Kapitel 8
Sie kamen ins Zimmer zurück und warteten auf den Hotelarzt, der Val untersuchen sollte. Er sagte, sie sei in Ordnung. Das Meerwasser war aus ihrem Körper heraus, und das Beste, was sie jetzt machen konnte, war sich auszuruhen. Das kann ich machen, dachte sie, schon fast eingeschlafen.
Jack saß neben ihr, seine Hand umklammerte ihre, als befürchte er, sie würde verschwinden, sobald er losließe. Als sie aufwachte, war er verschwunden. Auf seiner Seite des Bettes lag ein Zettel. Und ja, es war absolut merkwürdig zu denken, dass er eine ,Bettseite‘ hatte.
Auf dem Zettel stand, dass er in der Bar war. Ich werf’s ihm nicht vor. Ich möchte in der Bar sein.
Val setzte sich auf und erinnerte sich an seinen Gesichtsausdruck, als sie immer wieder nach Lucas gerufen hatte. Scheiße, wir werden noch eine verfickte Unterhaltung haben. Und sie musste ihm von ihrem Traum/ihrer Vision von Lucas, der mit ihr zusammen ertrank, erzählen.
Das war sicher ein Traum.
Ihr Verstand hatte ihr einen Streich gespielt, sie ihn sehen lassen. Aber es hatte so wirklich geschienen. So wirklich und so furchtbar. Ihn wieder zu sehen, selbst einen vorgetäuschten ihn... ihr Körper hatte reagiert. Nicht bloß simple Anziehung, sondern mehr als das. Sie hatte sich gefühlt wie eine Lampe, die eingesteckt wurde. Unnatürliche Helligkeit und Konnektivität. Sie würde Geld darauf verwetten, dass es etwas damit zu tun hatte, dass sie eine Empathin war und sein Blut getrunken hatte.
Es war Sonnenuntergang und der Himmel zeigte hundert verschiedene Rosa- und Orangetöne. Sie hatte stundenlang geschlafen. Und obwohl es falsch war, wollte sie Lucas anrufen. Nur um sicher zu gehen, dass er in Ordnung war. Natürlich ist er in Ordnung. Du kannst ihn nicht anrufen, es ist wie wenn ein Alkoholiker ein Schnapsglas Vick MediNait trinkt, um einer Erkältung vorzubeugen.
Sie sah auf den Ozean hinaus und beobachtete geistesabwesend, wie die Vorhänge sich von der Nachtbrise in ihr Zimmer bauschten. Sie wallten, wogten mehrmals in ihr Zimmer und wieder hinaus — dann hörten sie auf. Die Vorhänge blieben an einer Form hängen, dem Abdruck einer auf dem Balkon stehenden Person.
Val sprang aus dem Bett und lief zum Balkon, zog die Vorhänge zurück und rannte fast in ein Paar blutrote Lippen hinein.
Oh Scheiße. Rachel.
Ihre Haut war wie Porzellan, ihr dunkelbraunes Haar hinter die Ohren gesteckt. Es war kurz und dicht. Sie sah anders aus als gewöhnlich. Weicher, femininer. Weniger mörderisch.
Sie trug eine schwarze Leinenhose und ein rosa Seidenmieder, das ihre blassen Arme zeigte. Dazu nicht passend trug sie Flip-Flops mit einer hübschen goldenen Schleife daran. Ihre Zehennägel waren in dem gleichen Rot lackiert wie ihre Lippen, und sie sah aus, als käme sie gerade von einer Pediküre.
Sie sieht tot besser aus als ich lebendig. Mist.
„Valerie, Lucas schickt mich, um nach dir zu sehen. Renne nicht davon, das wird mich nur hungrig machen. Und Lucas würde mich umbringen, wenn dir etwas zustoßen würde. Komm, lass uns plaudern. Ich habe dir ein Geschenk mitgebracht.“ Sie lächelte Valerie hübsch an.
Val ging zuerst zum Bett, griff nach dem Pflock unter ihrem Kissen. Risiko des Lebensstils. Sie hatten keine Pistolen mit nach Hawaii gebracht, um nicht festgenommen zu werden und so. Davon abgesehen hatten sie nicht geglaubt, dass sie sie brauchen würden. Hoffentlich stimmte das noch.
Val ging nach draußen, achtete darauf, dass der Pflock deutlich sichtbar war. Rachel saß mit übereinandergeschlagenen Beinen auf einem Stuhl. Eine Mappe ruhte auf ihrem Schoß. Rachel sah sie aufmerksam an; von Kopf bis Fuß und dann zurück. Es war nicht sexuell oder gar räuberisch, sondern wissbegierig.
„Was, wird er dich abfragen?“, fragte Val.
Val dachte, dass Rachel einen Augenblick lang lächelte, aber es war flüchtig. „Er wird alles wissen wollen“, sagte sie dramatisch. „Sieh mal einer an, ein einfacher Mensch schnappt sich den großen Bösewicht. Nun, fast Mensch, hmm?“
„Er hat es dir gesagt?“, fragte Val schockiert.
