Kapitel 22

Am Morgen ritt Peter zu den Gibsons, musste jedoch feststellen, dass William das Haus bereits verlassen hatte. Stattdessen begrüßte ihn Lucy, die sein Kommen bemerkt hatte. Sie lächelte ihn freundlich an, während sich der Butler mit einer Verbeugung zurückzog.

»Guten Morgen, Mr Derby! Habe ich es richtig verstanden, dass Sie meinem Bruder einen Besuch abstatten möchten?«

»In der Tat. Wissen Sie, wann er zurückkommen wird?«

Lucy grinste. »Er ist Ihretwegen fort, müssen Sie wissen.«

»Meinetwegen?«

»Seitdem er Sie kennengelernt hat, drehen sich alle seine Gedanken nur noch um Eisenbahnen. Er lässt nicht einmal seinen Sekretär Informationen einholen, sondern ist selbst zur Southern Railway gefahren, um sich nach Beteiligungsmöglichkeiten zu erkundigen. Dort erklärte man ihm, dass heute Vormittag ein Treffen neuer Investoren stattfindet. Und da ist er jetzt.«

Peter beugte sich über ihre Hand. »Danke, Miss Gibson.«

Als er sich zum Gehen wandte, rief sie: »Warten Sie, Mr Derby. Können Sie mir sagen, ob es bei Ihrem Besuch um Elizabeth geht?«

Seine Hand lag schon auf dem Türgriff, während er sie musterte. Er wusste, dass ihr das Glück der Freundin am Herzen lag, ob das nun ihren Bruder einbezog oder nicht. Trotzdem mochte er sich ihr nicht anvertrauen.

Er lächelte. »Es sieht so aus, als ob alles, was ich dieser Tage tue, mit Elizabeth zu tun hat, nicht wahr?« Er verbeugte sich und ließ sie mit verwirrtem Blick stehen.

In der kleinen Außenstelle der Southern Railway, deren Räumlichkeiten in der Speicherstadt von Londons West End lagen, befanden sich ein halbes Dutzend Männer, von denen einige bereits Platz genommen hatten, während andere sich noch unterhielten. Der Bürodiener hinter seinem Schreibtisch deutete mit dem Kopf auf die Tür zum dahinterliegenden Büro, als er Peter erblickte. Doch der schüttelte den Kopf und schaute sich im Raum um. Sobald Gibson ihn entdeckte, erhob er sich lächelnd und kam auf ihn zu.

»Guten Morgen, Mr Derby. Wie Sie sehen, bin ich Ihrem Rat gefolgt.«

»Und es war ein guter Rat, wenn ich so sagen darf. Lord Gibson, würden Sie wohl mit nach draußen kommen, damit wir uns unter vier Augen unterhalten können?«

Gibsons Lächeln blieb genauso strahlend wie zuvor, als er Peter durch die Tür in den schmalen, nur schwach beleuchteten Flur folgte.

»Mylord«, erklärte Peter. »Es geht um eine sehr persönliche Angelegenheit, aber ich habe das Gefühl, dass ich Sie darüber in Kenntnis setzen sollte.«

»Ja, Mr Derby?«, fragte er, während sein Lächeln eine Spur blasser wurde.

»Sie wissen, dass ich mit Lady Elizabeth Cabot verlobt bin. Es gestaltet sich … nun, etwas schwieriger, als ich am Anfang angenommen habe. Es gibt da ein paar Probleme, und ich bin mir nicht sicher, ob wir sie werden lösen können.«

Gibson räusperte sich. »Tut mir leid, das zu hören. Ich danke Ihnen, dass Sie es gerade mir anvertrauen …«

»Es geht nicht darum, dass ich jemanden unbedingt ins Vertrauen ziehen will«, erwiderte Peter. »Tatsache ist einfach, dass Sie etwas wissen müssen, das ich gerade erst selbst herausgefunden habe. Lady Elizabeth ist Ihnen seit langer Zeit herzlich zugetan. Und ich glaube, sie hat sich mir nur deshalb zugewandt, weil Sie keinerlei Interesse an ihr zeigen.«

Gibsons Augen wurden ganz schmal, und eindringlich musterte er Peter. »Warum erzählen Sie mir das?«

»Weil ich will, dass sie glücklich ist.«

»Ich habe nicht das Gefühl, dass es richtig wäre, ihr den Hof zu machen, obwohl sie verlobt ist«, meinte Gibson langsam.

