Kapitel 19

 

 

„Wird es wehtun?“, fragte Val.

Rachel sah sie abgelenkt an, während sie einen schwarzen Rucksack öffnete und einige Kräuter und ein paar verfärbte Holzschüsseln herausnahm. „Willst du, dass es weh tut?“

Rachel lachte über Valeries angewiderten Blick.

„Nein, Val, es wird wahrscheinlich nicht weh tun. Magie ist diesbezüglich eigenartig. Es ist eins von diesen Freude/Schmerz-Dingen. Es wird sich entweder wirklich gut anfühlen oder es wird weh tun. Und das hängt von dir ab. Wenn du verkrampft und widerstrebend bist, wenn du dagegen ankämpfst, tut es vielleicht weh. Aber wenn du dich zurücklehnst und es geschehen lässt... nun, dann wird es dir vielleicht gefallen, kleines Mädchen“, sagte Rachel abgelenkt. Als ob der Kommentar ihr erst im Nachhinein eingefallen sei.

Und dennoch... pfui.

Val wollte das Thema wechseln. „Wie lange bist du denn schon eine Hexe?“

Rachel betrachtete die zwanzig oder mehr Ziploc-Plastiktüten, die sie auf dem Boden ausgebreitet hatte. „Ich wurde als Hexe geboren. Bin als Hexe aufgewachsen“, sagte sie, während sie eine Tüte hochhielt, damit sie den Inhalt im Dämmerlicht deutlicher sehen konnte.

„Nun, das ist kurz und bündig. Ähm, ist das Marihuana?“, fragte Val.

„Nein. Mongolisches Moos. Lucas hat mich gefunden. Hat mich aus dem Hexenzirkel geholt und mir ein Leben gegeben. Dann gab er mir Marion. Ich werde ihm immer dankbar sein.“

Valerie unterdrückte ein entsetztes Geräusch. „Dankbar? Er hat dich von deiner Familie weggeholt und dir ein Monster gegeben, und du bist glücklich darüber? Ist es das, was du sagst?“

„Ähm, nein, das ist das, was du sagst. Du kennst Hexen nicht. Sie wurden aus gutem Grund auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Scheußliche, bösartige Frauen. Ich war sehr talentiert, und als Lucas mich wegholte..., war ich auf einem finsteren Pfad. Ich brauchte ein Hexen-bezogenes Zusatz-Erziehungsprogramm.“ Rachel sah zu Boden, als sie in tiefem, erzählendem Tonfall sagte: „Sag einfach nein.“

„Aber jetzt bist du eine weiße Hexe? Graue Hexe? Glinda, die gute Hexe des Südens?“, sagte Val sarkastisch. Rachel war Marions Süße gewesen — keine Menge an Bleichmittel würde sie weiß machen.

„So etwas wie weiße Hexen gibt es nicht. Jegliche Magie ist durchtränkt von Finsternis. Alle Kraft kommt von Tod und Schaden.“

„Bezaubernd.“ Valerie fühlte, wie sie eine Gänsehaut auf den Armen bekam.

Rachel hatte eine steife Körperhaltung, sprach zu zuversichtlich... als ob das, was auch immer sie getan hatte, so schlimm gewesen war, dass sie absolut still halten musste, damit es nicht kam und sie wegholte.

„Hexen sind an die Erde gebunden. Sie zwingen die Erde, ihre Stärke und Kraft preiszugeben, oder sie stehlen sie von Menschen und Tieren. Schmerz und Tod laden unsere Batterien auf. Es ist wie bei der Spaltung eines Atoms — die freigegebene Energie ist etwas Quantifizierbares, etwas, das wir nehmen und umleiten können. Und ich bin stark. Aber es gibt weniger einschneidende Wege, um Kraft zu nehmen, und das ist es, was Lucas mir gegeben hat. Die Freiheit, keinen Tod für meine Magie zu benötigen. Marion... sie war eine verdorbene Frau. Die Jahre sind nicht gut zu ihr gewesen. Sie war ein kleines bisschen gebrochen. Das ist es, was mit Vampiren passiert. Wir sollten nicht so lange leben, wie wir es tun. Es verbeult uns, macht uns merkwürdig. Marion war fast kindlich in ihrem Staunen und ihrer Freude. Aber normale Dinge bereiteten ihr keine Freude. Gewalt, Schmerz — das sind die Dinge, die sie mochte. Und das sind die Dinge, die ich brauchte, um zu überleben.“ Rachel zuckte die Achseln, als sei es nichts Besonderes; ihre Körpersprache widersprach der Intensität ihrer Worte.

Vals Stimme war leise: „Du hast sie also geliebt.“

„Das scheint in der Tat das Thema zu sein, nach dem die Leute gerne fragen“, murmelte Rachel. „Sie war meine erste Liebe. Meine einzige Liebe. So verdorben sie auch gewesen ist, sie hat mich mit Freude betrachtet. Ich war eine verdammte Offenbarung für sie. Nach der Finsternis, die ich zum Gedeihen brauchte, hungerte sie. Was immer ich tun musste, um mich selbst zu erhalten, hieß sie willkommen. Ist das keine Liebe? Die eine Person zu finden, die unser finsterstes Selbst hinnehmen und wertschätzen kann? Unseren Schmerz und unsere Widerlichkeit ansehen kann, ohne davor zurückzuschrecken?“

