Kapitel 4

Am nächsten Tag wäre Elizabeth lieber mit ihrer Mutter ausgegangen, anstatt wieder die Besuche diverser Verehrer über sich ergehen zu lassen, doch die Herzoginwitwe beschloss, zu Hause zu bleiben und sich selbst einen Eindruck zu verschaffen.

Ab drei Uhr begann erneut das Defilee der Gentlemen. Es überraschte sie, dass auch Thomas Wythorne ihr seine Aufwartung machte. Sie wechselte einen Blick mit ihrer Mutter.

Während einer nach dem anderen sich mit ihr unterhielt, schaute sie immer wieder zu ihm hinüber. Unter den Anwesenden nahm er als Sohn eines Duke den höchsten Rang ein, und zweifellos hätte ihm jeder den Vortritt gelassen. Doch er zog es anscheinend vor, den schön geformten Kamineinsatz zu bewundern, der bis zur Decke reichte, oder von Bild zu Bild zu wandern, als befände er sich in einem Museum.

Nach einer Weile bemerkte Elizabeth die Erschöpfung ihrer Mutter, die gerade erst eine schwere Krankheit überwunden hatte. »Ruh dich aus, Mama«, sagte sie und beugte sich vor. »Es sind nur noch ein paar Gentlemen da, und du hast bestimmt schon mit allen gesprochen.«

»Dieser Lord Thomas Wythorne ist wirklich sehr nett und aufmerksam.«

»Ja, das ist er«, erwiderte Elizabeth und schaute erneut in seine Richtung, wobei sie erst jetzt bemerkte, dass er sie mit einem leichten Lächeln um die Lippen beobachtete.

»Er überbringt mir immer Briefe von seiner Mutter.« In ihrer Hand lag ein gefalteter Bogen. »Ich werde auf mein Zimmer gehen und ihn lesen.«

Die anwesenden Herren verbeugten sich, als die verwitwete Duchess den Empfangssalon verließ. Nachdem die restlichen Besucher sich empfohlen hatten, blieb nur noch er. Während er langsam auf sie zukam, stellte sie fest, dass sie immer neugieriger wurde. Er blieb vor ihr stehen und sagte kein Wort, sondern musterte nur ihr Gesicht.

Fast schon nervös – was sie eigentlich sonst nie war – erklärte sie: »Ich bedaure es immer noch, dass wir gestern Abend keine Gelegenheit hatten, miteinander zu tanzen, Mylord. Ich hoffe, Sie konnten mir verzeihen.«

»Das habe ich, Mylady. Und mich damit zufriedengegeben, Sie aus der Ferne zu beobachten.«

Langsam ließ er seinen Blick von ihrem Gesicht zu ihrem Ausschnitt wandern. Sie wartete darauf, dass er sich selbst bei seinem ungehörigen Verhalten ertappte und korrigierte, aber das tat er nicht. Heiße Röte breitete sich angesichts dieser erniedrigenden Behandlung auf ihrem Gesicht aus, und sie wurde von einer leichten Unruhe erfasst.

»Lord Thomas?«, fragte sie kühl.

Er lächelte, als er ihr schließlich wieder in die Augen sah. »Sie sind ein ganz reizendes Geschöpf, Elizabeth.«

Elizabeth. Es stand ihm nicht zu, sie dermaßen vertraulich anzusprechen. »Geschöpf? Das ist nicht gerade das, was eine Dame hören möchte«, wies sie ihn zurecht.

»Ach, werden Sie immer noch wie eine Dame behandelt?«

Sie schluckte und erinnerte sich an Lord Dekkers Annäherungsversuche. Warum brachte Wythorne das jetzt zur Sprache?

»Sie sollten besser gehen.« Ihre Stimme hatte einen eisigen, hochmütigen Tonfall angenommen.

Er lachte leise und schaute über ihre Schulter hinweg zu den beiden betressten Lakaien, die neben der Doppeltür zur Eingangshalle standen. Er hielt ihr seinen Arm hin. »Lassen Sie uns ein wenig umhergehen. Mit welch schönen Kunstwerken dieser Raum ausgestattet ist.«

Sie wollte sich abwenden, fürchtete jedoch Schreckliches, wenn sie das tat. Und so blieb ihr nichts anderes übrig, als zitternd ihre Hand auf seinen Unterarm zu legen und sich von ihm zum anderen Ende des Raumes führen zu lassen, wo man durch hohe französische Fenster auf die Terrasse gelangte.

