Kapitel 1
London, 1846
Peter Derby war an jenem Sommernachmittag nicht der Einzige, der Lady Elizabeth Cabot seine Aufwartung machte. Mindestens ein Dutzend Gentlemen standen wartend in dem luxuriösen Salon mit den hohen Decken und den kostbaren Wandmalereien, saßen in den Sesselgruppen oder gingen auf und ab, bis sie an der Reihe waren, mit der jungen Dame zu sprechen.
Sie gewährte jedem ein paar Minuten, beglückte sie mit ihrem strahlenden Lächeln und ließ alle davon träumen, vielleicht der Glückliche zu sein, mit dem sie das Brautbett teilen würde. Nicht nur weil sie schön und reich war – als Schwester des jungen Duke of Madingley gehörte sie überdies den ersten Kreisen des Königreichs an.
Doch von allen Männern, die sie umschwärmten und um sie warben, konnte nur einer hinter die Fassade blicken: Peter Derby. Er wusste um ihre geheimnisvolle Verbindung zu einem Aktgemälde, das im Salon eines renommierten Londoner Herrenclubs hing und das Gesprächsthema schlechthin war.
Hin und wieder erhaschte er einen Blick auf Elizabeth, deren Schönheit ihn jedes Mal aufs Neue berührte. Sie besaß das rabenschwarze Haar und die dunklen Augen ihrer spanischen Mutter, was einen reizvollen Gegensatz zu ihrer zarten, hellen Pfirsichhaut bildete. Allerdings blickten ihre Augen weniger nachdenklich oder gar düster, sondern leuchteten voll heiterer Freundlichkeit. Überdies lag ihr, wie Peter wusste, Standesdünkel völlig fern. Deshalb erkundigte sie sich auch bei allen Besuchern mit echter Anteilnahme nach ihren Familien und deren Befinden. Kurzum: Sie vermittelte nahezu jedem das Gefühl, sein Freund zu sein.
Peter indes wollte mehr. Er kannte Elizabeth bereits seit ihrer Kindheit. Sie mochte ihn, zweifellos, aber konnte er mehr von ihr erhoffen? Gesellschaftlich stand er dermaßen weit unter ihr, dass solche Gedanken als vermessen gelten mussten, und er kannte seinen Platz. Um es bildlich zu beschreiben, hockte er in einem tiefen Tal, während sie auf einer hohen, von den Strahlen der Sonne umglänzten Bergspitze saß.
Zumindest war es früher so gewesen, doch die Affäre um das Gemälde hatte alles geändert.
Als sich ihre Blicke zufällig trafen, schaute sie sogleich verlegen zur Seite. Auch das hätte es früher nie gegeben. Peter fand es faszinierend, wenn sie errötete – er mochte den rosigen Schimmer auf ihren Wangen und die Art, wie sie die Hände vor der Brust ineinanderlegte und dabei den Blick auf ihr Dekolleté lenkte, wenngleich man den Ausschnitt ihres blauen Kleides eher als züchtig bezeichnen musste.
Er, Peter Derby, glaubte ein anderes Bild von ihr zu kennen, das seine Meinung über sie auf den Kopf gestellt hatte, denn das Gemälde war unauslöschlich in seine Erinnerung eingebrannt: In einem dunklen Raum, der nur von Kerzen erhellt wurde, sah man einen auf der Seite liegenden Körper mit einem dunklen Haarbüschel zwischen den geschlossenen Schenkeln. Ein kunstvoll drapierter langer, hauchzarter Schal betonte die Nacktheit mehr, als dass er sie verbarg. Der Kopf lag im Schatten, sodass die Gesichtszüge nicht zu sehen waren.
Trotzdem war Peter sich seiner Sache sicher.
Insbesondere galt ihm als Beweis, dass in Elizabeth trotz ihres auf der Oberfläche schicklichen Benehmens verborgene Kräfte brodelten, die sie dazu verleitet hatten, sich in diese skandalöse Geschichte hineinziehen zu lassen und ihren Ruf zu gefährden, vielleicht für immer zu ruinieren. Aber sorglos war sie bereits als Kind, wusste Peter.