„Oh ja. Allerdings nur mir. Er will nicht, dass es bekannt wird.“
„Du hast mich erstochen und fast getötet. Du hast ihn auch fast getötet! Warum würde er dir irgendetwas sagen?“, fragte Val ungläubig.
Rachel sah unbeeindruckt aus, streckte ihr Bein aus und betrachtete ihre Zehen, zweifellos um ihre kürzliche Lackierarbeit zu begutachten. „Ich bin einer von Lucas’ Lieblingen. Nun, wahrscheinlich der einzige Liebling. Er ist wirklich von den Vampiren weg gekommen in den letzten, was, drei- vierhundert Jahren? Aber das ist bloß das, was ich gehört habe. Ich bin nur um die hundert, also ist so ziemlich alles, was ich weiß, Geschichte und Gerüchte.“
„Um die hundert?“
„Ja. Ich bin 106, aber wenn Vampire über Zeit reden, runden sie für gewöhnlich zum nächsten Jahrhundert.“
Das war bizarr. „Du kannst nicht sein Liebling sein“, sagte sie entrüstet.
Rachel lachte tatsächlich. „Oh oh! Sieh mal einer an, du denkst, du weißt so viel über ihn.“
Valerie warf ihr einen bist-du-total-verrückt-Blick zu. Obwohl, sie war Marions Freundin, also war sie vielleicht verrückt. „Er hat deine Freundin in eine vertrocknete Mumie verwandelt und in eine Kiste gesteckt, bevor er dich gefoltert hat.“
„Ja, und er hat mich außerdem super-mächtig gemacht und mich geschickt, um nach seiner Süßen zu sehen.“
Val fuhr sich mit den Händen durchs Haar. Es war brüchig und verheddert vom Salz und dem Ozean. Und sie vermutete, es sah wie die Art von Knäuel aus, in dem kleine Nagetiere gerne Urlaub machen würden.
Oh Mann, sie war so schwach, und trotzdem musste sie fragen: „Warum ist er nicht selbst gekommen?“
Rachel lachte — schon wieder. Der Klang so aufrichtig und laut, dass einige Vögel aus den Palmen neben ihrem Zimmer aufgescheucht wurden. Ist sie nicht einfach die vergnügteste Person.
„Im Ernst? Du bist auf einer gekünstelten Hochzeitsreise, nachdem du ihm gesagt hast, er soll sich selbst ficken, und du willst, dass er dir nachrennt? Du kannst nicht auf zwei Hochzeiten tanzen.“
Val ließ sich auf einen Stuhl fallen. „Bin ich eine fürchterliche Person?“, fragte sie, wobei sie nicht wirklich eine Antwort erwartete.
„Ich bin eine Vampirin. Ich töte Leute. Meiner Meinung nach bist du eine verdammte Mary Poppins, die in einer leicht bösartigen Jungs-Verrücktheits-Geschichte steckt.“
Sollte sie das aufmuntern? Nun ja, es geht mir dadurch jedenfalls nicht schlechter.
„Wo ist mein Geschenk?“, fragte Val, wollte das Thema wechseln.
„Ta daa!“ Rachel nahm die Mappe und hielt sie Valerie hin. Vorsichtig streckte Valerie die Hand aus und nahm sie.
Rachel machte es sich wieder im Stuhl bequem, die Beine ruhig und brav übereinander geschlagen, während sie auf den Ozean hinaus sah und darauf wartete, dass Valerie etwas machte oder sagte. Sie schien glücklich darüber, hier zu sein, ihr Gesicht zum Himmel emporgehoben und ihre Augen geschlossen.
„Wie kommt es denn, dass du die Reise nach Hawaii gewonnen hast? Und warum bist du nicht zu Fetzen verbrannt?“
Rachel öffnete die Augen, ihr Ausdruck wachsam. „Zu spät. Die Sonne ist vor zehn Minuten untergegangen. Oh, das hätte ich fast vergessen. Lucas will, dass du übst, dich selbst zu beherrschen. Jetzt, da du sein Blut hast, bist du überall. In seinen Träumen und Erinnerungen. Ehrlich gesagt, er sieht erschöpft aus. Du musst etwas schonender mit dem Kerl umgehen. Du lässt ihn fallen und plagst ihn dann. Das ist einfach nicht nett.“
Sie war außer sich: „Ich versuche es nicht! Was kann ich machen, um mich von ihm fernzuhalten?“
„Ich habe einen Post-It-Notizzettel auf die Seite geklebt. Fang heute Abend an, versuche dich so bald wie möglich von ihm zu trennen. Er ist kein Typ, den du herum schubsen willst, mein kleiner Leckerbissen.“
Valerie nickte, nicht sicher, was sie sagen sollte oder auch nur was sie davon halten sollte, dass Lucas wollte, dass sie sich aus seinem Kopf raushielt.
