Kapitel 10
Elizabeth war zu Bett gegangen, ohne dass ihre Mutter sich noch einmal bei ihr hatte sehen lassen. Was sie einerseits überraschte, andererseits jedoch mit Erleichterung zur Kenntnis nahm. Vielleicht musste die Herzoginwitwe, genau wie sie selbst, in Ruhe über die unerwarteten Ereignisse des vergangenen Tages nachdenken.
Doch nach dem Frühstück, ehe Elizabeth aus dem Haus flüchten konnte, wurde sie ins Damenzimmer gebeten, wo die Mutter sie sogleich am Arm nahm und neben sich auf das mit Brokat bezogene Sofa zog.
»So, nun bist du also verlobt«, meinte sie nachdenklich.
Elizabeth lächelte.
»Danke, dass du mir zumindest einen Tag gegeben hast, um mich auf Peters Antrag seelisch vorzubereiten.«
Die Tochter zuckte zusammen. »Ich weiß, es ging alles etwas schnell.«
Die Duchess musterte sie durchdringend. »Gibt es einen Grund für diese Eile?«
Elizabeths erster Gedanke galt dem Gemälde, bis sie kapierte, worauf die mütterliche Frage abzielte. »Nein! Ach, du liebe Güte! Peter hat sich immer wie ein Gentleman benommen.«
Bis gestern Abend, fügte sie im Stillen hinzu.
Ein erleichtertes Lächeln breitete sich auf dem Gesicht der Älteren aus. »Das habe ich eigentlich auch nicht anders erwartet, doch ich wollte Gewissheit haben.« Sie holte tief Luft. »Ich bin mir allerdings weniger sicher, wie dein Bruder über die Angelegenheit denkt.«
Elizabeth wurde ernst. »Ich weiß, dass er andere Pläne verfolgte, an eine Verbindung mit einer mächtigen und einflussreichen Familie dachte. Deshalb habe ich mich die ganze Zeit bemüht, meine Verehrer unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten, aber …«
Sie führte den Satz nicht zu Ende und hoffte inständig, dass nichts mehr dazwischenkam. Schließlich hatte Christopher ebenfalls aus Liebe und völlig unter Stand geheiratet, nicht anders als ihr Vater, der verstorbene Duke.
Die Mutter schien die Gedanken der Tochter lesen zu können. Und zugleich schweiften ihre eigenen zurück in die Vergangenheit. »Als ich deinen Vater kennenlernte, wusste ich auf der Stelle, dass ich ihn liebte. Allerdings schien es mir lange undenkbar, dass er für mich, das einfache Mädchen aus einem fremden Land, das Gleiche empfinden würde. Peter kann bestimmt gut verstehen, wie ich mich damals fühlte.«
»Die Geschichte ist so romantisch«, seufzte Elizabeth. »Ihr habt euch auf den ersten Blick ineinander verliebt, und das trotz eurer unterschiedlichen Herkunft.«
Bei diesen Worten tauchte Williams Bild vor ihrem inneren Auge auf. Was aber war mit Peter? Mit ihrem Gefühlschaos, als er sie küsste? Konnte sie die beiden Männer überhaupt miteinander vergleichen, solange sie nur einen geküsst hatte?
»Christopher wird es zumindest zu schätzen wissen, dass Peter inzwischen in mehr als guten Verhältnissen lebt und finanziell völlig unabhängig ist.«
»Ist Geld denn so wichtig, Mama?«, fragte Elizabeth überrascht.
»Nein, natürlich nicht. Aber wenn Peter selbst etwas vorzuweisen hat, erträgt er das Gerede, das es auf jeden Fall geben wird, leichter. Männern ist ihr Stolz sehr wichtig, musst du wissen.«
Das verstand sie ohne weitere Erklärungen. Da brauchte sie nur an Thomas Wythorne und seinen verletzten Stolz samt dessen unschönen Konsequenzen zu denken.
»Weißt du eigentlich Näheres über die Investitionen, die Peter getätigt hat?«, fragte die Mutter.
»Nein, außer dass es sich um Eisenbahnlinien handelt.«
»Aha, sehr schön, dann macht er also kein Geheimnis aus seinen Geschäften?«
»Geheimnis?«, wiederholte sie überrascht.