»Man wird uns draußen sehen können, sodass es nicht unschicklich ist«, meinte er. »Trotzdem ist man dort mehr unter sich.«

Was nicht ganz stimmte, denn in dem parkähnlichen Garten, der wenig an eine Stadtresidenz erinnerte, werkelten jede Menge Gärtner, allerdings tatsächlich außer Hörweite.

Er führte sie zur Balustrade. Sie nahm ihre Hand von seinem Arm und stützte sich mit beiden Händen auf den Marmorsims, als würde sie die Aussicht genießen.

»Was wollen Sie?«, fragte sie kalt.

Er wartete so lange, bis sie ihn wieder anschaute. Sein Lächeln verblasste: »Ich weiß über das Gemälde Bescheid.«

Sie atmete so heftig ein, als hätte man sie in den Magen geboxt. O Gott, dachte sie voller Inbrunst, umklammerte den Marmor und starrte mit brennendem Blick in den Garten. Sie hatte Angst, sich zu verraten, wenn sie ihm das Gesicht zuwandte.

»Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, sagte sie und wünschte, nicht gar so förmlich zu klingen. »Meine Cousine Susanna ist die Künstlerin in der Familie, nicht ich.«

»Nein, aber Sie sind das Modell. Ich muss gestehen, dass ich nicht von selbst auf die Idee gekommen bin. Ein Gentleman – wenn man die Bezeichnung in diesem Zusammenhang benutzen kann – hat es mir geflüstert. Er sagte, er hätte Miss Rebecca Leland genau den gleichen Schmuck wie auf dem Gemälde tragen sehen … Und weil das so ist, kann sie natürlich nicht das Modell sein, ebenso wenig wie ihre Schwester, diese alte Jungfer.«

Genau das gleiche Argument, das auch Peter vorgebracht hatte.

Sie versuchte sich herauszureden. »Ich weiß immer noch nicht …«

»Hören Sie auf, Elizabeth. Ist Ihnen eigentlich nicht klar, wo dieses Gemälde hängt und dass eine Menge Leute es tagtäglich sehen?«

Das erklärte endgültig die Geschichte mit Lord Dekker – er wusste es also ebenfalls. Wenn noch mehr Leute davon erfuhren, würde ihr Ruf ruiniert und das Ansehen ihrer Familie in Mitleidenschaft gezogen sein.

»Ich verstehe nicht, warum Sie sich in eine solche Situation begeben haben«, fuhr er fort, »aber ich weiß, dass Sie beschützt werden müssen.«

Sie holte bebend Luft, und sie überlegte, worauf er wohl hinauswollte.

»Ich kann dafür sorgen, dass die Gerüchte keine weiteren Kreise ziehen, dass Madingley nie die Wahrheit über seine Schwester erfährt. Unter der Bedingung allerdings, dass Sie mich heiraten.«

Sie sah ihn entsetzt an. Das also war der Preis. Sein durchdringender Blick ruhte auf ihr. Er verzog keine Miene, doch seine Augen glitzerten leicht. Empfand er ihre Zurückweisung als dermaßen demütigend, dass er nach der erstbesten Gelegenheit griff, sie zu zwingen? Zu bekommen, was er wollte? Das Gemälde hatte ihm direkt in die Hände gespielt.

»Sie heiraten?«, flüsterte sie, als würden die Worte für sie keinen Sinn ergeben.

»Ja, auch wenn Sie vor einem Jahr nicht sonderlich interessiert schienen.«

Eine gewisse Schärfe lag in seinen Worten und bestätigte ihre Vermutung, dass er die Zurückweisung überaus schlecht aufgenommen hatte.

»Wenn Sie mich heiraten«, fuhr er fort, »lösen sich all Ihre Probleme. Mein Name wird Ihnen Schutz bieten. Ganz zu schweigen natürlich von dem Vorteil für unsere beiden Familien. Kein Mensch würde es jedenfalls wagen, weiter Gerüchte in die Welt zu setzen.«

Panik machte sich breit, und ihre Furcht wandelte sich gleichermaßen zu Wut und Verzweiflung.