„Warte. Kommt er auch in meinen Kopf?“
„Oooh. Auf die Frage würde ich auch gerne eine Antwort haben: Hat er von dir getrunken? Es ist relevant, also antworte“, sagte Rachel, während sie ihre Beine unter den Stuhl schob und sich begierig nach vorne lehnte.
„Nein.“
Rachels Augenbrauen hoben sich haushoch und ihre Wangen sanken ein, als sie schockiert mit der Zunge schnalzte. „Noch nicht einmal eine Kostprobe? Wow. Das ist ernsthafte Selbstbeherrschung.“
„Er hat gesagt, er wollte es, aber er sei zu alt. Er hat es mit Sodbrennen verglichen. Oder vielleicht war ich das. Was bedeutet das?“
„Oh, sieh mal. Da ist Jack“, sagte Rachel mit einem merkwürdigen Tonfall in ihrer Stimme. Erwartung oder sowas... dunkel, aber Val hätte nicht sagen können was. „Weißt du, Marion hat geschworen, dass sie ihn behalten hätte, wenn sie gewusst hätte, wie süß er sein würde. Ich dachte immer, sie sagte das nur, um mich zu ärgern. Jetzt bin ich mir nicht so sicher.“
Jack war noch weit entfernt, kam gerade einen Weg aus Steinplatten, der vom Restaurant unten am Strand heraufführte, herauf. Männer in Hoteluniformen zündeten Petroleumfackeln an, während kleine Kinder von sonnenverbrannten Eltern in ihre Zimmer gescheucht wurden.
Sie beide beobachteten Jack einen Augenblick lang, seine große graziöse Erscheinung, die die Entfernung vor ihm vertilgte. Rachel verschob ihren Stuhl, bewegte ihn in den Schatten, so dass er sie nicht sehen würde, falls er herauf sah.
„Also, bevor ich gehe, gibt es irgendetwas, das ich weitergeben soll?“, fragte Rachel.
„Nun, er ist in Ordnung, stimmt’s? Ich wäre fast ertrunken, und ich dachte, er sei da gewesen. Es war, als wäre er auch gestorben.“ Sie stellte es sich wieder vor — ihn tot, von ihr weg treibend, und sie konnte ihm nicht helfen. Konnte ihn nicht retten. Sie blinzelte Tränen aus ihren Augen fort.
Rachel kaute auf ihren Lippen, entblößte dabei einen zierlichen perlweißen Fangzahn. „Sieh mal, Lucas ist alt. Er verschwindet und zieht sich gewissermaßen zurück. Als du ihn das letzte Mal gesehen hast, warst du in seinem Kopf. Nicht körperlich mit ihm zusammen. Er war in letzter Zeit viel abwesend. Körperlich anwesend, aber nicht geistig... wie beim Winterschlaf? Ich weiß es nicht. Es ist gewissermaßen tabu. Alle wissen davon, aber wollen nicht wirklich darüber sprechen. Ich schätze, es ist etwas beunruhigend oder so.“
„Hat es einen Namen? Ist es ein Leiden oder eine Krankheit?“
Rachel zuckte mit den Schultern: „Wir sprechen nicht darüber, wie zum Teufel kann es dann einen Namen haben? Pass besser auf.“
„Leute reden nicht gerne über den Tod, aber er hat einen Namen“, sagte Val schneidend.
Rachel schnaufte und wedelte unbekümmert mit der Hand. „Ich schätze, die Leute, mit denen du rumhängst, reden nicht darüber, aber Mensch, der Tod ist alles, worüber ich rede. Mein Tod, Marions Tod, Lucas Tod. Die Fey, die Wölfe... tot, tot, tot.“
„Was ist mit den Fey und den Wölfen? Roanoke, wann geht er da hin?“
Rachel stand auf und wischte sich abwesend über die Hose, nahm sich einen langen Moment Zeit, als ob sie entscheide, was sie sagen wollte. „Ich denke, er wird noch etwas länger auf dich warten.“
Valerie schüttelte nachdrücklich den Kopf: „Nein, ich helfe ihm nicht mehr. Er weiß das.“
„Sieh mal, ich könnte mich dir gegenüber wirklich so oder so verhalten, aber ich werde dir hier mal einen Gefallen tun, also hör gut zu — man legt sich nicht mit Vampiren an. Denke nicht, dass du ihnen einen Schritt voraus bist. Du wirst sie weder überlisten noch überleben. Du bist eine Ablenkung, ein Mittel zum Zweck, ein Objekt, vielleicht sogar ein sehr geschätztes, aber es gibt immer eine verdeckte Absicht. Lucas hat Großes vor, und er braucht dich, um es durchzuziehen. Er wird einen Weg finden, um sicherzustellen, dass du ihm hilfst. Bis bald. Bekomm etwas Farbe für mich.“
Und mit einem Fingerschnipsen war sie verschwunden.