Nachdem der letzte Verehrer gegangen war, schickte Elizabeth sowohl ihre Gesellschafterin als auch die beiden Lakaien fort, die allerdings die Tür, wie es der Anstand gebot, offen ließen. Sie rührte sich nicht von der Stelle, schaute nur durch den Raum zu ihm hinüber, und in ihrem Blick lag eine Vorsicht, die er von ihr nicht kannte.
Er begann auf sie zuzugehen, und jeder Schritt brachte ihn einer unbekannten Zukunft näher. Zwar hatte er sich in seinem Leben bereits auf mehrere Risiken eingelassen, doch sie konnte sich sehr wohl als das größte von allen erweisen.
Die Spannung, die in der Luft lag, stieg, als er vor ihr stehen blieb, und er sah, wie ihre Wangen erneut einen rosigen Schimmer annahmen. Würde sie vor ihm davonlaufen und sich weigern, mit ihm über das Geheimnis zu reden, das sie jetzt miteinander verband?
Er wartete.
Schließlich verdrehte sie die Augen. »Nun, was haben Sie zu Ihrer Verteidigung zu sagen, Peter Derby?«
Er lachte laut auf. Daraufhin stemmte sie die Hände in die Hüften, wodurch sie seinen Blick auf ihren schlanken, geschmeidigen Körper und ihre weiblichen Rundungen lenkte.
Sie stieß einen leisen, erschöpften Seufzer aus. »Wird es von jetzt an immer so sein, dass Sie mich anschauen wie …«
»Wie eine Frau, deren Schönheit ich bewundere?«
»Früher haben Sie mich nie so angesehen.«
»Dann hätten Sie sich vielleicht, bevor Sie sich für dieses Gemälde als Modell zur Verfügung stellten, überlegen sollen, wie Männer Sie hinterher betrachten.«
Sie warf einen hektischen Blick in Richtung Tür, aber da war niemand, der ihre Unterhaltung mitbekam.
»Oder ehe Sie und Ihre Cousinen sich, wie Jungen ausstaffiert, heimlich in einen Herrenclub schleichen, um das Porträt zu stehlen«, fügte er hinzu. »Glücklicherweise waren Julian, Leo und ich da, um euch drei vor Schlimmerem zu bewahren.«
Das war noch so ein Bild, das er niemals vergessen würde: der Anblick von Elizabeths Hüften, die trotz der einfachen Jungenhose so unendlich sinnlich wirkten.
»Dieses Gemälde war eigentlich für eine Privatsammlung in Frankreich bestimmt«, betonte sie, obwohl er es bereits wusste. »Nie war daran gedacht, es in England auszustellen, und schon gar nicht in einem Herrenclub.«
»Ich begreife nicht, wie es überhaupt dazu hat kommen können. Wurden Sie mit einem Trick dazu gebracht, als Modell zu posieren?«
Elizabeth presste nur die Lippen aufeinander und sah ihn mit finsterem Blick an. Sehr seltsam. Warum versuchte sie nicht, sich zu rechtfertigen?
»Der Künstler brauchte also das Geld, als das Geschäft mit dem französischen Interessenten platzte«, fuhr Peter fort. »Vielleicht hätte er sich lieber an Sie wenden und um Hilfe bitten sollen. Sie hätten doch alles getan, damit dieser Fehltritt nicht publik wird.«
Sie verschränkte die Arme vor der Brust und klopfte mit dem Fuß auf den Boden, als würde er sie langweilen.
»Ich weiß, wie nahe Sie und Ihre Cousinen sich stehen«, redete er weiter. »Ihr dachtet, ihr könntet unseren Fragen ausweichen und euch gegenseitig schützen, indem jede behauptete, das Aktmodell gewesen zu sein. Aber es ist nicht ganz so gelaufen wie geplant.«
»Wir hätten uns denken können, wie hinterhältig ihr drei seid«, meinte sie erbittert. »Aber gleich eine Wette, Peter?«
Er spreizte die Hände. »Wir wollen einfach herausfinden, wer wirklich für das Gemälde Modell gesessen hat – das kann man uns ja wohl kaum vorwerfen, nicht wahr?«
Und wie sollte er sie vor übler Nachrede schützen, wenn er nicht herausbekam, wie es sich wirklich verhalten hatte. Er musste wissen, warum sie so leichtsinnig gewesen war. Ein Charakterzug allerdings, den sie bekanntermaßen früher bereits an den Tag gelegt hatte.
