Feriendorf im Wert von mehreren Millionen reicht als Motiv.«
»Und Annas Unfall?«
»Dasselbe Motiv«, meinte Ethan. »Sie ist ebenso wenig gewillt, Fox Run zu verkaufen, wie Samuel.«
John schüttelte den Kopf, als wenn er nicht glauben könnte, dass beide Unfälle mit Absicht herbeigeführt worden waren. »Das ist weit hergeholt.« Er legte den Kopf schief. »Trotzdem solltest du mit ihr über deinen Verdacht sprechen. Ich bin der Meinung, dass sie davon wissen soll. Und es kann nicht schaden, wenn sie sich vorsieht.«
»Ich passe auf sie auf«, versprach Ethan. »Und ich kann nicht einfach behaupten, ihr Großvater wäre ermordet worden, ohne dass ich Beweise habe. Sie wäre am Boden zerstört.«
»Sie hat dir noch immer nicht gesagt, wer sie in Wahrheit ist?«
Ethan schüttelte den Kopf. »Würdest du an ihrer Stelle wollen, dass die ganze Stadt weiß, dass Madeline Fox deine Mutter ist?«
»Ich rede nicht von der ganzen Stadt, ich rede von dir.« Er beugte sich näher zu ihm. »Es macht dir nichts aus, dass die Frau, mit der du schläfst, nicht aufrichtig zu dir ist?«
Ethan zog die Schultern hoch. »Sie wird es mir sagen, sobald ihr klar ist, dass es keine Rolle spielt.«
John lehnte sich mit verschränkten Armen zurück und studierte Ethan. »Du hast dich in sie verliebt.«
»Nein.«
»Und das ärgert dich, und deshalb sitzt du hier und trinkst einen Kasten Bier leer, während dein Mädchen mit jedem in Frage kommenden Mann tanzt.«
»Da sind Daniels Relikte, nicht meine«, knurrte er. »Ich habe meine Lektion vor fünf Jahren gelernt. Ich …«
»Komm, tanz mit mir, Onkel Ethan«, rief Delaney und lief auf ihn zu. »Und du als Nächster«, forderte sie John auf. Ihre blitzenden Augen reflektierten das helle Blau ihres Kleides, als sie Ethan an der Hand packte und ihn auf die Beine zog. »Du musst mich vor Billy Danes retten«, sprach sie im Flüsterton. »Er hat mir aufgelauert, als wir durch die Tür kamen, und ich habe zu ihm gesagt, dass ich dir meinen ersten Tanz versprochen hätte.«
»Soll ich Billy Danes mit hinausnehmen und ihn zusammenschlagen?« , fragte Ethan ganz ernst und führte sie auf die Tanzfläche. »Das ist meine Pflicht als Onkel, musst du wissen.«
Delaney schenkte ihm ein hinreißendes Lächeln, das Ethan verriet, dass der kleine Billy Danes in ein paar Jahren die geringste seiner und Alex’ Sorgen sein würde. »Wenn ich glaubte, ein Hieb würde ihn entmutigen, hätte ich ihm selbst einen versetzt«, sagte sie und bewegte sich anmutig unter seiner Führung. »Auf deinem Tisch standen verdammt viele leere Bierflaschen«, fuhr sie mit einem Blick fort, den Ethan von seiner Mutter her nur allzu gut kannte. »Ärgert es dich, dass du ohne Begleitung hier bist?«
»Die Flaschen sind nicht alle von mir«, erklärte er mit geduldiger Zurückhaltung. Sobald er Delaney John übergeben hatte, wollte er mit den Flaschen zur Recycling-Tonne. »Und du wirst keinen Jungen verprügeln. Das ist meine Aufgabe.«
»Cathy Farmer ist jetzt geschieden«, ließ sie nicht locker. »Und du magst Kinder. Es wird dich nicht stören, dass sie drei hat.«
»Cathy Farmer reicht mir bis zum Bauchnabel«, wandte er mit ersticktem Lachen ein. »Pst!«, sagte er, als sie den Mund wieder aufmachen wollte. »Ich brauche dich nicht als Kupplerin, Kleine.«
»Du wirst nicht jünger«, fuhr sie unbeirrt fort. »He, was ist mit ihr?«, fragte sie und drehte sich plötzlich so, dass Anna in sein Blickfeld geriet. »Ist das nicht die Dame aus dem Sägewerk? Verdammt, wie schön sie ist«, flüsterte Delaney.