»Dann sind Sie an ihr interessiert?«, fragte Peter, während sich sein Magen schmerzlich zusammenkrampfte.

»Natürlich. Nachdem ich mich entschieden habe, Ihrem Beispiel zu folgen und in die Eisenbahn zu investieren, würde so eine große Mitgift bestimmt sehr hilfreich sein.«

Er musste alle Kraft aufbieten, um dem Narren nicht ins Gesicht zu schlagen. Wie konnte Gibson Geld wichtiger sein als diese wundervolle, außergewöhnliche Frau?

»Sie müssen das ja nicht ganz offiziell tun.« Peter bemühte sich sichtlich, seine Wut zu unterdrücken. »Aber besuchen Sie sie doch, gratulieren Sie ihr zur Verlobung. Finden Sie heraus, ob sie glücklich ist oder nicht. Verbringen Sie beim nächsten gesellschaftlichen Ereignis ein bisschen Zeit mit ihr.«

»Und das würde Ihnen nichts ausmachen?«

»Sie muss ihre eigene Entscheidung treffen. Damit kann ich eher leben als mit der Vorstellung, sie unglücklich zu sehen.«

Gibson musterte ihn. »Sie sind ein ungewöhnlicher Mensch, Derby. Es gibt nicht viele, die sich ein derartig warmes Plätzchen in einem herzoglichen Haushalt und den damit verbundenen Reichtum entgehen lassen würden.«

William Gibson würde es nie begreifen, dachte Peter, als er sich von ihm verabschiedete.

Als Elizabeth nach ihrer Liebesnacht am Morgen erwachte, kam es ihr seltsam vor, alleine in ihrem Bett zu sein. Ohne Peter. Ihre Träume waren erfüllt gewesen von Erinnerungen an träge Zärtlichkeiten, an sanfte Küsse und Liebesschwüre.

Gleichzeitig wusste sie, dass er entschlossen war, trotzdem ihre verabredeten Pläne durchzuziehen und die Verlobung zu lösen, damit sie alles noch einmal ohne äußeren Druck überdenken konnte.

Sie war aufgewühlt und verwirrt und hätte gerne mit jemandem darüber geredet. Aber sie konnte Lucy – oder, Gott behüte, gar ihrer Mutter – nicht gut davon erzählen, was sie mit Peter getan hatte. Also verhielt sie sich so, als sei es ein Tag wie jeder andere – und als würde sie nicht etwas schmerzhaft die Folgen ihres nächtlichen Treibens spüren.

Sie war verwundert und überrascht, als am Nachmittag der Besuch von William Gibson angekündigt wurde. Früher einmal hätte diese Nachricht sie sprachlos vor freudiger Erwartung und ganz schwindelig gemacht, aber jetzt war sie nur neugierig, denn immerhin war es das erste Mal, dass er ihr ohne die Begleitung von Mutter oder Schwester seine Aufwartung machte. Im Grunde verhielt es sich sogar so, dass er eher widerwillig mitgeschleift werden musste. Woher also dieser Sinneswandel?

Ihre Mutter, die ihr gerade Gesellschaft leistete, schien ebenfalls mehr als verwundert. Mit gerunzelter Stirn sah sie ihre Tochter an. »Was mag das bedeuten? Ob es mit Lucy zu tun hat?«

»Ich weiß nicht, Mama, eher nicht. Ich bin genauso überrascht wie du.«

Als William in den großen Salon geleitet wurde, meldete der Butler der Madingleys gleichzeitig eine Besucherin für die Herzoginwitwe an, die sich daraufhin erhob, Gibson nur kurz begrüßte und den Raum verließ.

»Lady Elizabeth«, sagte William und beugte sich über ihre Hand.

»Lord Gibson«, erwiderte sie förmlich und knickste kurz. »Was verschafft mir die Ehre?«

Als sie ihn aufforderte, Platz zu nehmen, bemerkte sie, dass er sie in einer völlig anderen und ungewohnten Weise anschaute.

»Schönes Wetter heute«, sagte er.

Sie sah ihn erstaunt an wegen dieser unbeholfenen Gesprächseröffnung. »Ach, hat sich der Nebel verzogen?«

»Oh. Ist mir wohl nicht aufgefallen.«

»Anscheinend nicht.«

Er klopfte mit den Fingern auf sein Knie.

»Hat dir die Oper letzte Woche gefallen?«, fragte sie. Offensichtlich musste sie irgendein Thema anschneiden, damit überhaupt eine Unterhaltung in Gang kam.