Elizabeth ließ sich auf einen gepolsterten Stuhl sinken, wobei sich ihre blauen Röcke bauschten und der Seidenstoff verführerisch raschelte. Aber eigentlich löste alles an ihr erotische Gedanken bei ihm aus. Er setzte sich auf einen Stuhl neben sie, sodass sich ihre Knie fast berührten. Sie rückte nicht von ihm ab, was er als eindeutigen Hinweis betrachtete, dass sie völlig verwirrt war.
»Ich hätte nie gedacht, dass der Earl of Parkhurst mit Ihnen und Mr Wade bei einer so törichten Sache gemeinsame Sache machen würde.« Sie bedachte ihn mit einem argwöhnischen Blick.
»Ihr habt uns förmlich dazu angehalten, die Wahrheit herauszufinden. Und warum sollte ich nicht eine Wette darauf abschließen, dass Sie das Aktmodell sind? Denn Ihre Cousine Rebecca kommt dafür wohl kaum infrage, nicht wahr? Schließlich habe ich sie erst vor Kurzem bei einem Ball gesehen, bei dem sie denselben Schmuck wie auf dem Gemälde trug. Sie hätte ihn nie in aller Öffentlichkeit angelegt, wäre sie davon ausgegangen, dass man sie daran eindeutig als das skandalöse Aktmodell erkennen würde.«
Ihr Blick richtete sich forschend auf ihn. »Das haben Sie gestern Abend aber nicht erwähnt.«
»Warum hätte ich Julian und Leo einen Vorteil verschaffen sollen? Zumindest geben wir euch die Möglichkeit, das Gemälde zu bekommen, wenn wir keine von euch überführen.«
»Innerhalb von einem Monat«, sagte sie und fügte mit zusammengebissenen Zähnen hinzu: »Zeit spielt sowieso keine Rolle. Sie werden nie beweisen können, dass ich das Modell bin. Mein Eingeständnis, dass ich es war, nützt nicht, denn schließlich behaupten wir das alle drei: Susanna, Rebecca und ich.«
»Und Sie wollen mir nicht helfen? Vor ein paar Jahren noch mochten Sie mich schließlich ganz gerne.«
Sie gab einen unwilligen Laut von sich, sprang auf und beugte sich über ihn. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und genoss den Anblick. Er fand sie ganz reizend in ihrer Wut, und zudem lernte er gerade eine neue Seite an ihr kennen.
»Mr Derby, ich fasse es nicht, dass Sie mich in dieser Weise behandeln!«
Er grinste sie aus halb geschlossenen Augen an, während er sie musterte. »Lady Elizabeth, und ich fasse es nicht, dass Sie meinen, in besonderer Weise behandelt werden zu müssen, wenn man bedenkt, was Sie getan haben. Wenn das Ihr Bruder wüsste…«
»Christopher befindet sich zurzeit in Schottland auf der Jagd, wie Sie sehr wohl wissen.«
»Oh, das kommt Ihnen ebenfalls gelegen, nicht wahr? Kein Bruder, der sich fragt, warum Sie sich plötzlich nicht wohl in Ihrer Haut fühlen.«
»Ich fühle mich nicht …«
»Kein Bruder, der Sie dabei erwischt, wie Sie in Jungensachen herumschleichen.«
»Nein, dafür habe ich ja euch drei.«
Schlagartig verschwand sein Lächeln. »Ich bin nicht dein Bruder«, sagte er und fiel in die alte, vertraute Anrede zurück, die sie bei offizielleren Anlässen, zu denen auch ein formeller Besuch wie dieser zählte, mieden.
