Kapitel 25

Elizabeth stand mit den Händen in den Hosentaschen neben Mary Anne und gab sich alle Mühe, wie ein Botenjunge auszusehen, der seinen Auftrag erledigt hatte und nun auf eine Antwort wartete.

Sie würdigte das Gemälde hinter ihr mit keinem Blick – sie kannte es schließlich in- und auswendig. Aber sie bemerkte, wie die Männer es anstarrten, sah ihre anerkennenden Blicke, hörte, wie sie lachten und sich darüber unterhielten, um wen es sich bei dem Modell wohl handelte. Sie hielt den Kopf gebeugt, und der Schirm ihrer Mütze war tief in die Stirn gezogen, damit ihr Gesicht weitgehend verborgen blieb.

Mary Anne hatte ihr Queue wie einen Spazierstock neben sich gestellt und beobachtete einen Mann, der jetzt seinen Platz am Billardtisch einnahm und den sie voller Entschlossenheit ins Auge fasste.

»Kommen Sie einfach mit mir«, flüsterte Elizabeth. »Dann können wir reden.«

»Nein.«

»Dann hören Sie zumindest damit auf, ständig an Ihrer Maske herumzutasten«, zischte sie. »Sonst verrutscht sie womöglich noch.«

»Vielleicht will ich das ja.«

»Bitte …«

»Sie haben mir nicht erzählt, was Thomas Ihnen angetan hat.«

»Er hat sich bei mir entschuldigt, und ich fand, dass er eine Chance verdient, um zu beweisen, dass er es ernst meint. Zudem finde ich nicht, dass es mir zusteht, seine Fehler zu enthüllen. Ich habe selbst genug begangen.«

»Wie zum Beispiel meinen Bruder zu benutzen?«

Elizabeth seufzte. »Ja. Und Leute anzulügen. Ihr Bruder hat mir vergeben. Werden Sie das auch tun?«

Als hätte die Erwähnung seines Namens ihn auf den Plan gerufen, kam Peter plötzlich auf sie zu. Mary Anne erstarrte, wandte sich aber nicht ab.

Peter sah seine Schwester nicht einmal an. Mit ausdrucksloser Miene sagte er zu Elizabeth: »Junge, wenn du deinen Auftrag erledigt hast, brauche ich dich, um eine Nachricht zu überbringen.«

Sie fühlte sich hin- und hergerissen. Wie konnte man Mary Anne in einem solch labilen Zustand sich selbst überlassen?

»Ich brauche ihn nicht mehr«, sagte Mary Anne und wandte sich ab.

»Dann komm mal mit, Junge«, sagte Peter betont lässig, doch wer ihn kannte, hörte das leise, inständige Flehen. »Ich bezahle dich auch gut, wenn du einen Brief schnell auslieferst.«

Elizabeth wusste, dass sie nicht länger zögern durfte. Es war eine Katastrophe, dass sich gleich zwei Frauen in diesem Club aufhielten. Peter hatte offensichtlich einen Plan, wie er seiner Schwester helfen konnte, denn er würde sie nie im Stich lassen … Mary Anne wusste das bestimmt ebenfalls, aber wie würde sie reagieren?

Elizabeth eilte Peter hinterher. Sie hatte Angst, schon zu lange gezögert und damit seinen Plan zunichtegemacht zu haben. Sie folgte ihm durch die große Halle in einen kleinen Raum, in dem nur ein einzelner Kartentisch und ein paar Stühle standen. Kalter Zigarrenrauch hing unangenehm in der Luft.

Sie ließen die Tür offen, sodass sie in den Salon schauen konnten. Elizabeth stutzte, als sie Thomas sah.

»Weiß er …«, fing sie an.

»Wir sind zusammen hergekommen. Er wird Mary Anne rausholen.«

Sie stand dicht neben ihm und sehnte sich danach, sich in seine Arme zu werfen, als könne er sie vor der ganzen Welt beschützen. Doch das musste warten. Stattdessen fragte sie: »Und du vertraust ihm?«

»Jeder verdient eine zweite Chance«, sagte er sanft, während er über ihren Kopf hinweg Thomas anschaute. Dann blickte er zu ihr, und in seinen blauen Augen lagen tiefer Ernst und unendliche Sehnsucht. »Wir verdienen sie ebenfalls.«

»Ach, Peter«, flüsterte sie und lehnte sich an seine Schulter.

Mary Anne hatte Schwierigkeiten, sich auf das Spiel zu konzentrieren. Zu sehr verblüffte sie Peters Verhalten. Sie verstand nicht wirklich, dass er nur Elizabeth mitnahm und sich um sie scheinbar gar nicht kümmerte. War sie es in seinen Augen nicht wert?

