Kapitel 19

Sobald Mary Anne wieder alleine war, ging Elizabeth zu ihr hinüber.

»Ich hoffe, Lord Thomas Wythorne hat Sie nicht belästigt«, sagte Elizabeth. »Er kann sehr hartnäckig sein.«

»Ich halte ihn für ausgesprochen selbstbewusst, und das gefällt mir.« Mary Anne legte die Noten beiseite, um sich ganz auf das Gespräch mit Elizabeth zu konzentrieren. Ihr Tonfall klang nicht angriffslustig, sondern nur sehr bestimmt. »Ich habe ihn für heute Abend eingeladen.«

Elizabeth sah sie völlig entgeistert an. »Ich verstehe nicht …«

»Ich habe ihm eine handgeschriebene Einladung geschickt. In der Oper fiel er mir auf, weil er Sie und Peter die ganze Zeit beobachtete, und ich wollte, dass er sich mit eigenen Augen davon überzeugt, wie glücklich Sie beide miteinander seid. Allerdings wirkten Sie an dem bewussten Abend nicht sonderlich glücklich.«

»So ist das also.« Wenn der letzte Satz eine Anspielung sein sollte, dass sie mehr erfahren wollte, dann würde sie lange warten müssen. »Mary Anne, Paare sind nicht immer und ständig einer Meinung. Sie wissen, wie glücklich Peter und ich miteinander sind.«

»Sagt man zumindest.«

»Lord Thomas … Ich weiß, Sie denken, er könnte Ihr Freund sein, weil Sie eine Partie Billard mit ihm gespielt haben, aber …« Sie verstummte. Schließlich konnte sie kaum Andeutungen über seine Drohungen machen.

»Sprechen Sie es doch einfach aus«, sagte Mary Anne kühl. »Sie sind ja nicht gerade ein schüchterner Mensch.«

»Sie kennen mich nicht sonderlich gut, Mary Anne, und das lässt sich innerhalb von ein paar Tagen nicht ändern. Doch ich mache mir Sorgen um Sie. Thomas Wythorne kann skrupellos sein, wenn er etwas will.«

Überrascht nahm sie zur Kenntnis, dass Mary Anne zu kichern begann.

»Elizabeth, Sie wissen ganz genau, dass er von mir bestimmt nichts will.«

»Wissen Sie so genau, was er will?«

»Heute Abend wollte er, dass ich ein Lied aussuche, das er nach dem Essen vorzutragen beabsichtigt. Können Sie sich das vorstellen? Normalerweise singen nur die Damen.«

»Lord Thomas neigt dazu, immer das zu tun, was ihm gerade in den Sinn kommt, ohne sich großartig Gedanken über die Folgen zu machen.«

»Ich werde mir meine eigene Meinung bilden müssen. Aber ich danke Ihnen, dass Sie mir gesagt haben, wie Sie über ihn denken.« Mary Anne nickte höflich und entfernte sich, eine mehr als verwunderte Elizabeth zurücklassend.

Ihr fiel auf, dass Wythorne sie beobachtete, und als er sich ihr nach dem Essen näherte, schlug ihr das Herz bis zum Hals, und ein Gefühl von Panik machte sich in ihr breit. Wie immer wenn es um Männer ging. Außer natürlich sie traf sie am Billardtisch. Das war etwas anderes, da befand sie sich auf vertrautem Terrain.

»Miss Derby«, sagte er und nickte ihr zu.

»Mylord«, erwiderte sie mit fester Stimme. »Ich warte immer noch auf Ihr Lied.«

Er lachte leise. »Ich dachte, wir unterhalten uns zuerst über den Abend in der Oper.«

Sie erinnerte sich daran, wie er damals mit finsterer Miene den Streit zwischen ihrem Bruder und Elizabeth aus der Ferne verfolgte. Wollte er sie vielleicht für sich? Es kam ihr vor, als hielte die ganze Stadt Elizabeth für den Inbegriff von Weiblichkeit.

»Gut. Mich interessiert sowieso, warum sie meinem Bruder und seiner Verlobten nachspioniert haben«, sagte Mary Anne.

Er zog eine Augenbraue hoch und lächelte sie an. »Eine Frau, die sagt, was sie denkt – das gefällt mir. Und es ist einer der Gründe, warum ich Lady Elizabeth so schätze. Ich habe ihr einmal den Hof gemacht.«

»Hat das nicht jeder Mann?«, entgegnete Mary Anne leichthin und musste an Elizabeths Warnungen denken.

»Ich habe sogar um ihre Hand angehalten«, fuhr er mit dünnem Lächeln fort, »aber sie hat mich abgewiesen.«

Es überraschte Mary Anne, dass er ihr etwas so Persönliches erzählte: »Das war bestimmt sehr kränkend für Sie. Bestimmt hielten Sie sich für den perfekten Bewerber um die Hand einer Lady von herzoglichem Geblüt.«

Er stieß ein freudloses Lachen aus. »Das muss ich wohl tatsächlich angenommen haben, denn die Zurückweisung war ein herber Schlag für meinen Stolz.«

»Und das ist der Grund, warum Sie den beiden nachspionieren?«

»Sagen wir es so: Ich wollte die beiden zusammen erleben, um mir darüber klar zu werden, was ich von ihnen als Paar halte. Denn wenn eine Frau mich haben kann und sich stattdessen für einen Bürgerlichen entscheidet …« Er grinste und spreizte die Finger.