»Ich kann Sie nicht heiraten«, stieß sie fast atemlos hervor. »Ich bin bereits verlobt.«

Wie war sie bloß auf diese Lüge gekommen, fragte sie sich entsetzt. Wenn er nun vollends die Beherrschung verlor und allen die Wahrheit erzählte? Eine Verlobung bewahrte sie nur vor einer Heirat, nicht aber vor der Enthüllung des Geheimnisses und der Schande.

Es überraschte sie, als er spöttisch lachte. »Ich glaube Ihnen kein Wort. Ich habe nichts von einer Verlobung gehört, meine hochwohlgeborene Lady. Wir wissen doch beide, dass solch eine Neuigkeit schnell die Runde machen würde. So etwas ließe sich nicht geheim halten.«

»Aber die Verlobung ist geheim«, erklärte sie mit dem Mut der Verzweiflung. »Ich kann Ihnen nicht einmal den Namen meines Verlobten nennen, denn er muss noch mit meinem Bruder sprechen.« Eine durchaus plausible Erklärung, fand sie.

Thomas schüttelte den Kopf. »Ach, Elizabeth, Sie machen das Ganze zu einer interessanten Herausforderung. Das ist schön. Ich will Sie, doch meine Geduld währt nicht ewig. Falls es tatsächlich eine Verlobung gibt – was ich stark bezweifle –, würde ich vorschlagen, dass Sie dem armen Mann das Herz brechen.«

»Das kann ich nicht.«

»Natürlich können Sie – und Sie werden. Schließlich müssten Sie sonst zu Ihrem Bruder gehen und ihm beichten, wie Sie überhaupt in diesen Schlamassel geraten sind. Ich fürchte, er wird nicht begeistert sein, dass Sie für ein Aktgemälde posiert haben.«

Ihre Gedanken rasten. Er hatte recht. Leider. Niemand war da, den sie um Hilfe bitten und von ihren Problemen erzählen könnte. Außerdem war sie felsenfest davon überzeugt, dass bald Wythornes neuerlicher Antrag in den Salons die Runde machen würde. Und dann saß sie fest.

»Gehe ich recht in der Annahme, dass Madingley rechtzeitig zum Maskenball bei den Kelthorpes zurück sein wird?«

Sie brachte nur ein hilfloses Nicken zustande.

»Dann bleiben Ihnen also drei Wochen, um diese Angelegenheit zu regeln. Sie werden das Gemälde und Ihre Mitwirkung daran zwar nicht vor Ihrem Bruder geheim halten können, aber mit meiner Hilfe lassen sich diese Probleme sicher regeln. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um dafür zu sorgen, dass die Gerüchte nicht weitere Kreise ziehen. Das sicherste Mittel, ihnen die Nahrung zu entziehen, besteht jedenfalls darin, mich baldmöglichst zu heiraten.« Er legte einen Finger unter ihr Kinn und hob es. »Drei Wochen, Elizabeth, ich gebe Ihnen drei Wochen, um mich zum glücklichsten Mann auf Erden zu machen.«

Mit einem Lächeln auf den Lippen wandte er sich um, ging in den Salon zurück und verschwand. Elizabeth sank auf eine schmiedeeiserne Bank und vergrub das Gesicht in den Händen. Der Rest der Familie mochte diese Heirat begrüßen, sie nicht. Andererseits wollte sie natürlich nicht im Mittelpunkt eines Skandals stehen und ihrer Familie schaden.

Was sollte sie jetzt machen?

Konnte sie die nächsten drei Wochen so tun, als hätte sie einen Verlobten? Nur: Wer sollte das sein? Zudem wussten laut Thomas noch andere – vielleicht viele andere – von dem Gemälde, und es schien ihr fraglich, ob er sie überhaupt vor übler Nachrede schützen konnte. Vielleicht würde sie auch von anderer Seite unter Druck gesetzt.

Ihr musste einfach etwas einfallen, wie sie sich, ihren Ruf und ihre Familie schützen konnte.