»Du sollst doch nicht fluchen.«
Sie sah ernst zu ihm auf. »Du hast sie gefeuert, weil sie einen jungen Hund gerettet hat. Wie konntest du nur, Onkel Ethan? Sie ist ledig, sie war richtig nett, als wir das Werk besichtigten, und sie ist neben Mom heute die hübscheste Frau hier.« Ihr Gesicht verzog sich unwillig. »Aber sie wird mit dir wohl nicht tanzen, da du sie gefeuert hast.«
Das hielt Delaney nicht ab, ihn zu Anna und John Tate zu lenken, die zusammen tanzten. »Versuche es aber trotzdem«, sprach sie leise. »Ich werde Sheriff Tate abklatschen, und du packst sie dir und entschuldigst dich, bevor sie davonläuft.«
Doch gerade als seine Nichte ihren Plan in die Tat umsetzen wollte, ertönte hinter Ethan eine dröhnende Frauenstimme: »Abigail Fox! Du bist ja richtig erwachsen geworden!«
Alle Tanzpaare blieben reglos sehen, die Band verstummte allmählich, Stille senkte sich auf einer Woge erregten Getuschels über den Saal.
»Als deine Mutter anrief, um sich bei mir ein Zimmer zu sichern, war ich fassungslos«, fuhr Penny Bryant fort und trat auf eine sichtlich geschockte Anna zu. »Ich bin fast vom Sessel gefallen, als sie sagte, sie käme, um dich zu besuchen!« Penny ließ ein lautes Zungenschnalzen folgen und schüttelte den Kopf. »Man stelle sich meine Überraschung vor, als Madeline sagte, du würdest schon seit fünf Monaten hier leben. Und kein einziges Mal hast du deine alte Nanny besucht«, schalt sie und zog Anna in eine erstickende Umarmung.
In diesem Moment entdeckte Ethan, was Anna Segee bis in die Grundfesten zu erschüttern vermochte. Totenblass und wie betäubt ließ sie steif die Umarmung der Frau über sich ergehen. Ethan glaubte, wieder in die entsetzten Augen der Elfjährigen zu starren, wie damals, als er sie aus dem Hinterhalt im Frost Lake gerettet hatte.
»Abby!«, rief Penny Bryant laut und in einem Ton aus, der keinen Zweifel daran ließ, dass Annas Reaktion auf das Wiedersehen mit ihrer lieben alten Babysitterin nicht wie erwartet ausfiel – genau in dem Moment, als das erste spekulative Geflüster unter den Anwesenden hörbar wurde.
Ethan ging hin und befreite Anna, um sie schützend an sich zu drücken. »Sie heißt seit achtzehn Jahren Anna Segee, Mrs Bryant«, erklärte er in unüberhörbar warnendem Ton. »Sieht aus, als hätten Sie Anna ziemlich überrumpelt.«
»Na ja!«, entrüstete sich Penny verärgert und ob der Rüge errötend. »Hätte sie mich doch aufgesucht! Madeline trug mir auf, zu kommen und zu sehen, ob sie da ist.«
»Das ist meine Schuld«, beschwichtigte er sie, wobei er das lauter werdende Gemurmel der Umstehenden deutlich wahrnahm. »Ich habe Anna übermäßig beansprucht, seit wir uns verlobt haben«, sagte er lauter und sah mit einem kurzen Lächeln in Annas verständnislose, leere Augen. Dann blickte er wieder Penny Bryant an. »Die Hochzeit ist für Mai geplant.«
»Ach, Abby, ich meine Anna!«, platzte Penny heraus und streckte die Arme nach ihr aus.
Um Anna der Reichweite der Übereifrigen zu entziehen, drehte Ethan sich um.