Er zuckte die Achseln. »Das Italienische ist nicht so meine Sache.«

»Hast du nicht mal an der Universität Kurse belegt?«

Er schüttelte den Kopf. Dann holte er tief Luft. »Was gefällt dir eigentlich sonst noch – außer der Oper, meine ich?«

Das war schon besser. »Reiten. In letzter Zeit bin ich ein paarmal mit Mr Derbys Schwester ausgeritten.«

»Ich mag Pferde«, sagte er und lebte auf, »besonders, wenn ich auf sie setze. Welche Gemeinsamkeiten haben wir sonst noch?«

»Lesen?«

Er schüttelte den Kopf. »Kann mich nicht konzentrieren. Bin lieber draußen oder beschäftige mich irgendwie anderweitig.«

War Lesen keine Beschäftigung, dachte sie nachsichtig, aber sie kannte ihn schließlich. William hatte nie sonderlich viel mit Büchern im Sinn gehabt. »Ich engagiere mich bei mehreren Wohltätigkeitsorganisationen«, sagte sie.

»Wie schön. Frauen sollten immer helfen.«

Es überraschte sie, wie schwierig es war, ein Thema zu finden, das sie beide interessierte. Er wirkte so jung. Wieso war ihr das eigentlich nicht früher aufgefallen?

Plötzlich stellte sie fest, dass sie ihn ständig mit Peter verglich. Zu seinem Nachteil.

Nach den üblichen fünfzehn Minuten, die ein Höflichkeitsbesuch zu dauern pflegte, erhob er sich, beugte sich über ihre Hand und sah sehr zufrieden mit sich aus. Er lächelte sie an, und in diesem Moment erkannte sie, dass in seinen Augen genau jenes Interesse lag, das sie sich seit Jahren so brennend gewünscht hatte.

Nur dass es ihr mittlerweile völlig egal war. Was sollte sie noch mit William Gibson?

Sie sah Peter erst am Nachmittag des nächsten Tages bei einem Picknick in den Gärten des Stadthauses der Marchioness von Cheltenham wieder. Allein bei seinem Anblick, wie er da auf der anderen Seite des Rasens stand, stockte ihr der Atem, und übermächtig tauchten die Bilder ihrer gemeinsamen Nacht vor ihrem inneren Auge auf. Es war schließlich das erste Mal, dass sie sich seitdem wiedersahen. Sie hatte befürchtet, mit Verlegenheit zu reagieren, doch nichts davon. Was sie verspürte, waren neuerlich ein machtvolles körperliches Verlangen und der sehnliche Wunsch, von ihm berührt zu werden.

Er sah so attraktiv aus, so liebenswürdig und rundherum begehrenswert. Auch wenn sie ihn freudigen Herzens umgebracht hätte, weil er in der vergangenen Nacht nicht zu ihr gekommen war.

Die anderen Gäste bedachten sie erneut mit mitleidigen Blicken oder schüttelten den Kopf, aber Elizabeth war es gleichgültig, oder sie nahm es erst gar nicht zur Kenntnis. Wenn die wüssten, dachte sie. Für sie zählten nur Peter und die Liebe, die er ihr gab.

Ihre Schwägerin Abigail kam zu ihr herübergeschlendert, um seelischen Beistand zu leisten. »Ich habe bemerkt, dass irgendetwas nicht stimmt«, flüsterte sie, während sie unauffällig in Peters Richtung schaute. »Ach, Elizabeth, das ist alles so furchtbar!«

»Bitte mach dir keine Sorgen«, erwiderte Elizabeth. »Ich verspreche dir, dass sich alles regeln wird.«

Leider war es dann jedoch nicht Peter, der ihr die meiste Aufmerksamkeit schenkte, sondern William. Peter benahm sich zwar höflich-korrekt, dabei sehr reserviert, und obwohl sie sich immer wieder sagte, dass sie es exakt so besprochen hatten, schnürte bittere Enttäuschung ihr die Brust zusammen. Sie überfiel mit einem Mal eine schreckliche Angst, das alles könnte echt sein.

Und dann noch William. Nicht nur dass er sie ohnehin mit einem ungewöhnlichen Maß an Aufmerksamkeit überhäufte – nach dem Essen forderte er sie gar noch auf, beim Krocket als seine Partnerin zu fungieren. Selbst Abigail verdrehte die Augen.