Die Duchess schüttelte den Kopf. »Tante Rose erzählte, dass Peter, als er letzten Herbst anlässlich von Matthews Rückkehr bei ihnen weilte, irgendwie … verändert wirkte.«
»Hat sie gesagt, in welcher Hinsicht?«
Ihre Mutter hob kurz die Schultern und meinte: »Nur dass er irgendwie abwesend gewirkt und sich unbehaglich gefühlt hätte …«
»Könnte das nicht bloß mit Emily zu tun gehabt haben? Die Situation dürfte auf jeden Fall peinlich gewesen sein.«
»Möglich, aber ich glaube, dass Rose noch etwas anderes vermutete. Wie auch immer: Es hat nichts mit dir zu tun, Liebes. Hauptsache, du wirst glücklich. Das will nicht nur ich, sondern Christopher genauso. Außerdem kann er eigentlich nichts sagen, denn seine Heirat mit Abigail war mindestens so schockierend für die Gesellschaft wie deine Wahl.«
Elizabeth lächelte. Am Spätnachmittag würde sie wieder Besucher empfangen, und dann konnte sie die Neuigkeit gleich unters Volk bringen und die Reaktionen der Gentlemen beobachten.
Zunächst nahm sie tagsüber ihre karitativen Pflichten wahr. Wenn sie in London weilte, machte sie sich im Büro einer Wohltätigkeitseinrichtung nützlich, die Mädchen vom Land weiterhalf, die ohne eigenes Verschulden in Not geraten und von ihren Familien verstoßen worden waren. Diese Gesellschaft zur Rettung junger Frauen und Kinder versuchte den Verzweifelten Unterschlupf und eine Verdienstmöglichkeit zu verschaffen, etwa als Näherinnen, denn darin verfügten die meisten über gewisse Fertigkeiten.
An diesem Tag hatte es ihr ein Mädchen angetan, das eigentlich als künftige Frau eines Vikars eine sichere Zukunft gehabt hätte, aber von einem gewissenlosen Schurken gepackt und entehrt wurde. Ihr Schicksal führte Elizabeth vor Augen, wie schnell man ruiniert und aus der Gesellschaft ausgeschlossen war.
Was wäre passiert, wenn sie einen zudringlichen Verehrer nicht hätte abwehren können? So jemand wurde von niemandem mehr eingeladen, verlor alle Freunde. Und selbst wenn die Familie einen noch unterstützte, musste man sich aus dem gesellschaftlichen Leben zurückziehen und sich auf dem Land verstecken. Vor allem wenn der eigene Bruder von höchstem Stand war. Sie konnte nur froh sein, dass ihr so etwas erspart geblieben war. Dank ihrer Vorkehrungen und Peters Hilfe.
Noch bei dem Empfang später am Tag ging ihr diese bedauernswerte Frau nicht aus dem Kopf. Darüber vergaß sie fast, Vermutungen anzustellen, wer unter den Besuchern wohl von ihrem Geheimnis wissen konnte, und um ein Haar hätte sie Lord Thomas Wythorne übersehen.
Er kam relativ spät, als bereits etwa ein Dutzend Verehrer anwesend waren. Ein selbstbewusstes Lächeln lag auf seinem Gesicht, und er legte grüßend die Hand an die Stirn, doch die Ironie dieser Geste blieb ihr nicht verborgen. Abwartend blieb er in gewisser Entfernung stehen, als ob er sie herausfordern wollte. Hatte er vielleicht bereits etwas läuten gehört?
Sie freute sich schon darauf, ihm ihre Verlobung mitzuteilen.
Mitten in einem Gespräch mit zwei Gentlemen über die bevorstehende Hochzeit eines anderen Mitglieds der Gesellschaft schlug sie verlegen die Augen nieder und sagte errötend: »Ich bin ja so aufgeregt, weil ich auch etwas Wichtiges zu verkünden habe.«
Die beiden Männer sahen einander überrascht an.
