Kapitel 36

 

 

Val hätte nicht sagen können, wie viel Zeit in der Bibliothek vergangen war. Es gab ein Feuer im Kamin, und sie setzte sich in einen riesigen Stuhl, sah sich ein Buch nach dem anderen an, bis ihr die Augen weh taten und sie sich ganz benommen fühlte. Lucas hatte ihr nie Geschichtsbücher gegeben. Nie einen vollständigen Text.

Er hatte ihr Ordner gegeben und Kopien von sorgsam ausgewählten Seiten. Damals hatte sie gedacht, es läge daran, dass die Bücher so selten waren, dass sie geschützt werden mussten. Doch jetzt befürchtete sie, dass es daran gelegen war,  weil er kontrollieren wollte, wie viel sie wissen durfte.

Sie konnte in fast allem, was er gesagt und getan hatte, Schuld finden. Er hatte sie zur Britischen Bibliothek gebracht, eine der wenigen Bibliotheken, in der es vielleicht ein Buch gegeben hätte, das alt genug war, damit sie etwas über ihn herausfinden konnte, und er war bei ihr geblieben, sie beobachtend.

Sie hatte gemeint, es läge daran, dass er bei ihr sein wollte. Aber das war nicht der Grund gewesen. Er war geblieben, um sicherzustellen, dass sie unwissend blieb. Was das ,gemein‘ in gemeint ausmacht. Er war schön und unwiderstehlich. So außer Reichweite, dass sie, als er ihr überhaupt Aufmerksamkeit geschenkt hatte, erbärmlich eifrig gewesen war, mit ihm zusammen zu sein.

Nach dem Typen waren übernatürliche Massaker benannt worden! Und einige der Dinge, die sie über ihn gelesen hatte, was er getan hatte, nachdem er einen ganzen Haufen Empathen getötet hatte...  waren nicht die Art von Dingen, über die man auf irgendeine Weise hinwegsehen oder die man beschönigen oder übertünchen konnte. Böse war böse. Und dies war etwas ernsthaft Böses.

Wenn sie ihn nicht gekannt, sondern nur über ihn gelesen hätte, hätte sie eine Heidenangst vor ihm gehabt. Hätte sie zwischen ihm und Marion wählen müssen mit dem Wissen, das sie jetzt hatte, hätte sie Marion als die sicherere Option gewählt. Wie zum Teufel war das möglich?

Und was wirklich beschissen war, war, wie verzweifelt ein Teil von ihr all dies ignorieren wollte. Wenn Lucas kam, um sie zu holen — wovon sie mit jeder Faser ihrer Existenz überzeugt war, dass er es tun würde — wollte sie zu ihm rennen, ihn sie halten lassen und so tun, als sei all dies eine Lüge.

Was erbärmlich war. Es machte sie zu ,dem‘ Mädchen. Dem Mädchen, das mit irgendeinem Scheißkerl ausging, von dem alle sagten, dass er ein Fehler war, doch sie ignorierte es blind, weil sie anders war. Und, jetzt kommt’s: sie könnte ihn ändern.

Ja, sicher.

Sie sah auf das Buch nieder, konnte aber die Worte nicht sehen. Na großartig, hier kommen die Wasserwerke. Ihre Unterlippe zitterte, ihr Hals schnürte sich zu und sie fühlte, wie ein Schluchzen in ihr aufstieg.

Ernsthaft, wie konnte sie sich so irren? Und was würde sie tun, wenn sie ihn wiedersah? Wie könnte sie so tun, als wüsste sie nicht Bescheid? Und was würde er tun, wenn er erst einmal merkte, wie viel sie wusste? Im Bestfall-Szenario würde er sich entschuldigen. Aber ist eine Entschuldigung aufrichtig, wenn man keine Reue fühlt?

Würde er sie töten? Bewirken, dass sie alles vergaß? Sie hörte, wie die Tür sich mit einem Knarren öffnete, und wischte sich hastig die Tränen vom Gesicht; sie legte das Buch weg und stellte sich neben den Stuhl.

„Kommt! Ich habe Essen und Trinken“, sagte Cerdewellyn, der in der Tür stand.

„Wann werden sie hier sein?“, fragte sie, die Stimme etwas kratzig, aber nicht zu schlimm.

„In ein paar Stunden.“

Sie nickte. Folgte ihm zurück in den Speisesaal, an dem sie vorher vorbeigekommen waren. Er führte sie zu einem Ende, vom Feuer weg, aber der Raum war so warm und gut von  den an den Wänden angebrachten Fackeln erleuchtet, dass es nichts ausmachte. Und auf dem Tisch stand Essen. Es ließ ihren Magen knurren, was etwas peinlich war. Cerdewellyn ignorierte es, zog für sie einen Stuhl zurück wie ein Gentleman und ging um den Tisch herum, sodass er ihr gegenüber saß. Er goss ihr ein Glas Rotwein ein, und Val betrachtete die vor ihr stehende Auswahl.