»Tu du dich bitte mit Peter zusammen«, drängte Elizabeth sie. »Dann könnt ihr gegen uns spielen.«

Bald darauf waren alle vier mit Schlägern und Holzkugeln ausgestattet und folgten einem Parcours aus kleinen Eisentoren, der auf dem weitläufigen Rasen gesteckt worden war. William schien weder großes Interesse noch sonderlichen Ehrgeiz mitzubringen, wollte sich lieber über seine Investitionen bei der Eisenbahn unterhalten. Das machte sich bemerkbar, denn Peter und Abigail waren ganz bei der Sache und brauchten viel weniger Schläge, um ihre Kugeln durch die Ringe zu bugsieren. Elizabeth selbst konnte Williams mangelnde Konzentration nicht wettmachen, und so blieb ihnen eindeutig das Nachsehen. Am liebsten hätte sie ihn »ganz aus Versehen« mal mit dem Schläger irgendwo getroffen, wo es richtig wehtat.

Jedes Mal, wenn Peter an der Reihe war, verschlang sie seinen Körper mit ihren Blicken und erinnerte sich daran, wie er sich auf ihr und in ihr bewegt hatte. Warum bloß zerrte er sie nicht einfach hinter einen der zahlreichen Büsche – schließlich war das unübersichtliche Gelände hier geradezu prädestiniert für heimliche Schäferstündchen. Und bestimmt würde Abigail wissen, was sie zu tun hatte, wenn sie mit Peter plötzlich verschwand. Sie war sich sicher, dass ihre Schwägerin das verstand.

Leider geschah nichts dergleichen, und sie mussten ihre Partie zu Ende spielen. Peter und Abigail schlugen sie haushoch und traten dann gegen die nächsten Herausforderer an. William hingegen zog es vor, sich mehreren jungen Männern anzuschließen, die angeblich schrecklich Wichtiges mit ihm zu bereden hatten. Laut lachend zogen sie davon, während Elizabeth sich missmutig mit der Rolle der Zuschauerin begnügte. Nein, dieser Nachmittag war ganz und gar nicht nach ihrem Geschmack.

»Lady Elizabeth?«

Mit einem Ruck drehte sie sich um und sah Thomas Wythorne neben sich stehen, der ebenfalls das Spiel beobachtete. »Ich wusste gar nicht, dass Sie hier sind«, meinte sie.

»Ich bin spät eingetroffen.«

Als er kein Gespräch mit ihr anfing, sah sie ihn neugierig an. Gar keine unterschwelligen Drohungen bezüglich ihrer Verlobung?

Er begegnete ihrem Blick und sagte: »Ich möchte mich für mein Verhalten entschuldigen.«

Sie sah ihn mit großen Augen an. Das war nun wirklich das Letzte, was sie erwartet hätte.

Er wirkte irgendwie beschämt, fand sie. »Meine Wut darüber, abgewiesen worden zu sein, war zu groß für mich, und ich wollte das nicht akzeptieren«, sagte er, den Blick dabei zu Boden gerichtet.

»Und deshalb mussten Sie mich bestrafen«, meinte sie mit leiser Stimme.

Sein Blick war offen und ehrlich, als er sie anschaute, ohne jede Spur von Spott oder Sarkasmus, die sonst typisch für ihn waren. »Ich redete mir ein, dass Sie im Unrecht seien und eine Ehe zwischen uns die perfekte Verbindung wäre.«

»Und das, was Sie wollen, bekommen Sie in der Regel, sagt man.«

Er stieß einen Seufzer aus. »Ich habe nicht darüber nachgedacht, wie sehr ich Sie damit verletzte, und das ist erbärmlich. Vielleicht hat das Gemälde mein Urteilsvermögen getrübt, was einige Männer bestimmt gut verstehen können«, fügte er hinzu.

Er schien um einen lockeren Ton bemüht, der jedoch aufgesetzt klang und nicht seiner Gemütsverfassung entsprach.

»Sie wissen überhaupt nichts über dieses Gemälde oder was es für mich bedeutet«, erklärte sie ruhig.

