Kapitel 16
Am Abend promenierte Peter in der Pause mit Elizabeth am Arm durch die Gänge des imposanten Royal Italian Opera House mit seinen schönen Deckengemälden und den riesigen Kronleuchtern, die über der breiten Treppe hingen. Hier kam man hin, um zu sehen und gesehen zu werden.
Wer würde Elizabeth nicht anschauen? Sie trug ein Kleid aus blau-weiß gestreifter Seide und sah hinreißend aus. Der tiefe Ausschnitt ließ die alabasterfarbenen Schultern und den Ansatz ihres Busens frei. Es kostete Peter große Überwindung, seine Finger von ihr zu lassen. Er hatte gestern Abend nicht annähernd genug von ihr bekommen – und angesichts ihres freundlich-zurückhaltenden Benehmens befürchtete er, dass es eine Wiederholung heute nicht gab.
Trotzdem war ihr Blick, als sie ihn begrüßte, ganz weich, und das bewies ihm, dass sie sich auf das Wiedersehen mit ihm freute, obwohl sie vermutlich das Alleinsein mit ihm meiden würde. Er musste sich eben gedulden.
Allerdings reagierte sie leicht gereizt und überempfindlich, wenn Opernbesucher sie entweder missbilligend oder mitleidig musterten und damit ihr Unverständnis zum Ausdruck brachten, wie man sich nur so unter Stand hergeben konnte. Vielleicht begann auch die Scharade, die sie selbst inszeniert hatte, an ihren Nerven zu zerren.
»Am liebsten würde ich all diesen Leuten sagen, dass sie sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern sollen«, schäumte sie.
»Liebste, das ist ihre Angelegenheit. Du bist eine von ihnen und ich nicht.«
»Ich bin nicht mit der Vorgabe erzogen worden, dass man von mir einen Titelträger als Ehemann erwartet. Auch nicht dass ich ohne Liebe heirate, einen guten Freund etwa, und darauf hoffe, dass sich alles andere schon noch einstellt.«
Da Peter nicht wusste, ob sich das auf ihn bezog, ging er nicht direkt darauf ein. »Warum möchtest du denn nicht, dass dein Ehemann zugleich dein Freund ist? Willst du denn nicht gut mit ihm auskommen?«
»Gut miteinander auskommen ist etwas anderes, als jemandem seine Träume und Geheimnisse anzuvertrauen. So hat es bei meinen Eltern angefangen. Das Gut-miteinander-Auskommen kam später hinzu, nicht umgekehrt.«
War diese verrückte Philosophie der Grund, warum sie ihn überhaupt nie in Betracht gezogen hatte? Er wusste es nicht, raunte ihr nur heiser ins Ohr: »Ich werde dafür sorgen, dass du dich nach mir sehnst.«
»Du weißt, dass ich nicht das meine, sondern die eheliche Liebe, und die ist etwas sehr Zartes und Romantisches.«
»Und das weißt du aus eigener Erfahrung?«
»Ich habe mich informiert.«
»Und was wir gestern Abend miteinander gemacht haben …?«
»Ist nicht das Gleiche«, beharrte sie, während sie seinem Blick auswich.
»Indem du die Leidenschaft leugnest, willst du so tun, als spielte sie keine Rolle und hätte dir nicht eine Seite von dir offenbart, die du bislang nicht kanntest.«
»Es war die falsche Art Leidenschaft«, presste sie zwischen den Lippen hervor. »Unkontrolliert.«
»Wild.«
Ihre Finger bohrten sich in seinen Arm. »Lass uns nicht mehr darüber reden.«
Er beugte sich ihrem Wunsch, weil sie sich in der Öffentlichkeit befanden, aber für ihn war das Thema keineswegs erledigt.
Als der Gong zum zweiten Akt rief und sie zur Privatloge der Madingleys zurückkehrten, hörte er eine Frau »Elizabeth!« rufen.
In der Menge entdeckte er Lucinda Gibson und ihren Bruder, den Baron. Kurz huschte ein verwirrter Ausdruck über Elizabeths Gesicht.
Sofort glitt sein Blick zu dem Mann an Lucys Seite, und er unterzog ihn einer eingehenden Musterung. Mehrere Jahre jünger als er, groß und blond und grünäugig, sah er aus wie ein nordischer Gott. Seine Blicke wanderten suchend über die Besucherschar, als würde er nach jemandem Ausschau halten.
Obwohl er sie kaum beachtete, behielt Elizabeth ihr freundliches Lächeln bei, und in dem Moment wusste er es. Dies war der Mann, mit dem sie ihre Zukunft teilen wollte – und ihren Körper. Peters Gegner in jenem Krieg, der seit Menschengedenken geführt wurde, ohne dass Gibson etwas davon zu ahnen schien.