„Nein“, sagte Val zögernd, während sie die Aussage durchdachte. „Ich glaube nicht, dass das Liebe ist. Ich denke, das ist: jemanden mit sich in die Tiefe zu reißen. Liebe ist, zu wissen, dass jemand mehr für dich will, dich um deiner selbst willen und die bestmögliche Version von dir, die du sein kannst, will. Und dass, obwohl wir vielleicht straucheln oder beim Gutsein versagen, er uns liebt und weiß, dass wir es letzen Endes schaffen werden. Es ist Unterstützung.“

Rachel lachte finster. „Ich denke, wir sprechen über die gleiche Sache, Valerie. Das ist der Grund, warum Lucas sich zu dir hingezogen fühlt. Du beschreibst Liebe im Sinne von Helligkeit und Güte, denn so bist du. Ich beschreibe sie im Sinne von Finsternis, denn eine solche Kreatur bin ich; ob ich es sein will oder nicht. Und als es mich fast zerstört hätte — das Töten und das Foltern — , als ich es nicht weiter machen konnte, ohne dem Bösen gänzlich zu erliegen? Das war der Zeitpunkt, als Lucas mich gefunden hat. Er gab mir Schutz, band mich an Marion. Er machte mir ein Geschenk.“

Rachel lief im Kreis und streute Moos auf den Boden, während sie redete.

„Das ist beschissen poetisch“, sagte Val, wobei sie das Gefühl hatte, dass Rachel sie veräppelte. „Wie konntest du dich dann gegen ihn wenden? Marion hat versucht ihn zu töten.“

„Lucas ist ein großer Junge. Und irre dich da mal nicht, es waren nicht nur wir beide, die rebelliert haben — viele andere hätten es auch, aber sie wussten, dass es aussichtslos war. Davon abgesehen, Marion hätte Lucas nicht geschlagen.“

„Warum hat sie es dann versucht?“, fragte Val.

„Weil Marion total beschissen verrückt war, darum. Weißt du, wer Lucas töten kann? Die Fey. Die Wölfe. Die können ihn töten. Und das werden sie wahrscheinlich. Und falls wir es überleben, können wir sagen, wir waren dabei. Positiv denken, nicht wahr? Nun lass uns diesen Zauberspruch durchführen. Wir können uns später bei den Magaritas anfreunden.“

„Ich will dich nicht kennenlernen. Warum erzählst du mir all dies überhaupt?“ Val war ehrlich verwirrt.

Rachel sah sie an, einen ernsthaften Ausdruck im Gesicht. „Weil das Blatt sich gewendet hat, Valerie. Du bist die Freundin von meinem Boss. Und ich bin gerne am Leben.“ Ihr Grinsen war wölfisch.

„Jetzt wirst du also nett zu mir sein? Man kann nicht einfach jemanden verraten und dann Vergebung erwarten.“

„Wirklich nicht? Ich glaube, das kann man. Wenn man wertvoll genug ist, wie, sagen wir mal, die einzige Hexe, die ein Vamp seit 200 Jahren eingestellt hat. Dann ja, dann denke ich, kann ich ein oder zwei Mal mit Verrat davonkommen.“

Val setzte sich auf den Boden, zog ihre Knie zur Brust. „Ich kann nicht glauben, dass er dir vertraut.“

Rachel lachte barsch. „Lucas vertraut niemandem. Wenn du das mittlerweile noch nicht kapiert hast, steckst du wirklich tief in der Scheiße. Er bringt Leute dazu, ihm zu gehorchen, weil er sie töten wird, wenn sie es nicht tun. Rohe Gewalt braucht kein Vertrauen. Sie braucht nur die gelegentliche Erinnerung daran, wer das Sagen hat. Wie die Herausforderung zum Beispiel.“

Mit Rachel zu sprechen war wie mit dem verrückten Hutmacher oder Jar Jar Binks zu sprechen — verdammt harte Arbeit. „Das hört sich ja so an, als habe er die Herausforderung gewollt.“

Rachel zuckte unverbindlich die Achseln.

„Nein. Wenn er eine Herausforderung wollte, um — was — die Ränge zu säubern oder zu sehen, wer noch loyal war, dann hat er dich ebenfalls manipuliert und dich dazu gebracht, zu tun, was er wollte.“

„Oder?“, fragte Rachel, klopfte sich die Hände ab und packte dann all ihre Pflanzen in ihren Rucksack zurück.

„Oder... du hattest die ganze Zeit Bescheid gewusst? Was du nicht hast.“ Stimmt’s?

Rachel kam auf sie zu, das Messer in der Hand, Valerie den Griff entgegenstreckend. Sie kauerte sich vor ihr nieder, ihr glänzendes, kinnlanges Haar fiel ihr ins Gesicht. „Ich habe dir den Weg gewiesen, Valerie. Ich habe dir Zeug erzählt und versucht dir zu helfen. Vergiss das nicht!“

Das Messer war warm, der Griff abgenutztes Leder, so alt, dass es schwarz war. Oder es ist von Vampirblut verfärbt. „Wie hast du mir geholfen? Du hast in Rätseln gesprochen. Hast versucht mich zu töten, und jetzt hast du mich total verwirrt. Alles ist Mutmaßung — du hast mir keine einzige klare Antwort gegeben.“

Sie lächelte sie an. „Verwirrt könnte dich am Leben halten. Vertrauen ist das, was dir den Tod bringen wird. Ich berechne es dir nicht stundenweise, also keine Sorge.“

Jack war totenstill gewesen, so weit entfernt, dass sie sich umdrehen und nach ihm suchen musste. Er hatte die Arme verschränkt und lehnte an einem Baum, als sei er zu Tode gelangweilt und passte überhaupt nicht auf.

Sicher.

Liebe Ist Furcht
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