»Wenn Sie mich jetzt entschuldigen, ich bringe meine Verlobte nach Hause.« Anna eng an sich drückend steuerte er auf die Tür zu, hielt aber inne und drehte sich zu der Besitzerin der einzigen Frühstückspension der Stadt um. »Wann soll ihre Mutter eintreffen?«
»Ach, Madeline fliegt am Mittwoch nach Portland«, bemerkte Penny wichtigtuerisch, »wird aber erst am Freitag hier sein. Sie und ihr Mann nehmen einen Mietwagen und fahren erst die Küste entlang.«
Ethan spürte, wie Anna völlig abschaltete, als würde ein schwerer Granitblock sie von der übrigen Welt trennen. Er griff hinter ihre Knie und hob sie hoch, ehe er dem Klatschmaul von Oak Groves zunickte. »Danke«, meinte er und schritt an der gaffenden Menge vorüber, wobei er nur mit Alex einen Blick wechselte.
Alex sagte etwas zu seiner Frau, stürzte an die Tür, um sie für ihn zu öffnen, und folgte ihm hinaus. Schweigend gingen sie zu Ethans Truck, wo Alex die Beifahrertür öffnete und Ethan Anna hineinsetzte, bevor er die Tür schloss und sich zu seinem Bruder umdrehte.
»Weißt du, was du tust?«, fragte Alex angespannt.
Ethan fuhr mit unsicherer Hand durch sein Haar. »Ich habe keine Ahnung«, musste er zugeben. Ein rascher Blick zeigte ihm, dass Anna reglos dasaß und blicklos aus der Windschutzscheibe starrte. Er ging an das Heck des Wagens. »Aber ich konnte nicht einfach tatenlos dastehen. Sieh sie an«, knurrte er. »Sie ist dem Koma nahe.«
»Schaff sie rasch fort. Aber warum hast du eure Verlobung angekündigt?«
»Als Versicherung.«
»Wogegen?«
»Gegen das, was ihr schon zugestoßen ist«, brachte er heraus. »Es soll ihr nicht wieder passieren.«
Alex schüttelte den Kopf. »Sie ist ja nicht mehr elf. Anna scheint sich gegen Männer sehr gut zu behaupten. Das hat sie den ganzen Abend überzeugend bewiesen.«
»Als Anna Segee.« Er ging um das Heck des Trucks herum. »Jeder verdammte Hurenbock diesseits der Grenze würde sofort zur Stelle sein, hätte ich nicht gesagt, dass wir verlobt sind.« Er blieb an seiner Tür stehen. »Es könnte sein, dass ich dich in der Säge brauche. Schaffst du das? Bis Freitag habe ich Zeit, um sie aus diesem Zustand zu reißen, damit sie ihrer Mutter als Anna Segee entgegentreten kann.« Er vollführte eine Geste der Hilflosigkeit. »Wenn ich es nicht schaffe, dann sind wir beide bedient.«
Alex packte Ethans Arm, als dieser nach dem Türgriff fassen wollte. »Was kümmert es dich?«
»Es kümmert mich eben.« Er öffnete den Wagen und stieg ein, ehe er Alex wieder ansah. »Weil … weil es eben so ist«, sagte er mit belegter Stimme und schloss die Tür.
Er fuhr vom Parkplatz und war sich dabei der Gegenwart der schweigenden, reglosen Frau deutlich bewusst. Während er auf die Hauptstraße einbog und in Richtung Fox Run fuhr, war er so wütend, dass er am liebsten laut gebrüllt hätte.
Nein, nicht so sehr wütend als vielmehr erschrocken. Sie war viel zu still. Was ging jetzt in ihr vor? Alles? Nichts? Anna war so völlig weggetreten, so abwesend, dass Ethan argwöhnte, dass es nichts mit der bevorstehenden Ankunft ihrer Mutter zu tun hatte, sondern damit, dass nun die ganze Stadt wusste, wer sie war. Aber genügte die Kleinigkeit, von Penny Abigail Fox genannt zu werden, um sie binnen Sekunden in ein entsetztes kleines Mädchen zurückzuverwandeln?