Aber nein, das waren nur ihre überreizten Nerven und die Angst, die da sprachen. Peter war wahrscheinlich völlig ratlos und fürchtete, sie wäre sowieso nicht mitgegangen. Und plötzlich sah sie Thomas auf sich zukommen und erkannte, dass die beiden gemeinsame Sache machten.

Thomas und Peter, die sich um sie sorgten.

Als er näher kam, empfand sie ein Gefühl des Verlustes. Er sah so umwerfend aus, dass es fast schmerzte, und strahlte unverändert diese Selbstsicherheit aus, die sie so faszinierte.

Bis zu dieser unseligen Eröffnung, die sie dazu getrieben hatte, aller Welt beweisen zu wollen, dass sie, Mary Anne Derby, keinen Mann brauchte. Jetzt musste sie nur noch die Maske abnehmen. Sie griff mit der Hand danach.

In diesem Moment erklang neben ihr eine arrogante Stimme, die für alle im Raum vernehmlich das Wort an sie richtete. »Sind Sie die Mätresse eines der anwesenden Gentlemen?«

Die Männer, die um den Tisch herumstanden, lachten und stießen sich an, um dann erwartungsvoll zu verstummen.

Mary Anne sah Thomas durch ihre Maske hindurch wütend an. »Bin ich nicht. Kein Mann ist es wert.«

Sie kannte die Regeln. Dass man sie hier nur duldete, weil man sie für eine Gespielin eines ehrenwerten Mitglieds hielt. Für eine dieser Dämchen, über die man nur im Flüsterton sprach und die sich mit der Befriedigung männlicher Lust ihren Lebensunterhalt verdienten. Jetzt würden sie nicht wissen, was sie von ihr halten sollten.

Thomas’ Augen leuchteten auf und mit in die Hüften gestützten Händen sagte er: »Dann schlage ich vor, dass wir eine Partie spielen, und wenn ich gewinne, gehören Sie diese Nacht mir.«

Sie fühlte sich angeekelt. Er schien wirklich zu allen Mitteln zu greifen, um zu bekommen, was er wollte.

Dann dachte sie an sein Geständnis und fragte sich, ob sie ihm nicht unrecht tat. Bestimmt war es einem Mann wie ihm nicht leichtgefallen, Fehler und Niederlagen einzugestehen. Sie musterte ihn und meinte einen Ausdruck ehrlicher Sorge zu erkennen. Ihre Verärgerung und ihre Renitenz begannen zu bröckeln.

Es war nicht so, wie es schien. Ein ihr noch unbekannter Plan steckte hinter seinem Vorgehen. Sie musste aufhören, sich selbst und ihrer Familie wehzutun.

Die Männer im Salon allerdings nahmen Wythornes Angebot für bare Münze und scharten sich erwartungsvoll um den Billardtisch.

»Ich nehme die Herausforderung an, Mylord«, erwiderte sie mit ruhiger Selbstsicherheit.

Die Männer rückten noch enger zusammen, und sie beschloss, diese Partie nach ihren Regeln zu spielen. Vielleicht war es ja ihre letzte, zumindest in der Öffentlichkeit. Immer wieder überließ sie Thomas die Führung, nahm sie ihm ab und verlohr sie erneut.

Nachdem er gewonnen hatte, lachte er mit seinen Freunden, um sich Mary Anne schließlich unter brüllendem Gelächter über die Schulter zu werfen und die Treppe hinunter nach draußen zu tragen, hinaus in die warme Nacht.

Sie hörte, wie sich der Schlag einer Kutsche öffnete. Thomas hob sie auf eine der Bänke und setzte sich neben sie, bevor kurz darauf Peter und Elizabeth folgten.

Es herrschte ein äußerst angespanntes Schweigen, als sich das Gefährt mit einem Ruck in Bewegung setzte.

»Na gut«, erklärte Mary Anne, ehe jemand anders das Wort ergreifen konnte, »das war sehr dumm von mir. Ich habe es sehr schlecht aufgenommen, als ich herausfand, wie unvollkommen ihr drei seid – aber ich weiß, dass ich nicht besser bin. Es tut mir leid, euch in die Geschichte reingezogen zu haben. Noch blöder war es allerdings, wegen eines Mannes um ein Haar den eigenen Ruf zu ruinieren.« Demonstrativ sah sie Thomas an, der neben ihr saß. »Schließlich bin ich zu viel wert, um mich für so etwas herzugeben.«

Er nickte ernst.