»Das weiß ich.« Sie zog die Augenbrauen zusammen. »Aber du warst immer da, wenn ich Hilfe brauchte. Als ich dich gestern Abend sah, war ich genau genommen erleichtert.«
»Lügnerin, du warst total verlegen.«
»Das auch! Aber ich dachte oder hoffte zumindest, dass …«
»Dass ich wieder einmal zu deiner Rettung herbeieilen würde? Ich hatte eigentlich angenommen, dass du mich dafür nicht mehr brauchen würdest und dich zu einer sittsamen, wohlerzogenen jungen Dame entwickelt hast.«
Sie musterte ihn mit ausdrucksloser Miene. »Du hast dich verändert, Peter. In diesem letzten Jahr ist irgendetwas passiert.«
Weder zuckte er zusammen, noch gab er in irgendeiner Weise zu verstehen, dass sie recht haben könnte. »Du irrst dich. Allerdings hast du, Elizabeth, nur so getan, als hättest du dich verändert.«
Was immer sie in seinem Gesicht sah, ließ sie plötzlich zurückweichen und auf die Doppeltür zustürzen. »Du findest selbst nach draußen.«
»Wir sehen uns heute Abend.«
Sie blieb stehen und schaute über die Schulter zurück. »Was ist heute Abend?«
»Der Ball bei Lady Brumley. Du reservierst doch ein oder zwei Tänze für mich, ja?«
Sie stöhnte nur und ließ ihn stehen. Langsam kehrte das Lächeln in Peters Gesicht zurück.
Elizabeth gelang es einfach nicht, die Verkrampfung in ihrem Kiefer zu lösen. Sie marschierte durch die Eingangshalle, blind für die Marmorsäulen, die anmutige Schönheit der geschwungenen Doppeltreppe, die sich über drei Stockwerke nach oben zog, oder die ländlichen Szenen der Wandgemälde. Sie konzentrierte sich ausschließlich darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen und darauf zu hoffen, dass ihre Wut – und ihre Angst – irgendwie nachlassen würden.
Peter Derby war überzeugt, dass sie der Akt war. Eine schockierende Erkenntnis für Elizabeth, denn dass der Freund aus Kindertagen sie sich so vorstellte, schien irgendwie undenkbar.
Seine Familie lebte in der Nachbarschaft, und so kannten sich die Kinder trotz der unterschiedlichen Herkunft. Die einen Sprösslinge aus herzoglichem Haus, die anderen aus niederem Landadel stammend, wobei Peter zudem der jüngere Sohn war und nicht einmal der künftige Squire sein würde. Aber er war für sie ein treuer Gefährte gewesen und hatte ihre zahlreichen Streiche gedeckt und manchmal die Schuld auf sich genommen. Mit dem Ende der Kinderzeit jedoch trennten sich ihre Wege schon aufgrund der gesellschaftlichen Distanz, obgleich das Gefühl einer freundschaftlichen Verbundenheit bestehen blieb.
Und jetzt das Gemälde, das er offenbar als logische Fortsetzung ihrer früheren Eskapaden betrachtete, mit denen sie ihre Familie bisweilen recht unglücklich gemacht hatte. Am liebsten wäre sie im Boden versunken, weil er sie mit so viel Nacktheit in Verbindung brachte.
Sie konnte sich noch genau an den Augenblick erinnern, als sie, Susanna und Rebecca gestern Abend in den dunklen Salon zu dem Gemälde geschlichen waren. Sie hatten mit dem Gedanken gespielt, es zu stehlen, und sogar versucht, es herunterzuheben, bevor sie von den drei Männern ertappt wurden, diesen arroganten Kerlen, die Peter seine Freunde nannte. Sie hatte ihm nicht in die Augen schauen wollen, aber kneifen galt nicht, und als sie ihn ansah, entdeckte sie in seinem Blick etwas völlig Neues. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte.
Während des heutigen Empfangs hatte sie ihren Blick durch den Salon schweifen lassen und Peter in der Nähe der Tür sitzen sehen, wo er darauf wartete, mit ihr alleine zu sein. Es war das erste Mal, dass sie ihn als Mann betrachtete und über seine Wirkung bei Frauen nachdachte.