»Das stimmt. Aber niemand wird je eine Silbe von mir darüber erfahren. Ich gebe Ihnen mein Wort.«

»Was ist mit dem Mann, der es Ihnen erzählt hat?«

Er zuckte zusammen und gestand: »Es gibt keinen anderen – ich habe es selbst herausgefunden. Als Einziger.«

Verblüfft sah sie ihn an und stotterte: »Ich dachte … Ich meine, Sie haben etwas anderes erzählt?«

»Das geschah, damit Sie glaubten, Sie würden meinen Schutz brauchen. Und dass nur ich Sie vor einem Skandal bewahren könnte. Es war niederträchtig und gemein von mir, ich weiß.«

Sie hatte sich so viele Gedanken gemacht, wer wohl von dem Gemälde wusste, und dabei bereits Gespenster gesehen. Sogar der einfältige Lord Dekker, der bloß ein wenig über die Stränge schlagen wollte, war in Verdacht geraten, das Gemälde als Freibrief für unangemessene Annäherungen zu nehmen.

»Es war für mich immer so leicht, alles zu bekommen, was ich mir in den Kopf setzte«, fuhr Thomas mit leiser Stimme fort, »und dann erteilten Sie mir eine Lektion, die ich nicht begreifen wollte.«

»Es ist in Ordnung, ich kann Ihnen verzeihen. Der Himmel weiß, dass ich selbst unzählige Fehler begangen habe.«

»Und Sie werden mit Mr Derby glücklich sein?«, fragte er.

Überrascht stellte sie fest, dass er besorgt klang. »Ich werde alles dafür tun, was in meiner Macht steht«, erwiderte sie in entschlossenem Tonfall. »Mehr kann kein Mensch geben.« Dann sah sie ihn plötzlich durchdringend an. »Ich hoffe nur, dass Sie Ihre Lektion auch wirklich gelernt haben. Was passiert etwa, wenn eine gewisse Dame Sie abweist?«

»Ich nehme an, Sie meinen Miss Derby«, stellte er trocken fest. »Wie man hört, sind Sie mittlerweile ihre Vertraute.«

Freude wallte bei diesen Worten in Elizabeth auf. Hatte Mary Anne ihm das erzählt?

»Ich kann nur hoffen, dass mir dieses Privileg wirklich zukommt. Aber Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet.«

Er dachte einen Moment lang nach. »Miss Derby legt es ziemlich darauf an, Männer wissen oder glauben zu lassen, dass sie eine starke Person sei.«

Elizabeth sah ihn verblüfft an und staunte über sein Wahrnehmungsvermögen.

»Nur scheint sie mir unter der rauen Schale sehr zart und zerbrechlich zu sein«, fuhr er fort. »Ich finde diesen Gegensatz sehr anziehend, weiß allerdings nicht, ob das als Basis für eine Beziehung reicht. Ich verspreche, sie nicht bewusst zu verletzen, nur garantieren kann ich es nicht, weil ich sie nicht völlig einzuschätzen vermag.«

»Keiner kann jemals Garantien geben«, erwiderte Elizabeth traurig und dachte daran, dass sie Peter ebenfalls nicht hatte verletzen wollen. Trotzdem war es passiert, und sie gab sich dafür die Schuld. Nicht weil sie es absichtlich tat, sondern weil es aus Leichtsinn geschah. Aber machte das einen Unterschied?

»Dann werden Sie mir den Umgang mit ihr also nicht verwehren?«, fragte er überrascht.

»Es ist nicht an mir, Ihnen irgendetwas zu untersagen.«

»Trotzdem danke. Ihre mahnenden Worte werden mir in Erinnerung bleiben.«

»Wir werden sehen«, meinte sie trocken. »Allerdings kann ich nicht für Peter und seine Familie sprechen.«

»Natürlich nicht. Mr Derby hat mir bereits sehr deutlich zu verstehen gegeben, was er von mir denkt.«

Schnell richtete sie ihren Blick auf ihn. »Was heißt das?«

»Er hat es Ihnen nicht erzählt? Vor ein paar Tagen lieferten wir uns einen stürmischen Fechtkampf, bei dem ich eindeutig unterlag. Er machte mir unmissverständlich klar, dass es dabei um Ihre Ehre ging, und warnte mich davor, Ihnen je wieder zu nahe zu treten. Eine Demonstration ritterlicher Tugend wie aus einem mittelalterlichen Lehrbuch.«

Zärtliche Gefühle stiegen warm in ihr auf. »Wie schön.«

»Ich dachte mir, dass Sie das so sehen würden.« Seine Lippen verzogen sich zu einem leicht sarkastischen Grinsen. »Wenn ich seiner Schwester weiterhin den Hof mache, wird es schwer sein, ihn für mich zu gewinnen. Ich sehe das als ehrenvolle Aufgabe. Guten Tag, Lady Elizabeth.«

Dann verbeugte er sich und ging davon. Fast hätte sie ihm mit offenem Mund hinterhergeschaut. Eine seltsame Freude erfüllte sie, dass sie nicht die Einzige war, die in dieser verfahrenen Situation etwas gelernt hatte.