Ihre Augen wurden ganz groß, und sie legte eine Hand auf ihren Mund. »Ach herrje, ich sollte doch bis zur offiziellen Ankündigung warten! Egal, jetzt ist es heraus: Ich habe mich verlobt!«
Den letzten Satz sprach sie so laut aus, dass er nicht zu überhören war. Hinter ihr begann man bereits zu tuscheln, während Thomas zweifelnd eine dunkle Augenbraue hochzog, als würde er dieses Gerede für blanken Unsinn halten.
In diesem Moment traf Peter ein, das Haar noch vom Wind zerzaust. Als er sie in dem vollen Raum erspähte, ging ein strahlendes Lächeln über sein Gesicht, das in gleicher Weise Bewunderung wie Besitzerstolz ausdrückte.
Und sie? Spontane, ehrliche Freude wallte in ihr auf, ehe sie überhaupt an den tatsächlichen Sachverhalt dachte, dass alles nur eine Schau war.
Sie reichte ihm ihre Hand, und er zog sie an seine Lippen.
»Elizabeth.«
Er sprach ihren Namen so aus, als würde allein ihr Anblick seinen Tag zum Strahlen bringen. Mehrere Männer, die Zeuge dieser Begrüßung wurden, sahen einander bedeutungsvoll an.
»Peter«, hauchte sie und schaute lächelnd zu ihm auf. »Ich hoffe, es macht dir nichts aus, aber ich habe es nicht für mich behalten können.«
Keiner machte sich mehr die Mühe, desinteressiert zu tun. Aller Augen und Ohren waren nur auf dieses Paar gerichtet.
Peter grinste und ließ den Blick über die Verehrer schweifen. »Lady Elizabeth hat mir die große Ehre erwiesen, meinen Heiratsantrag anzunehmen.«
Sie beobachtete, wie alle hektisch miteinander zu tuscheln begannen. Nicht wenige musterten Peter, als könne nur ein Irrtum vorliegen. Die Schwester des Duke of Madingley und ein Nichts aus nicht sonderlich betuchtem niederem Landadel, der selbst als Bürgerlicher galt. Die Familie konnte solch eine Mesalliance bestimmt nicht arrangiert haben. Würde sie sie überhaupt tolerieren? Auf Liebesheiraten pflegte man in diesen Kreisen normalerweise nicht allzu viel zu geben.
Nun ja, die Cabots bildeten da möglicherweise eine Ausnahme.
Eine Weile steckten die Männer die Köpfe zusammen, redeten miteinander und warfen ihnen immer wieder Blicke zu. Peter blieb die ganze Zeit an ihrer Seite und spielte seine Rolle mit unglaublicher Perfektion.
Schließlich kamen die Gäste, nachdem sie sich einigermaßen von dem Schock erholt hatten, einer nach dem anderen zu ihnen, gratulierten höflich und verabschiedeten sich schnell, um sich anderweitig, in den Clubs vermutlich, über diese unmögliche Verbindung weiter das Maul zerreißen zu können.
Sogar Thomas sprach seine Glückwünsche aus, grinste sie allerdings in einem unbeobachteten Moment vielsagend an. Es war, als wolle er ihr zu verstehen geben, dass er sie nach wie vor am Haken hatte. Als er kurz darauf ging, mahnte Elizabeth sich zur Ruhe. Sie musste jetzt einfach abwarten, ob Thomas zu einem Gegenschlag ausholte.
Sobald sie alleine im Salon zurückgeblieben und auch die Lakaien gegangen waren, sah Peter sie an, als würde er sie am liebsten gleich wieder küssen. Und sie wünschte es sich beinahe, obwohl es bestimmt ein Fehler war. Wenn sie nur an die heftige Erregung dachte … Und jetzt sein begehrlicher, lodernder Blick, der sich keinen Moment von ihrem Mund löste. Sie brachte sich hinter einem Tisch in Sicherheit.
»Peter, bitte setz dich. Möchtest du Tee? Ach je, ich hätte die Lakaien darum bitten sollen, ehe sie gegangen sind.«
Ein wissendes Lächeln lag auf seinen Lippen, als würde er sie durchschauen. Was er auch tat, denn er wusste sehr wohl, wie verlegen sie wegen des gestrigen Vorfalls war und dass sie es möglicherweise bedauerte.