Am Abend von Lady Marlowes Dinnerparty mit fünfzig geladenen Gästen hielt Peter Ausschau nach Elizabeth, doch eine Gelegenheit zu einem Gespräch unter vier Augen ergab sich erst nach dem Essen, als man sich im Salon zusammenfand.

Eigentlich hatte er sie zu Hause aufsuchen wollen, aber eingedenk des Versprechens an seine Mutter fühlte er sich verpflichtet, seine Schwester bei ihren diversen Besuchen zu begleiten, und musste feststellen, dass sie sich den anwesenden Herren gegenüber wirklich recht unhöflich benahm.

Mit ihr darüber zu reden, erwies sich zunächst als aussichtslos. Als er weiter in sie drang, erklärte sie schließlich, dass sie nicht vorhabe, sich in Abhängigkeit zu begeben, und dass weder er noch die Mutter sie zu einer Heirat zwingen könnten. Was war bloß aus seiner ausgeglichenen, freundlichen kleinen Schwester geworden?

Mary Anne hatte es abgelehnt, ihn zum Dinner am Abend zu begleiten, was ihm nur ganz recht war. Umso mehr konnte er sich auf Elizabeth konzentrieren. Zu seiner Erleichterung entdeckte er sie schließlich am anderen Ende des Salons mit Lucinda Gibson und deren Familie. Die Teppiche wurden gerade zusammengerollt, und eine kleine Kapelle stimmte die Instrumente für den bevorstehenden Tanz. Elisabeth stand neben William Gibson, und Peter ging fest davon aus, dass er sie auf die Tanzfläche führen würde.

Er sollte sich irren. Sie wirkte verärgert, wie er am heftigen Wippen ihres Fußes erkannte, doch Gibson schien es nicht zu bemerken. Dummkopf.

Peter blieb vor ihr stehen und verbeugte sich. »Guten Abend, Lady Elizabeth.«

Sie machte einen kurzen, flüchtigen Knicks, bevor sich ihr forschender Blick auf sein Gesicht richtete.

Fragend zog er die Augenbrauen hoch.

»Mr Derby.« Sie zog seinen Namen in die Länge, als würde sie über etwas nachdenken.

»Lady Elizabeth«, erwiderte er grinsend. »Darf ich um diesen Tanz bitten?«

Ohne auch nur einen Moment zu zögern, legte sie ihre Hand in seine. Überrascht, erfreut und argwöhnisch zugleich führte er sie auf die Tanzfläche. Die Kapelle spielte eine Quadrille statt des von ihm bevorzugten Walzers, und so führten die Tanzfiguren sie immer wieder auseinander und zusammen, wobei sie um andere Paare herumtanzen mussten, ehe sie sich wieder an den Händen fassen konnten.

Als sie sich gerade erneut trafen, raunte sie leise: »Ich muss mit dir unter vier Augen sprechen.«

Er lächelte. »Du weißt, dein Wunsch ist mir Befehl.«

Während sie noch die Augen verdrehte, wurden sie durch die nächste Tanzfigur bereits wieder getrennt. Mehrere Minuten später trafen sie im Kreis aufeinander, und sie flüsterte: »Ich wusste, dass du damit kein Problem haben würdest – wie ich hörte, bist du durchaus gelegentlich mit Frauen alleine. Damen von zweifelhaftem Ruf.«

Unschuldig riss er die Augen auf. »Elizabeth, ich habe keine Ahnung, wovon du redest. Du klingst ja fast eifersüchtig.«

Sie ignorierte seinen Versuch, sie aufzuziehen. »Wir treffen uns im kleinen Salon am anderen Ende des Flures.«

»Dort spielen die Männer Karten.«

»Verflixt.«

Erneut wurden sie voneinander getrennt, und er musste unwillkürlich über ihre Verärgerung grinsen. Sie schien ganz erpicht darauf, sich ungestört mit ihm zu treffen. Nur sie beide – ein erfreulicher Gedanke.

Als sie wieder zusammenkamen, sagte sie: »Die Bibliothek.«

»Wenn die belegt sein sollte«, sagte er, »könnten wir vielleicht in den Garten gehen.«

Sie warf ihm einen betrübten Blick zu.

»Elizabeth…«, setzte er an und runzelte die Stirn. Doch sie unterbrach ihn, ehe sie durch die nächste Tanzfigur voneinander getrennt wurden.