»Gefällt dir Benvenuto Cellini?«, fragte Lucy. Dann kicherte sie. »Ich habe die richtige Aussprache lange geübt.«
Peter nickte dem Baron zur Begrüßung zu. »Gibson«, sagte er.
Lucy schaute rasch, fast schon besorgt zwischen den beiden Männern hin und her. Sie wusste es also, dachte Peter. Natürlich. Schließlich war Gibson ihr Bruder und Elizabeth ihre beste Freundin.
Der junge Mann verbeugte sich und grinste dann. »Derby, ich habe viel über Ihren Erfolg bei der Eisenbahn gehört.«
»Danke.«
»Ich würde gerne mehr zu diesem Thema erfahren.«
»Jederzeit. Gehören wir nicht demselben Club an?«
»Stimmt. Wir können uns dort unterhalten.«
Der Club war keine gute Idee gewesen, fiel es Peter mit Schrecken ein. Und prompt bekam er die Bestätigung.
Gibson grinste jetzt. »Das ist ein Ding, dieses Gemälde, das da neuerdings hängt, oder was meinen Sie?«, sagte er anzüglich und versetzte ihm einen Rippenstoß.
Peter betete, dass Elizabeth nichts davon mitbekam. Allerdings glaubte er nicht, dass der junge Narr die Wahrheit kannte, sonst hätte er das Thema kaum hier zur Sprache gebracht. Zum Glück, denn ansonsten würde er Elizabeth bestimmt sehr viel mehr Aufmerksamkeit schenken. Genau das, was sie von ihm wollte.
Peter warf ihr einen kurzen Blick zu, und obwohl sie ein bisschen blass wirkte, bewahrte sie Haltung, als sei sie daran gewöhnt, von Gibson übersehen zu werden. Wie konnte der Mann überhaupt andere anschauen, wenn sie so exotisch und verführerisch direkt vor ihm stand?
Auch wenn er seinen Gegner nun kannte, blieb die Sache problematisch und völlig widersprüchlich. Obwohl Elizabeth leidenschaftlich und rückhaltlos auf seine Zärtlichkeiten reagierte, behauptete sie den anderen zu lieben, weil diese beiden Dinge für sie nicht zusammengehörten und weil sie Angst hatte, die Kontrolle zu verlieren. Und noch wusste er keinen Weg, wie er sie von diesem falschen Weg weglocken sollte und sie dazu bringen konnte, ihre Gefühle zu akzeptieren. Es blieb ihm nichts anderes, als so viel Zeit wie möglich mit ihr zu verbringen und zu hoffen, dass sie irgendwann merkte, zu wem sie gehörte.
Elizabeth hatte das Gefühl, als sei ihr Gesicht zu einer regungslosen Maske erstarrt, während in ihrem Kopf panisch ein Gedanke den nächsten jagte. Sie hatte gewusst, dass Peter und William sich irgendwann begegnen würden, aber nicht damit gerechnet, dass ihr heimlicher Schwarm ihrem Freund und Liebhaber mehr Aufmerksamkeit schenkte als ihr. Beinahe wäre sie in hysterisches Gelächter ausgebrochen über diese Laune des Schicksals.
Sie begann die beiden Männer zu vergleichen. Anders als Peter, der sich immer sehr um andere sorgte – um sie, seine Schwester, seine Mutter –, schien William allein auf seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse konzentriert. Wie die meisten Männer, dachte sie, nur war ihr das früher nicht aufgefallen. Sie hatte immer geglaubt, William verändern zu können, doch als sie ihn jetzt beobachtete, während er sich mit Peter unterhielt, empfand sie Gereiztheit und Enttäuschung.
Und dann sprach er sie tatsächlich an. Sie lächelte. »Entschuldigung, William, was hast du gerade gesagt?«
»Könnte ich mich unter vier Augen mit dir unterhalten? Meine neugierige Schwester soll nichts mitbekommen. Es ist eine Überraschung.«
Lucy verzog das Gesicht, als sei sie beleidigt, aber Elizabeth merkte, dass es nur gespielt war. Sie fragte sich, ob Lucy wohl in eine bestimmte Richtung dachte, aber das konnte sie sich bei William Gibson eigentlich nicht vorstellen. Nicht mehr.
Während Peter mit Lucy über den ersten Akt redete, zog William Elizabeth ein Stück zur Seite. »Du gehst, soweit ich weiß, auch zum Maskenball der Kelthorpes, oder nicht?«
Allein bei der Erwähnung des bevorstehenden Ereignisses ging ein Ruck durch ihren Körper. An diesem Tag würde die Frist enden, die sie sich gesetzt hatte – es war der Tag der Rückkehr ihres Bruders. »Natürlich«, erwiderte sie und verbarg ihre Verwirrung. William konnte sie unmöglich darum bitten, sie zu dem Ball begleiten zu dürfen.