Macht nichts, dachte er und wartete, während sie vor die Tür trat, um mit einem Lakaien zu sprechen, statt einfach zu läuten. Als sie zurückkam und sich ihm gegenüber hinsetzte, zog er einen gefalteten Bogen aus der Tasche und reichte ihn ihr. »Von meiner Mutter. Sie weiß, dass du eine Verlobungsanzeige in die Zeitung setzen willst, und das sind ihre Vorschläge für den Text.«
Sie las ihn durch, ebenso die beigefügten liebevollen Glückwünsche. Natürlich kannten sie sich, doch Mrs Derby war immer sehr darauf bedacht gewesen, angesichts der Standesunterschiede die gebotene Distanz zu wahren.
»Richte ihr meinen Dank aus, Peter. Ich verspreche, die Annonce noch heute Nachmittag in die Zeitung setzen zu lassen. Hast du selbst noch irgendwelche Wünsche hinsichtlich der Formulierung?«
Er grinste. »Ich vertraue dir voll und ganz. Ich weiß, dass die Öffentlichkeit so schnell wie möglich davon erfahren sollte. Und die Männer, die dich heute besucht haben, werden wohl dafür sorgen, dass es bis zum Abend tout le monde weiß.«
Wieder richtete er den Blick auf ihren Mund, was sie schrecklich verwirrte. »Du musst mich nicht so … so durchdringend anschauen, wenn wir alleine sind«, meinte sie leise.
Er beugte sich nach vorne und stützte sich dabei mit den Armen auf den Knien ab. »Es wäre falsch, sich anders zu verhalten, wenn wir unter uns sind, Elizabeth.«
Sie presste die Lippen zusammen und nickte.
»Du magst es nicht, wenn ich dich anschaue?«
Sie zögerte.
»Du wirst seit Jahren von Männern angeschaut – das begann, noch bevor du das Schulzimmer verlassen hattest. Du solltest also langsam daran gewöhnt sein.«
»Ja, aber jetzt schaust du mich so an, Peter. Und daran bin ich nicht gewöhnt.«
Sie verstummten, weil ein Dienstmädchen den Tee auf einem Tablett hereinbrachte und vor Elizabeth abstellte. Sie schenkte wortlos ein und reichte ihm die Tasse. Seinem amüsierten Blick begegnete sie mit einem leichten Lächeln, denn ihr war gerade eingefallen, dass sie schließlich diese merkwürdige Situation heraufbeschworen hatte.
Er nahm einen Schluck und wurde ernst, starrte einen Moment auf das feine Porzellan in seiner Hand. »Elizabeth, ich möchte dich um einen Gefallen bitten.«
»In letzter Zeit scheinen wir ziemlich viel voneinander zu wollen.«
»Das ist unter Freunden häufig so.«
Weil sie schwieg, fuhr er fort: »Du hast meiner Schwester nie nahegestanden …«
Überrascht unterbrach sie ihn: »Sie und ich haben uns zwar früher einmal um eine Freundschaft bemüht, doch keine Gemeinsamkeiten gefunden.«
Er lächelte. »Glaub mir, ich mache dir keine Vorwürfe. Als Kind hat Mary Anne sich eher für Baumhäuser und Reptilien statt für weibliche Aktivitäten interessiert.«
»Ich meine mich daran zu erinnern, ebenfalls eine Zeitlang von so etwas fasziniert gewesen zu sein«, meinte sie trocken. »Oder von Wettkämpfen und Mutproben, was auch nicht gerade sonderlich weiblich ist.«
»Aber du bist reifer geworden und hast andere Interessen entwickelt«, sagte Peter.
Das vielleicht, dachte sie. Aber reif?
»Mary Annes Leidenschaft gilt jetzt dem Billard«, fuhr er fort.
Elizabeth sah ihn fragend an. »Billard?«
»Sie hat vor Kurzem sogar um Geld gespielt und gewonnen.«
»Ganz im Ernst?«, fragte Elizabeth und stichelte dann: »Ich frage mich, woher sie das wohl hat.«
Er ignorierte die spitze Bemerkung. »Du hast nicht verstanden, wo das Problem liegt. Sie tut so, als sei sie eine schlechte Spielerin, täuscht also die anderen bewusst, damit sie gegen sie setzen.«
»Ach, du liebe Güte«, murmelte sie, nachdem sie begriffen hatte, worauf er hinauswollte.