Sie holte tief und befreit Luft, als würde nach Wochen endlich kein Gewicht mehr bleischwer auf ihrer Brust liegen. Es gab keine Drohungen mehr, die wie eine schwarze Wolke über ihrem Kopf hingen, denn dass er nichts ausplaudern würde, das glaubte sie ihm aufs Wort. Das Gemälde würde also weiterhin ein Geheimnis bleiben, das sie nur mit Susanna und Rebecca teilte – und den drei Männern, die es zum Gegenstand einer Wette gemacht hatten.

Und damit war sie zugleich befreit von der Notwendigkeit, zu lügen und andere zu manipulieren. Jetzt musste sie Peter bloß noch zu der Einsicht bringen, dass sie bereit war, den nächsten Schritt zu tun. Mit ihm. Und ihn davon überzeugen, dass sie ihm vertraute. Alles andere sollte endlich Vergangenheit sein, damit sie neu und unbelastet beginnen konnten. Vor allem aber musste er daran glauben, dass sie ihn liebte und keinen anderen.

»Elizabeth?« Lucy kam auf sie zugeeilt und riss sie aus ihren Gedanken. »War das Thomas Wythorne, mit dem du dich gerade unterhalten hast? Du warst in letzter Zeit häufiger mit ihm zu sehen.«

»Wir haben uns nur unterhalten, sonst nichts«, erwiderte sie lächelnd.

Lucy nahm ihren Arm, und gemeinsam entfernten sie sich auf einem mit Kies bestreuten und von Rhododendren gesäumten Weg von den anderen Gästen. »Ich kann es nicht fassen, dass ich das jetzt sage: Es scheint, dass dein Plan endlich Erfolg zeitigt.«

»Welcher Plan?«, fragte Elizabeth ironisch.

»Den du geschmiedet hast, damit mein Bruder auf dich aufmerksam wird natürlich! Er hat mir erzählt, dass er dich gestern besucht hat.«

»Stimmt«, gab Elizabeth vorsichtig zu.

Sorge und Argwohn stiegen in ihr auf. Was hatte das jetzt wieder zu bedeuten? Und wie sollte sie Lucy erklären, dass die ganze Sache mit ihrem Bruder ein fataler Irrtum war, eine dumme, verblendete Schwärmerei?

»Aber, Lucy…« Bestürzt verstummte sie.

Lucy musterte sie, und ein wissender Ausdruck breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »Darüber habe ich mir immer Sorgen gemacht.«

»Worüber?«

»Dass es zwischen dir und William absolut keine Gemeinsamkeiten gibt. Ich habe recht, nicht wahr? Ich kenne euch beide zu gut.«

»Und warum hast du dann nie etwas gesagt?«, fragte Elizabeth leicht empört.

»Weil du mir nicht geglaubt hättest.«

Elizabeth fing an zu lachen und umarmte ihre Freundin. »Kein bisschen. Das musste ich wohl ganz alleine herausfinden.«

»Also, wer ist nun derjenige, mit dem du alles hast teilen können, Elizabeth? Sag die Wahrheit.«

»Peter. O Lucy! Es ist Peter. Allerdings habe ich ihn ganz schrecklich behandelt! Und außerdem gab es Dinge, die wir nicht voneinander wussten oder immer noch nicht wissen …«

»Stellen sie denn für dich einen ernsthaften Hindernisgrund dar?«

»Nein, überhaupt nicht. Glaubst du, William wird jetzt verletzt sein?«

»Ach was, er hat dir schließlich nicht öffentlich den Hof gemacht und wurde von dir nicht abgewiesen. Sobald er sieht, dass du mit Peter glücklich bist, wird er es begreifen.«

Elizabeth bemühte sich, ein zuversichtliches Lächeln aufzusetzen. Wenn sie das nächste Mal mit Peter alleine war, musste sie ihn dazu bringen, endlich zu verstehen.

Aber er kam auch an diesem Abend nicht, und eine schmerzhafte Unruhe erfasste sie. Sie fühlte sich nicht mehr vollständig ohne ihn. Es schien, als ob ihr Körper mehr ihm als ihr selbst gehören würde.