»Die Bibliothek«, wiederholte sie. »Du gehst zuerst hin und siehst nach, ob sie leer ist. Ich folge dir fünf Minuten später.«

Dann machte sie einen Knicks, er verbeugte sich, und sie verließen die Tanzfläche in entgegengesetzten Richtungen.

Peter wartete bereits in der Bibliothek neben der Tür, als sie hereinkam. Sie zuckte zusammen, aber er hielt nur schweigend einen Schlüssel hoch, und sie nickte. Nachdem er die Tür abgeschlossen hatte, lehnte er sich mit dem Rücken dagegen und musterte sie.

Von der ruhigen Anmut, die sie sonst ausstrahlte, war nichts zu sehen. Fahrig, ja rastlos umrundete sie die ledernen Ohrensessel und ließ ihre Blicke über die Regale gleiten, als suche sie nach einem Buch. Neugierig und trotzdem geduldig beobachtete Peter sie und wartete ab.

Schließlich holte sie tief Luft und drehte sich zu ihm um. Ihre dunklen Augen flammten vor wütender Entschlossenheit. Er näherte sich ihr mit wachsendem Unbehagen.

Als er nach ihren Händen griff, entzog sie ihm diese nicht. Ihre Haut fühlte sich zart und weich an, doch ihre Finger waren kalt.

»Elizabeth, sag mir, was los ist. Ich weiß schon seit mehreren Tagen, dass dich etwas beunruhigt, und ich kann nicht glauben, dass es nur wegen dieser Wette ist.«

Sie öffnete den Mund, zögerte, und dann strömten die Worte plötzlich wie ein Wasserfall über ihre Lippen. »Ich brauche deine Hilfe. Du musst in den nächsten paar Wochen so tun, als seist du mein Verlobter.«

Mit so etwas hatte er eindeutig nicht gerechnet. Verblüfft und besorgt zugleich spürte er nichtsdestotrotz Verlangen in sich aufsteigen. Er fragte sich, wie es sich wohl anfühlen würde, wenn sie wirklich verlobt wären. Aber das wollte sie leider nicht.

Was trieb sie bloß zu diesem Schritt.

Sie versuchte ihm ihre Hände zu entziehen. »Sag doch etwas, Peter!«

Er ließ sie nicht los, sondern meinte sanft: »Du kannst mir keinen Antrag machen, ohne mir zu sagen, warum.«

»Das ist kein Antrag! Kein richtiger«, fügte sie hinzu und ließ die Schultern hängen.

»Elizabeth …«

»Ich kann nicht darüber reden, Peter. Ich dachte, dass du mir um unserer Freundschaft willen helfen würdest.«

»Elizabeth …«

Wieder unterbrach sie ihn. »Und wenn das nicht reicht, schlage ich dir einen Handel vor. Wenn du bei der Scheinverlobung mitmachst und mir erlaubst, sie wieder zu lösen, sobald es nötig ist, werde ich dir die Wahrheit über das Gemälde verraten.«

Sie musterte ihn mit großer Eindringlichkeit, und Peter hatte den Eindruck, dass sie die Luft anhielt, während sie auf seine Antwort wartete. Etwas Dramatisches musste geschehen sein, und das wollte er herausfinden. Zum Teufel mit der Wette.

»Elizabeth, du kannst nicht ernsthaft davon ausgehen, dass ich bei einer so haarsträubenden Sache keine Fragen stelle.«

»Ich kann es dir nicht erklären, Peter. Mein einziges Entgegenkommen besteht darin, dass ich dir helfe, die Wette zu gewinnen. Was solltest du sonst noch wollen?«

Er zog ihre Hände hoch und drückte sie an seine Brust. »Elizabeth, das ist … verrückt. Willst du deiner Mutter etwa erzählen, dass wir verlobt sind? Oder deinem Bruder? Deinen Freunden? Warum solltest du so etwas tun?«

Sie schien weiterhin entschlossen, sich ihm nicht anzuvertrauen. War ihr denn nicht klar, dass sie gezwungen wären, noch engeren Umgang miteinander zu pflegen, falls er auf ihren verrückten Plan einging? Allerdings würde er dabei bestimmt die Wahrheit herausfinden und ihr irgendwie helfen. Peter, der Retter in der Not! Er lächelte und rieb ihre Finger sanft mit seinen Händen, um sie zu wärmen und zu beruhigen. Wieder entzog sie sich ihm, und dieses Mal ließ er sie gewähren.