»Wenn sie so weitermacht, wird ihr Ruf bald ruiniert sein. Und obwohl sie mir versprochen hat, nicht mehr um Geld zu spielen, ist sie ganz besessen von dem Spiel und beschäftigt sich jeden Tag stundenlang damit. Sie erzählt mir dauernd, wie wichtig ihr ihre Unabhängigkeit sei und dass sie nicht heiraten wolle. Nur glaube ich, dass etwas anderes hinter ihrem rebellischen Verhalten steckt, was sie leider weder mir noch ihrer Mutter anvertraut. Könntest du es in Erwägung ziehen, sie ein wenig unter deine Fittiche zu nehmen? Ich glaube, dass eine in etwa gleichaltrige Frau da mehr ausrichten kann als zwei Brüder.«
»Billard«, meinte Elizabeth nachdenklich, während sie ihre Tasse absetzte und Peter musterte. Das leicht überhebliche Lächeln, das er gerne zur Schau stellte, war verschwunden. Er schien sich ernstlich um seine Schwester zu sorgen. »Wer hat ihr das Spiel eigentlich beigebracht?«
Er seufzte. »Wahrscheinlich weißt du’s schon, denn sonst würdest du ja nicht fragen. Ich war es, vor mehreren Jahren. Es machte ihr Spaß, mir zuzuschauen, und bald fing sie an, kluge Fragen zu stellen. Sie lernte schnell, und ehe ich mich versah, hatte sie selbst ein Queue in der Hand. Aber Männern etwas vorzumachen, damit man ihnen leichter das Geld aus der Tasche ziehen kann, das geht eindeutig zu weit.«
»Ja, das stimmt. Und ich muss gestehen, dass mich dein Problem fasziniert.«
Er überraschte sie, als er plötzlich aufstand, um den Tisch herumkam und sich neben sie setzte. Sie lehnte sich zurück, doch er griff nur nach ihrer Hand.
»Kein Mensch würde glauben, dass ich so lange mit dir zusammensitzen könnte, ohne dich berühren zu wollen«, murmelte er und drückte zart ihre Finger.
Sie sah auf ihre ineinanderverschränkten Hände, die jetzt auf ihrem Knie lagen. Die seine war größer und gröber als ihre, und sie erinnerte sich daran, wie er mit diesen Händen ihre Taille umfasst und sie an sich gezogen hatte. Ohne dass sie sich wehrte. Es weder wollte noch konnte, denn viel zu sehr genoss sie seine Berührung. Und seinen Kuss, der sie den letzten Rest von Misstrauen und Widerstand vergessen machte. Und das, obwohl sie einen anderen zu lieben glaubte. Was sagte das alles über sie aus?
»Brauchst du Zeit, um es dir zu überlegen?«, fragte er angespannt.
»Natürlich nicht«, versicherte sie ihm. »Mary Anne ist dir wichtig. Ich bin froh, aus Dankbarkeit etwas für dich tun zu können – außer dir bei passender Gelegenheit die Wahrheit über das Gemälde zu sagen.«
»Das habe ich nicht vergessen«, erwiderte er. »Aber bei dem einen handelt es sich um eine Sache zwischen Männern, während Mary Anne eine Herzensangelegenheit für mich ist. Was meinst du, könnten wir tun?«
»Wir? Ich dachte, dass ich mich um Mary Anne kümmern soll. Ich glaube nicht, dass es klug wäre, wenn du dich einmischt. Sonst schöpft sie womöglich bloß Verdacht, dass du hinter dem Ganzen steckst.«
»Aber …«
»Im Moment denkt sie noch, dass ich bald ihre Schwägerin sein werde. Dadurch habe ich die Möglichkeit, eine engere Beziehung zu ihr aufzubauen.«
Er wandte den Blick ab.