Er war groß und gut gebaut, hatte sandfarbenes Haar und blaue Augen, die zu funkeln schienen, wenn er zu ihr herüberblickte, und ein schmales, kantiges Gesicht. Obwohl die Familie nicht auf Rosen gebettet war und dem jüngeren Sohn etwa der Besuch von Cambridge versagt blieb, obwohl sie ganz in der Nähe lebten, wirkte Peter immer optimistisch und positiv eingestellt.
Sie hatte gehofft, er sei gekommen, um sich für den gestrigen Abend zu entschuldigen oder um ihr mitzuteilen, er habe seinen Freunden die alberne Wette ausgeredet. Er hätte das alles regeln und ihr sogar das Bild beschaffen können.
Aber nein. Der zuverlässige Freund von früher schien sich im Laufe des letzten Jahres völlig verändert zu haben, und sie wusste nicht warum. Ihr waren Gerüchte zu Ohren gekommen, er bewege sich, seit er schnell zu einem ansehnlichen Vermögen gekommen sei, in Gesellschaft zweifelhafter Frauen und treibe sich an den Spieltischen herum. Sie hatte eigentlich angenommen, dass er sich jetzt nach einer Ehefrau umschauen würde, doch er ließ bislang kein Interesse erkennen. Obwohl er jetzt über Geld verfügte – der alte Peter war ihr lieber gewesen
Sie schob die Gedanken an ihn beiseite. Einen Tanz für ihn reservieren, also wirklich! Bestimmt nicht nach dem gestrigen Vorfall. Sie würde sich keinen Ball und schon gar nicht die Saison durch ihn verderben lassen. Schließlich war sie eine begehrte junge Dame, die die Auswahl hatte. Sie konnte sich unter den unverheirateten Gentlemen den perfekten Ehemann aussuchen. Die unbedachten Torheiten ihrer Jugend lagen hinter ihr. Die meisten zumindest.
»Lady Elizabeth! Lady Elizabeth!« Einer der Lakaien rannte hinter ihr her, als sie bereits die Treppe hinaufzusteigen begann.
Sie drehte den Kopf und zwang sich zu einem Lächeln, denn die Dienstboten hatten es nicht verdient, unter ihrer schlechten Laune zu leiden. »Ja, Wilfred?«
Sein Adamsapfel hüpfte, als er sich verbeugte. »Miss Gibson ist da. Ich habe sie wie immer in Ihr Schlafzimmer geführt.«
»Danke, Wilfred. Lassen Sie bitte Tee und Kuchen bringen? Miss Gibson liebt Kuchen.«
»Natürlich, Mylady.«
In ihrem Schlafzimmer fand sie Lucinda vor, die bäuchlings auf ihrem Bett lag und einen Roman las. Mit ihrem blonden Haar und den blassgrünen Augen, der kleinen und fast dünn zu nennenden Gestalt war sie das genaue Gegenteil der hochgewachsenen, dunklen Elizabeth mit ihren sinnlichen Kurven. Auch ihre Mentalität könnte nicht unterschiedlicher sein. Während Elizabeth mit jedem unbefangen umging, vom Dienstboten bis hin zum Prinzen, wirkte die Freundin eher scheu. Doch was sie verband, waren der Sinn für Humor und Loyalität.
Elizabeth verspürte einen kurzen Anflug von schlechtem Gewissen, weil sie Lucy nicht die Wahrheit über das Gemälde erzählen konnte.
Die drei Cousinen hatten nämlich einen Eid darauf abgelegt, es niemandem zu verraten. Es war bereits ihr zweiter, denn vor einigen Jahren hatten sie sich geschworen, immer und unter allen Umständen füreinander einzustehen und sich gegenseitig zu schützen.
Nur dumm, dass sie es vor der Freundin verheimlichen musste.
»Lucy, du hast doch nicht etwa schon wieder die Seite verblättert, bis zu der ich gelesen habe, oder?«, fragte Elizabeth und warf sich theatralisch aufs Bett.