Sie wandte sich wieder den anderen zu. »Elizabeth, hat Peter Sie zu irgendetwas gezwungen, was Sie nicht wollten?«

Elizabeth errötete. »Nein, natürlich nicht.«

»Peter, hat Elizabeth dich zu irgendetwas gezwungen, was du nicht wolltest?«

»Nie. Ich will sie schon seit Jahren heiraten.«

»So etwas habe ich mir schon gedacht«, erklärte Mary Anne zufrieden.

»Wir müssen miteinander reden«, flüsterte Elizabeth und nahm Peters Hand.

Sie sahen einander tief in die Augen, und Mary Anne beneidete die beiden um die Liebe, die sie sichtlich füreinander empfanden. Ein paar Minuten später, als die Kutsche vor dem Haus der Derbys anhielt, half Peter Elizabeth beim Aussteigen.

»Nettes Bild«, rief Mary Anne leise und lächelte, als Elizabeth zusammenzuckte.

Mary Anne rutschte nach vorne und drehte sich noch einmal zu Thomas um. »Ich hätte die Partie eigentlich gewinnen können, das wissen Sie schon? Mich zu irgendetwas zu zwingen, das wird nicht klappen – vorausgesetzt ich erlaube Ihnen überhaupt, mir den Hof zu machen.«

Er grinste sie an. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich Ihre Entscheidung beeinflussen kann.«

Und da war sie wieder, diese Selbstsicherheit, die sie von Anfang an so sehr angezogen hatte.

Elizabeth schlich hinter Peter durch das Haus der Familie und atmete erleichtert auf, als sie es bis in sein Schlafzimmer schafften, ohne dass jemand sie in Jungenkleidung sah. Er schloss die Tür und lehnte sich mit dem Rücken dagegen, während er sie ernst anschaute.

»Wir haben es geschafft«, hauchte sie und schlang die Arme um ihren Oberkörper.

»Das haben wir. Ich kann immer noch nicht glauben, dass sie Wythorne hat gewinnen lassen. Dass du dich ihretwegen in Gefahr gebracht hast, muss sie irgendwie zur Einsicht gebracht haben.«

»Ich schuldete ihr mehr als das«, erklärte sie ruhig.

Er streckte die Hand aus, und sie ging zu ihm. Als er sie in seine Arme schloss, seufzte sie vor Erleichterung.

»Elizabeth, meine einzige Liebe.«

Es war so schön, diese Worte aus seinem Mund zu hören. Unendliche Erleichterung und Dankbarkeit ließen heiße Tränen in ihre Augen steigen. Sie hob den Kopf. »Ich liebe dich auch, Peter. Es tut mir leid, dass ich so lange brauchte, um es zu erkennen.« Sie küsste ihn und sagte: »Ich verspreche, dir immer die Wahrheit zu sagen.«

Er gab ihr einen Kuss auf die Nasenspitze. »Diese Lektion haben wir beide gelernt. Ich liebe dich, Elizabeth. Bis zu der Geschichte mit dem Gemälde wusste ich nicht, ob du jemals das Gleiche für mich empfinden könntest. Durch das Bild habe ich noch viel mehr von dir gesehen.«

»Peter«, rief sie und spürte, wie ihr ganz heiß wurde vor Verlegenheit.

»Nein, ich meine die inneren Werte. Das, was dahintersteckt wie etwa die Bereitschaft, Risiken einzugehen. Ich lernte eine Frau kennen, die echter und wunderbarer ist als jedes idealisierte Bild einer Dame.«

»Ich war ja so blind, hatte keine Ahnung, was echte Liebe ist«, sagte sie, während sie über seine Weste strich und ein bisschen schniefte, weil ihr schon wieder Tränen der Rührung in die Augen steigen wollten. »Weil wir von Kindheit an nichts anderes waren als Freunde, kam ich einfach nicht auf die Idee, dass sich daraus etwas anderes entwickeln könnte. Aber vermutlich war es sogar von Anfang an Liebe, nur ich bemerkte es nicht. Weil ich mich in merkwürdige Vorstellungen von idealer Ehe und idealem Partner verrannte. Ich sah nicht mehr, wie unvorhersehbar das Leben sein kann, sogar ein normales, skandalfreies.«

Er lächelte, dann legte er seine Stirn an ihre. »Was mich betrifft, so habe ich bereits vor langer Zeit erkannt, dass eine Ehe mit dir für genug Abenteuer und Aufregung bis ans Lebensende sorgt.«

»Bitte nicht zu viel Abenteuer und Aufregung«, erwiderte sie. »Wir brauchen auch ein paar ruhige Momente für Babys.«

»Unsere Babys«, hauchte er.

»Danke«, murmelte sie, »dass du nicht aufgehört hast, dich um mich zu bemühen.«

Ihre Küsse, mit denen sie dieses Versprechen besiegelten, waren voll süßen Verlangens, zärtlicher Leidenschaft … und Liebe.