»Etwas Wichtiges wird an dem Abend passieren, und ich wollte dir nur einen kleinen Hinweis geben. Vielleicht bleibst du an dem Abend in Lucys Nähe, damit ihr zusammen seid, wenn ihr erfahrt, um was es sich handelt. Ich wollte dich auf jeden Fall vorbereiten, dass es eine Überraschung geben wird …«
»Du machst es ja total spannend.«
Er lächelte sie bloß geheimnisvoll an.
Ihre Neugier war geweckt. Ahnte er etwas von der falschen Verlobung? Wollte er sie vielleicht plötzlich für sich selbst?
Sie merkte, dass bei dieser Vorstellung keine Begeisterung aufkam. Überhaupt war dieser Maskenball inzwischen nur noch ein Anfang für sie. Alles schien auf diesen einen Abend zuzulaufen, und Williams geheimnisvolle Ankündigung wirkte da nur wie ein zusätzliches Problem.
Sie kehrten zu den anderen zurück, und William nahm Lucys Arm. »Zeit zu gehen, Schwesterchen. Ich muss ein paar Leute treffen.«
Lucy winkte ihnen noch einmal zu, während Elizabeth einen Seufzer ausstieß.
»Jetzt bin ich an der Reihe, mich unter vier Augen mit dir zu unterhalten«, sagte Peter.
O Gott, schon wieder. Sie sah ihn bestürzt an, doch er trug seine übliche freundliche Miene zur Schau.
»Der zweite Akt fängt gleich an«, erwiderte sie.
»Umso besser. Wir setzen uns auf eine Bank vor deiner Loge und warten, bis alle auf ihre Plätze zurückgekehrt sind.«
Und genau das taten sie auch, wobei Elizabeth viel Aufhebens um ihren Rock machte und ständig daran herumstrich, als ob sie jede Falte mit der Hand glätten müsste.
Leise meinte Peter zu ihr: »Du kannst zwar meinem Blick ausweichen, aber um die Wahrheit kommst du nicht herum.«
Sie setzte ein gekünsteltes Lächeln auf und sah ihn an. »Welche Wahrheit?«
»Dass du dich gegen deinen Willen verraten hast. Gibson ist derjenige, den du willst.«
Sie holte tief Luft und redete sich ein, dass es letztlich unvermeidbar gewesen war. Hinzu kam, dass sie Peter nichts vormachen konnte, weil er sie viel zu gut kannte.
»Warum hast du es mir nicht einfach gesagt?«, fragte er.
Er hörte sich weder wütend noch verbittert an, höchstens ein wenig traurig und enttäuscht. Oder gar eifersüchtig?
»Er wäre schließlich nichts dabei gewesen, mir seinen Namen zu nennen, und ich verstehe nicht wirklich, warum du das nicht wolltest.«
»Als ich jünger war«, begann sie vorsichtig zu erklären, »habe ich mich darüber flüsternd mit meinen Cousinen oder Lucy unterhalten. Als ich erwachsen wurde und diese Gefühle sich nicht verloren, betrachtete ich sie als ein sehr intimes Geheimnis, zumal es mir nicht gelang, sein Interesse zu wecken …« Sie hielt inne und suchte seinen Blick. »Wann hätte ich dir all das eigentlich gestehen sollen?«
»Als du mich um Hilfe gebeten hast.«
Sie presste die Lippen zusammen.
»Und wofür soll nun diese Scheinverlobung gut sein?«, fragte er mit leiser Stimme.
»Das ist nicht wegen William.« Sie unterbrach sich, als sie merkte, dass sie kurz davorstand, Peter alles zu erzählen. Vor ihrem inneren Auge sah sie ein blutiges Duell im Morgengrauen, Peter, der am Boden lag, und Thomas, der triumphierend über ihm stand. Ihr lief ein Schauer über den Rücken. Nein, das durfte sie nicht riskieren.
Sie versuchte, die Wahrheit etwas abzuändern. »William ist nicht der einzige Grund, weshalb ich eine Verlobung wollte. Erinnerst du dich an die Männer, die mich so hartnäckig bedrängten?«
»Ja, aber du hast meine Frage nicht beantwortet. Was nützt dir die Verlobung in Bezug auf Gibson?«
»Ich wollte ihn eifersüchtig machen. Er sollte erkennen, dass er mich vielleicht nicht mehr haben kann«, erklärte sie. Jetzt hörten sich ihre Worte irgendwie albern an und ein bisschen theatralisch.
Peters Miene blieb ausdruckslos. »Dann erzähl doch mal, was ihn so besonders für dich macht«, forderte er sie auf.