»Peter, es fällt mir nicht leicht, dich darum zu bitten.« Sie wich seinem Blick aus. »Ich weiß, welche Auswirkungen das haben wird. Aber es ist eine vorübergehende Sache und wird keine Auswirkungen auf meine Familie haben. Doch wie ist es bei dir? Würde es dir etwas ausmachen, deine Familie zu belügen?« Er schwieg, dachte nach. »Oder gibt es eine Frau, der du gerade den Hof machst?«, fuhr sie fort.

Jetzt suchte sie seinen Blick, und er konnte reinen Gewissens erwidern, dass es niemanden gab: Was nur teilweise der Wahrheit entsprach. Denn eine war da, die ihm nicht mehr aus dem Kopf wollte, nämlich Elizabeth selbst.

»Und was ist mit den Frauen, von denen man so redet?«

Obwohl er lächelte, blieb seine Miene verkrampft. »Ach, das ist völlig belanglos, ein Spiel ohne Verpflichtungen.«

Sie nickte und wandte den Kopf ab. Nur in Zeiten der Trauer hatte er solch dunkle Schatten auf ihrem Gesicht gesehen. Mitgefühl drohte ihn zu überwältigen.

»Elizabeth, ich bin mir nicht sicher, ob du dir das alles wirklich gründlich überlegt hast. Wenn deine Familie das schlucken soll, müssen wir so tun, als seien wir plötzlich ineinander verliebt.«

Sie biss sich auf die Unterlippe und nickte.

»Und deine Mutter, wird sie es glauben?«

»Sie muss.« Sie sprach leise und wirkte irgendwie ängstlich.

Jahrelang hatte er sich gefragt, ob es wohl mehr als Freundschaft zwischen ihnen geben könnte, und jetzt bot sich ihm eine Möglichkeit. Wenn er den Handel mit der Scheinverlobung in seinem Sinne umzumünzen verstand, dann … Er wagte den Gedanken nicht zu Ende zu denken.

Er sprach langsam und betonte dabei jedes Wort. »Dir ist schon klar, dass wir aufs Ganze gehen müssen, wenn wir glaubwürdig sein wollen, nicht wahr?«

Die Erleichterung war ihr deutlich anzusehen. »Dann wirst du es also tun? Und dich als mein Verlobter ausgeben?«

»Ja, das werde ich.«

Sie runzelte die Stirn. »Wir müssen aufs Ganze gehen? Das weiß ich. Wir müssen lügen und den Menschen etwas vormachen.«

»Nun, darin hast du ja derzeit Übung.«

»Du wirst die Wahrheit erfahren, sobald du mir geholfen hast. Das ist es doch, was du willst, Peter, oder?«

»Ich mache keine halben Sachen. Um sie davon zu überzeugen, dass wir es mit der Heirat ernst meinen, wirst du alles tun, was ich sage, alles akzeptieren, was ich tue.«

Er ließ seinen Blick ganz unverhüllt über ihren Körper gleiten. Bislang hatte er sich nie etwas anmerken lassen, doch es lag etwas Schamloses und Aufregendes darin, ihr sein Verlangen jetzt in dieser Weise zeigen zu können.

Ihre Augen wurden ganz groß, und ein rosiger Schimmer überzog ihre Wangen. »Du brauchst mich nicht so anzusehen.«

»Wer würde mir sonst glauben?«

Er trat noch näher, so nah, dass er ihre zu schnellen Atemzüge spüren konnte.

»Alle werden denken, du hättest den Verstand verloren, für jemanden wie mich eine reiche Heirat mit einem Angehörigen des britischen Hochadels in den Wind zu schlagen«, meinte er mit leiser Stimme. »Der einzig logische Grund wäre eine Liebesheirat. Hast du darüber nachgedacht? Bist du dir auch sicher, dass du das wirklich durchziehen willst?«

Fast hätte er die letzte Frage gar nicht mehr gestellt, denn jetzt wollte er nur noch von der verbotenen Frucht kosten, die sich ihm so plötzlich anbot.