»Peter, was ist los?«
Er stieß einen Seufzer aus. »Mary Anne könnte unter Umständen etwas dagegenhaben, dass du dich um sie bemühst. Sie ist nicht gerade begeistert darüber, dass ich dich heiraten will.«
Elizabeth richtete sich auf. »Wie bitte?« Sie versuchte ihm ihre Hand zu entziehen.
»Sie macht sich Sorgen, dass ich zu hoch hinaus will, und ist der Meinung, dass eine Ehe nicht funktionieren kann, wenn die Partner aus so unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten stammen.«
»Du bist doch kein Schornsteinfeger«, meinte sie verärgert und fast schon ein wenig beleidigt. »Glaubt sie etwa, dass ich dich nicht für das lieben kann, was du bist, sondern nur nach Titeln schiele?«
»Ich weiß es nicht – ist dir ein Titel wichtig?«
»Der Mann, den ich liebe, hat ebenfalls keinen großartigen Titel«, erwiderte sie kühl. »Daran siehst du schon, dass mir daran nicht viel liegt.«
Er sah sie wortlos an, und sie wusste, dass er in ihren Worten nach einem Hinweis suchte. Er wollte alles wissen. Sie hätte nie gedacht, dass es so schwierig sein würde, vor ihm etwas geheim zu halten.
»Du weißt, wie wichtig Äußerlichkeiten für meinen Vater waren«, erklärte Peter. »Und er war neidisch auf alle, die über ihm standen. Deshalb mochte er auch deinen Vater nicht. Es war eine reine Qual für meine Mutter.«
»Lag es vielleicht an der Herkunft meiner Mutter?«, fragte Elizabeth. »Es gab viele, die meinem Vater das ankreideten.«
»Das glaube ich nicht. Ich denke eher, dass er einfach das Gefühl hatte, es gebe da auf dem Land eine Art Wettstreit, wem mehr Respekt gebührt … Und dabei fühlte er sich natürlich immer als Verlierer und fand das ungerecht.«
»Tut mir leid, Peter. Glaubst du, dass Mary Anne genauso empfindet?«
»Ich weiß es nicht. Sie hat nichts Derartiges gesagt, sondern begründet ihre Einwände mit ihrer Sorge um mich.«
»Dann solltest du davon ausgehen, dass sie es auch so meint. Sie ist immer sehr direkt und unverblümt gewesen.«
»Das war sie zumindest«, meinte Peter nachdenklich. »Irgendetwas hat sich verändert.«
Steckte hinter der Sache vielleicht mehr, als er zugeben mochte?
»Ich danke dir, dass du mir helfen willst«, sagte er.
Er hob ihre Hand an seine Lippen und schaute sie an. Es war wieder dieser eindringliche Blick, den sie früher bei ihm nicht erlebt hatte und der sie zutiefst verstörte. Er wirkte so fremd, so verändert.
Doch plötzlich zeigte er ihr sein altes unbekümmertes Lächeln. »Meine Mutter würde dich gerne morgen zum Mittagessen einladen. Mary Anne wird ebenfalls da sein.«
»Dann nehme ich die Einladung dankend an.« Erneut versuchte sie, ihm ihre Hand zu entziehen, doch er nahm sie bloß fester und legte ihrer beider Hände auf sein Knie.
»Es gibt noch etwas, worüber ich mit dir reden muss. Nachdem ich dich gestern Abend verlassen habe, bin ich in meinen Club gegangen.«
Sie erstarrte, und sein Griff um ihre Hand wurde fester.
»Ich kann sehen, wie deine Gedanken sich überschlagen«, fuhr er in leicht tadelndem Tonfall fort. »Obwohl ich eine ganze Weile vor dem Gemälde stand, um es zu bewundern …«
»Oooh!« Sie zog noch fester, um ihre Hand zu befreien, aber er ließ sie nicht los.
»Kurzum, das Gemälde war nicht der Grund für meine Anwesenheit im Club. Ich wollte wissen, ob jemand über dich redet. Oder dir nachstellt.«
All ihre Befürchtungen drohten Gestalt anzunehmen. Was würde passieren, wenn Peter von Thomas’ Erpressung erfuhr? Wenn sie nun aneinandergerieten und einer zu Schaden kam? Und das alles nur ihretwegen?