Sie holte zittrig Luft und wusste nach wie vor nicht, was er bezweckte. »Nun, er sieht natürlich gut aus, und deshalb habe ich mich als junges Mädchen bestimmt in ihn verliebt.« Es war ihr schrecklich peinlich, vor Peter über einen anderen Mann zu sprechen. »Und dann gefiel mir seine Unbeschwertheit und dass er immer lacht und völlig sorglos scheint. Und ich wusste, dass er es nicht auf meine Mitgift abgesehen hat.«
»Er scheint ja der reinste Übermensch zu sein«, meinte Peter trocken.
»Ich verstehe nicht, was du damit meinst.«
»Nichts Besonderes, vergiss es. Aber ich kapiere noch immer nicht, warum du dir einbildest, ihn zu lieben. Dazu gehören eigentlich zwei, denn Gefühle müssen auf Gegenseitigkeit beruhen.«
»Man kann niemanden zur Liebe zwingen.«
»Wie viele Jahre willst du weiterwarten, Elizabeth, ehe du erkennst …«
»Hör auf, Peter. Du brauchst mir keine Vorträge zu halten.«
Ihre Röcke flatterten, als sie aufsprang. Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, eilte sie in die Loge zurück. Der zweite Akt hatte angefangen, der Gang lag verlassen da, die Musik wurde immer lauter – und Peter fühlte sich erbärmlich.
Er und Elizabeth litten unter dem gleichen Problem: Sie hatten sich beide einen Menschen in den Kopf gesetzt, der ihre Gefühle nicht erwiderte. Niemand konnte ihn davon abbringen, sie nicht mehr zu lieben – also durfte er es auch nicht von ihr verlangen. Doch selbst wenn sie weiterträumte, dass Gibson sich ihr eines Tages zuwandte – er würde nicht aufgeben.
Weil er sie liebte.
Immerhin hatte der andere jetzt ein Gesicht, und schon der Gedanke, dass Elizabeth versuchen könnte, Gibson zu verführen, brachte sein Blut zum Kochen. Aber würde sie es wirklich tun? Der Plan stammte aus einer Zeit, als sie Leidenschaft und Begehren noch nicht kannte, da redete es sich leicht von Verführen.
Nur: Gewissheit gab es für ihn nicht. Noch nicht.
Die nächsten Tage blieb Peter Madingley House fern. Elizabeth beschäftigte sich mit Besuchen, mit ihren Wohltätigkeitsprojekten und den Vorbereitungen für ihre Verlobungsfeier. Doch jedes Mal, wenn sie Zeit zum Nachdenken fand, ging ihr Peter nicht aus dem Kopf.
Sie redete sich ein, dass das normal sei, und hoffte, dass er jetzt, wo er von William wusste, begriff, warum ihre unschickliche Leidenschaft für ihn sie so beunruhigte. Trotzdem wollte sie nicht, dass er auf sie böse war oder dass ihre Freundschaft darüber in die Brüche ging.
Beim Abendessen im Familienkreis zog man sie mit der Abwesenheit ihres Verlobten auf, und sie bemühte sich, sich nichts von ihren Sorgen anmerken zu lassen. Auch nicht, als sie später am Abend, als alle im Salon zusammensaßen, immer wieder auf ihr Brautkleid oder den künftigen Wohnsitz angesprochen wurde. Sie versteckte sich hinter ihrem Buch und las ein und dieselbe Seite immer wieder.
Schließlich schützte sie Kopfschmerzen vor und zog sich in ihr Schlafzimmer zurück, gab noch Order, ihr ein Bad herzurichten. Wäre sie die Hausherrin, dachte sie, dann könnte sie sich das sparen, denn die Räumlichkeiten von Abigail und Christopher verfügten seit Neuestem über ein Bad mit Fließwasser.
Trotzdem war ihr Schlafzimmer ein Ort der Zuflucht für sie. Brennende Kerzen verliehen dem in Hellblau und Cremeweiß gehaltenen Raum zusätzlich eine warme Atmosphäre. Die Gemälde an den Wänden, meist Landschaftsszenen, hatte sie selbst ausgesucht. Sie wirkten irgendwie beruhigend auf sie und erinnerten an das ländlich gelegene Madingley Court.
Sie trat an ihre Frisierkommode und sah in den Spiegel. So viel war geschehen, und doch schien ihr Abbild unverändert. Sie führte die Hände zum Nacken, öffnete den Verschluss der Halskette und legte sie auf den Tisch.
Aus dem Augenwinkel bemerkte sie eine Bewegung im Badezimmer. »Teresa?«, rief sie. »Das ging aber schnell.«
Die Tür ging auf, und ein Mann kam auf sie zu.
»Peter!« Sie schnappte entsetzt nach Luft und griff Halt suchend nach dem Bettpfosten.