»Ich muss es tun«, flüsterte sie und schaute zu ihm auf.

Sanft strich er ihr erst eine Locke aus der Stirn, um dann seine Hand auf ihre Wange zu legen. Sie zitterte, wich aber nicht vor seiner Berührung zurück. Seine tapfere Elizabeth.

»Ich werde dich häufig berühren.« Seine Stimme klang jetzt ganz dunkel und rau. Er machte gar nicht den Versuch, vor ihr zu verbergen, welch eine Wirkung sie auf ihn hatte. »Ich werde dich anschauen, als hätte ich mir nie vorstellen können, je deine Liebe zu erringen.«

Sie zuckte zusammen und musste schlucken. »O Peter …«

Er strich mit dem Daumen über ihre Lippen. »Wenn du es den anderen glaubhaft vorgaukeln willst, wirst du dir mehr Mühe geben müssen, Elizabeth.«

Endlich kehrte die Entschlossenheit in ihren Blick zurück, und das machte ihn froh. Sie musste stark sein, um das, was immer ihr Sorgen bereiten mochte, zu regeln.

»Wenn du das für mich tust, werde ich dir ewig dankbar sein«, erklärte sie, und es klang fast wie eine Kampfansage.

Trotzdem zitterte sie nach wie vor. Weich strich er über die Haut ihrer Wange und fuhr dann an ihrer Unterlippe entlang.

»Keiner kann uns sehen«, wisperte sie. »Warum tust du das jetzt?«

»Weil ich dich künftig ganz anders sehen muss. Es ist wichtig, dass alle es mir ansehen, wenn ich meine Liebe zu dir gestehe.«

Wieder zuckte sie zusammen, aber er gab ihr keine Gelegenheit, etwas zu sagen. Er legte seine Hände auf ihre Oberarme.

»Du musst dich an meine Berührungen gewöhnen. Den Eindruck erwecken, als würdest du dir mehr wünschen, als dass ich nur deine Hand halte.«

»Oh, das könnte ich nicht«, rief sie und schaute sich schuldbewusst in der Bibliothek um, als würde jemand sie belauschen. »Das tut man doch bestimmt nicht.«

»Hast du jemals zwei Menschen beobachtet, die wirklich ineinander verliebt sind?«

Er sah, dass sie ernsthaft darüber nachdachte, und wusste, dass sie an ihren Cousin und ihren Bruder dachte. Gewiss beneidete sie diese Paare um die Liebe und die Hingabe, die sie an den Tag legten. Und das gegenseitige Vertrauen. Er hoffte, dass sie ihm bald die Wahrheit erzählte, was wirklich hinter dieser Scharade steckte.

Stattdessen schlang sie die Arme um seine Taille, schmiegte sich an ihn und schaute zu ihm auf. Nie hatte er die Gelegenheit gehabt, sie in den Armen zu halten, ihren Körper an seinem zu spüren, obwohl der Gedanke daran ihn in seinen Träumen gelegentlich heimsuchte. Ihre Brüste waren weich, rund und so verführerisch.

»Ist es so richtig, Peter?«, fragte sie mit einem leichten Beben in der Stimme. »Du wirst mir zeigen, wie ich es machen soll? Ich kann es mir nicht leisten, Fehler zu begehen.«

Was auch immer der Grund sein mochte – jedenfalls bot sich ihm eine unerwartete Gelegenheit. Mit etwas Glück konnte er sie dazu bringen, in ihm nicht nur den Freund zu sehen, sondern auch den Mann, der sie begehrte.

Er strich mit den Händen über ihre Schultern und ließ sie über ihren elegant geschwungenen Rücken nach unten gleiten, um sie noch enger an sich zu ziehen.

»Das ist ein guter Anfang, Elizabeth«, sagte er und beugte sich herunter zu ihrem Gesicht.

Je näher er kam, desto größer wurden ihre Augen, aber sie wich nicht zurück.

Er hielt in der Bewegung inne, kurz bevor ihre Lippen sich trafen. »Du hast noch so viel zu lernen.«

Dann trat er zurück, sperrte die Tür auf und verließ die Bibliothek.