Wow. Das ist ein ganzes Schwein, das du da hast.“ Ihr drehte sich der Magen um. „Mit Augen und allem.“ Klang sie so angeekelt, wie sie sich fühlte? Sie konnte es nicht lassen, auf die leeren Augenhöhlen zu starren. Die Augen waren weggebrutzelt und... oh, es war so ekelhaft. Der Schwanz des Schweins war zu einem knusprigen Kreusel verbrannt, und ein Apfel war in das empörte Maul des Tieres gestopft worden. Das Schwein sah leicht verärgert aus. Als ob es wüsste, dass es ihm schlecht ergangen war und es deshalb angepisst war. Ich habe Mitgefühl mit dir, Kumpel.

Sie sah von dem Tier weg und zur Decke. Cer musste ihren Ekel gesehen haben, denn er schnippte mit den Fingern, und das Gericht war verschwunden. An seiner Stelle stand eine silberne Platte mit irgendeiner Art Fleisch und Gelee-Kreation darauf.

„Was ist das?“, fragte sie und gab es auf, den Schrecken in ihrer Stimme zu verbergen.

„Lerchenzungen in Aspik. Das ist eine vorzügliche Delikatesse.“

Val hatte keinen Hunger mehr. „Das Gelee-Zeug ist also Aspik, richtig? Und wahrscheinlich aus richtigen Hufen gemacht. Und wenn du Lerchenzungen sagst, meinst du wirklich Zungen, und von einem... Vogel. Ist es das... ähm... was ich hier betrachte?“

Er verzog das Gesicht. „Nun, es war mal eine vorzügliche Delikatesse. Dies verläuft nicht, wie ich gehofft hatte. Erklärt mir, was Leute zu Eurer Zeit essen, und es wird erscheinen. Esst ihr noch Käse?“

Die Situation hatte etwas leicht Amüsantes an sich, und Val konnte sich das Lächeln nicht verkneifen. „Ja, wir essen Käse. Und Obst. Und Brot. Aber es hat keinen Sinn. Ich werde es nicht essen. Also danke.“ Dieser Ort wäre der Traum von jedem, der auf Diät ist. Kein Essen oder es wird ernsthafte Konsequenzen haben.

„Also, ist dieses Essen wirklich?“

„Ja“, sagte er, als hätte er ihr alles gesagt, was sie wissen wollen könnte.

Oh Scheiße, noch ein Typ, der nicht redet. Ist das der Grund, warum Frauen lesbisch werden? Der Wunsch nach einer guten Unterhaltung? „Und?“

Er zog eine Augenbraue hoch. Etwas, worin alle miesen Gesprächspartner gut zu sein schienen. In seinem Fall bedeutete es ‚Was meinst du?‘ oder ‚Was willst du sonst noch von mir hören?‘ Oder sogar ‚Ich habe dir eine Antwort gegeben, warum nervst du mich also immer noch damit?‘

„Und es erscheint auf dein Fingerschnipsen aus dem Nichts, weil...?“

Er sah zu ihr auf, die Stirn gerunzelt. „Weil ich der König der Fey bin“, sagte er, als spräche er mit einem Kind.

Sie zuckte die Achseln. „Okay. Dankeschön“, gab sie sarkastisch zurück.

„Nichts zu danken“, erwiderte er ernsthaft.

Fabelhaft.

„Ihr werdet also nicht essen? Trotz meines Versprechens, dass das Essen makellos ist?“

„Nein, ich werde nicht essen. Aber danke.“ Glaube ich.

Cerdewellyn stand auf, wobei er ganz klar erwartete, dass sie auch aufstand. „Kommt! Es gibt etwas, das Ihr sehen solltet.“

Es ist keine Leiche, oder? Val wusste, dass sie besser darin wurde, sich auf die Zunge zu beißen, weil sie es nicht laut aussprach. Aber das war eine ziemlich ominöse Aussage. War es nicht das, was sie bei CSI und all diesen Mordserien immer sagten? Val sah nicht sehr viele Mordserien. Sie wusste Bescheid — nicht besonders schön. Ihr war eine gute Komödie allemal lieber.

Er deutete mit seinem Kopf zum anderen Ende des Raumes, und sie war sich nicht sicher, was sie da sehen sollte. Sie gingen nebeneinander, der riesige Esstisch zwischen ihnen. Sie kamen an einem Stuhl nach dem anderen vorbei, insgesamt vielleicht vierzig, bevor sie das andere Ende erreichten.

Da, auf einem rotblauen, türkischen Teppich vor dem Feuer, waren zwei Wölfe. Grau, still und riesig, sie waren größer als es irgendeinem Tier erlaubt sein sollte, zu sein. Sie sahen außerdem sehr, sehr tot aus. Vielleicht hätte ich den Leichen-Kommentar doch laut aussprechen sollen.

Liebe Ist Furcht
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