Und Entsetzen war es damals gewesen. Von dem Augenblick an, als er ihr zerfetztes Kleid auf dem zum See führenden Pfad entdeckte, bis zu jenem, als er sie schultertief im kalten Wasser stehend antraf und hörte, dass sie die Jungen anflehte, sie in Ruhe zu lassen, hatte Ethan instinktiv gewusst, was sich da abspielte. Er war wütend über die Übeltäter hergefallen, und als der Staub sich legte, hatte sie die von ihm erzeugte Ablenkung genutzt, um zu verschwinden. Er hatte sie nie wiedergesehen. Seine letzte Erinnerung an sie waren ihre riesigen, erschütterten Augen und das bleiche, zerschrammte Gesicht, als sie ihre Peiniger unter Tränen um Schonung anflehte.
Ethan spürte, dass sie ihn schweigend ansah, und merkte, dass sie auf einer bestimmten Ebene ansprechbar war. Und obwohl er sich selbst wie ein Schuft vorkam, weil er sie fragen wollte, wusste er doch, dass sich nie eine bessere Chance bieten würde, von ihr eine aufrichtige Antwort zu bekommen. Zudem musste er genau wissen, womit er es zu tun hatte, wenn er hoffen durfte, ihr zu helfen – und etwas endgültig zu begraben, das ihn achtzehn Jahre lang verfolgt hatte.
Er beruhigte sich mit einem tiefen Atemzug und sagte ganz leise: »Ich war mir einer Sache nie sicher. Haben dich die Jungen damals nur zum Spaß erschreckt, oder haben sie dich vergewaltigt?«
»Einer hat es versucht, es aber nicht geschafft«, lautete ihre kaum hörbare Erwiderung.
Er atmete bebend auf und umklammerte das Steuer fester, als sein Zorn wieder hochkam. Wie konnte jemand nach einem so verheerenden Erlebnis im Bett so unbefangen sein wie Anna? »Wer war es?«, drängte er sanft.
»Ich weiß es nicht.«
Nachdem er von der Hauptstraße auf ihre Zufahrt abgebogen war, hielt er an, schaltete den Motor ab und starrte durch die Windschutzscheibe hinaus.
»Craig Logan kam vor etwa neun Jahren bei einem Arbeitsunfall im Wald ums Leben«, klärte er sie auf. »Peter Wright zog nach der Highschool nach Texas, und Ron Briggs lebt jetzt in Greenville.« Er sah sie an. »Briggs war in den letzten fünfzehn Jahren mehrfach im Knast und jobbt gelegentlich, wenn er nicht zu betrunken ist.«
Sie schlug die Arme um sich und starrte vor sich auf das Armaturenbrett. »Du warst nicht erstaunt, als sie mich Abigail nannte«, flüsterte sie in neutralem Ton.
»Ich weiß es schon seit geraumer Zeit«, gestand er leise, öffnete seine Tür und stieg aus. Er ging zur Schranke, merkte, dass er keinen Schlüssel hatte, und stand im Scheinwerferlicht da – es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte sich ausgesperrt. Stattdessen senkte er den Kopf und atmete wieder bebend durch.
Die Scheinwerfer erloschen, er hörte, dass die Beifahrertür geöffnet und geschlossen wurde, ehe er Annas Schritte auf dem Kies hörte. »Wir müssen laufen. Ich weiß nicht, wo meine Handtasche ist«, sagte sie tonlos, ging um die Schranke herum und weiter den Weg entlang.
Ethan bückte sich unter die Metallstange und fiel neben ihr in Gleichschritt. Schweigend machten sie sich auf den Weg zu ihrer Sägemühle. Wenig später blieb sie unvermittelt stehen und nahm Halt suchend seinen Arm, um ihre Schuhe auszuziehen. Er hatte vergessen, dass ihre Absätze drei Zoll hoch waren. Bevor sie auch nur ein Riemchen lösen konnte, hob er sie hoch und ging weiter.
»Es ist zu weit, um mich zu tragen.«
»Pst. Du wirst blutige Füße bekommen, wenn ich dich nicht trage.« Er lächelte ihr zu. »Außerdem komme ich in den Genuss deines angenehmen Duftes.«
Anna nahm sich seine Äußerung zu Herzen und blieb den Rest des Weges stumm in seinen Armen – während Ethan sich insgeheim fragte, ob sie es wohl gehört hatte, als er laut verkündete, dass sie nächsten Monat heiraten wollten.