Lucy verzog das Gesicht. »Du hast es erst zehnmal gelesen. Es ist mir wirklich zuwider, dir den Spaß an der Geschichte zu verderben, indem ich dir das Ende erzähle, aber das Mädchen bekommt den Prinzen.«
Elizabeth gab einen dramatischen Seufzer von sich.
»Du wirst auch noch deinen Prinzen bekommen.«
Elizabeth drehte den Kopf und sah ihre Freundin an. »Wirklich?«, fragte sie wehmütig.
»Wirklich. Wir werden bestimmt eines Tages richtige Schwestern – dafür sorgen wir schon.«
Elizabeth seufzte. »Wenn dein Bruder nur ein bisschen entgegenkommender wäre.«
»Das wird er bestimmt noch. Bei William dauert’s manchmal bloß länger, bis er etwas merkt.«
»Ich weiß, aber viele Männer in seinem Alter sind nicht bereit, sich durch eine Ehe und alles, was dazugehört, zu binden. Dazu passen allerdings nicht seine schon fast frivolen Andeutungen, ich sei genau die Art von Frau, die er heiraten würde, wenn überhaupt … Ich habe mir sein Interesse doch nicht nur eingebildet, oder?«
»Nein! Er hat noch nie eine Frau so galant behandelt wie dich.«
Ein Schauer ging durch ihren Körper, als Elizabeth sich daran erinnerte, wie wundervoll es sich angefühlt hatte, von William wahrgenommen zu werden. Sie war nervös und aufgeregt gewesen – und so erpicht darauf zu erfahren, was als Nächstes zwischen Mann und Frau passierte. Aber sie wich zurück, gestattete sich nicht die Freiheit, es darauf ankommen zu lassen. Verzichtete darauf, das Alleinsein mit ihm zu suchen, scheute das Risiko, das sie früher bedenkenlos eingegangen wäre.
Sie wollte eigentlich nicht in die Fußstapfen der Cabots treten, durch deren Familiengeschichte sich eine lange Tradition von Skandalen zog.
Doch sie schien ihr Ziel verfehlt zu haben. Das Gemälde war nur ein neuer Beweis dafür.
»Dann werde ich also weiterhin geduldig sein«, meinte Elizabeth mit einem Seufzer. »Aber wenn ich all diese Männer sehe, die mich heiraten wollen, bin ich manchmal etwas frustriert, dass er sich nicht ebenso bemüht.«
»Du weißt doch, wie er ist«, meinte Lucy sanft.
»Das schon. Allerdings habe ich meine ganze Kindheit lang darauf gewartet, endlich erwachsen zu werden, damit William mich endlich bemerkt. Das tut er zwar jetzt, jedoch nicht genug und nicht richtig.« Schmollend verzog Elizabeth die Lippen.
Lucy kicherte. »Lass ihm Zeit.«
»Das sagst du immer, und zwar schon seit einer Ewigkeit.«
Lucy stieß sie lachend an. »Wie ich höre, hattest du heute jede Menge Besuch.«
»Ich muss gestehen, dass es mehr als sonst waren.«
Während sie über die Vorzüge ihrer Verehrer sprachen, aßen sie Kuchen und tranken Tee, um sich für den heutigen Ball zu stärken. Lachend zogen sie über die Männer her, sodass Elizabeth sich eine Weile von ihren Sorgen ablenken ließ.
Schließlich erhob sich Lucy und setzte ihre Haube auf. »Ich sehe dich dann heute Abend. Mein Bruder sagte, er würde ebenfalls da sein«, fügte sie zuckersüß hinzu.
Elizabeth lachte. »Dann muss ich ja auf jeden Fall kommen.«
»Und ich verspreche, dich über seine gesellschaftlichen Termine auf dem Laufenden zu halten – er muss es einfach irgendwann merken, dass du die perfekte Wahl für ihn wärst.«
Elizabeths Stimmung hob sich. Sie würde in Williams Armen tanzen … und Peter zappeln lassen.