»Sie sind schon ein besonderer Typ, Mylord.« Sie konnte es nicht fassen, dass sie sich so freimütig mit einem Mann unterhielt. Es war beängstigend und befreiend zugleich.

Er schaute sie erstaunt an, und sie dachte, dass nicht viele Frauen so offen mit ihm redeten. Nicht einmal Elizabeth vermutlich.

»Ich habe Ihnen mein Innerstes offenbart«, sagte er. »Jetzt sind Sie an der Reihe. Warum haben Sie die beiden beobachtet?«

Sie zögerte. »Sie haben gestritten – worüber, das weiß ich nicht, aber ich will, dass mein Bruder glücklich wird.«

»Weil Ihnen wie mir klar ist, dass diese Verbindung ungewöhnlich ist.« Er schaute sich um, um sicherzugehen, dass keiner in der Nähe war. »Sind die beiden denn glücklich?«

»Ich kann nur für meinen Bruder sprechen – ja, er ist glücklich.«

Eine Schar junger Damen beendete das Gespräch. Sie umringten Thomas Wythorne und forderten den versprochenen Liedvortrag ein. Als er schließlich mit seinem tiefen, weichen Bariton zu singen anfing, ertappte Mary Anne sich dabei, dass es genauso faszinierend klang wie seine ein wenig träge, dabei sinnliche Sprechstimme. Elizabeth hingegen beobachtete den Vortrag mit völlig ausdrucksloser Miene, während Peter seinerseits sie nachdenklich musterte.

Was ging hier vor, fragte Mary Anne sich.

Spät am Abend, nachdem die Gäste seiner Verlobungsfeier sich verabschiedet hatten, suchte Peter noch seinen Club auf, wo er zu seiner großen Erleichterung auch Lord Thurlow antraf. Endlich ein Mensch, mit dem er offen reden konnte.

Er nahm gegenüber dem jungen Viscount Platz, der seine Zeitung zusammenlegte und ihn anlächelte. »Guten Abend, Derby.«

Im Laufe der vergangenen Monate hatte Peter gelernt, Thurlows Meinung in jeder Hinsicht zu vertrauen, und obwohl sich das normalerweise auf die Eisenbahn bezog, ging es ihm heute Abend um ein anderes Thema.

»Sie suchen doch bestimmt nicht schon Ruhe und Frieden vor Ihrer Verlobten, oder?«

»Nein, das nicht«, erwiderte Peter, der sich vergeblich um einen leichten Tonfall bemühte, »aber würde es Ihnen etwas ausmachen, mir eine Frage zu beantworten?«

»Gerne, wenn ich kann.«

Peter senkte die Stimme, wenngleich kaum einer der anderen, die Karten spielten oder trinkend beisammensaßen, sie belauschte. »Kennen Sie Thomas Wythorne?«

»In der Tat, allerdings nicht sehr gut. Eigentlich weiß ich nur das, was man so über ihn hört.«

»Das ist genau das, was ich wissen möchte. Mir ist lediglich bekannt, dass er als arrogant gilt und aus einer sehr angesehenen, reichen und mächtigen Familie stammt.«

»Ja, genauso ist es.«

»Gibt es dazu noch mehr zu sagen?«

Thurlow musterte ihn eine Weile schweigend, und Peter sah sich zu einer Erklärung gezwungen. »Er hat Lady Elizabeth einen Antrag gemacht, den sie ablehnte.«

»Ich war mir nicht sicher, ob Sie das wissen«, sagte Thurlow. »Er wollte es nicht an die große Glocke hängen.«

»Das überrascht mich nicht. Besonders die Mächtigen sind verletzt, wenn sie abgewiesen werden.« Er dachte an Elizabeths steife, beinahe ängstliche Förmlichkeit, als sie sich mit Wythorne unterhielt. Und an das Interesse des jungen Lords an Mary Anne. »Was wissen Sie über ihn als Mensch?«

»Soweit ich gehört habe, ist er ein ehrlicher Geschäftspartner, wobei allerdings mehr sein älterer Bruder, der Titelerbe, in Erscheinung tritt. Der Jüngere tut sich eher beim Wetten hervor.«

»Sie meinen Pferde oder Karten?«

»Ja, davon abgesehen ist er immer dabei, wenn es um völlig verrückte Sachen geht. Wie zum Beispiel eine Wette, welche Frau der und der Adlige als Nächste zur Mätresse nimmt oder ob der und der Bastard von irgendjemandem anerkannt wird.« Thurlow verschränkte die Arme vor seiner breiten Brust und runzelte die Stirn. »Ich halte so etwas für vulgär und unangebracht. Noch dazu empörend für seine Familie, die ihn vielleicht deshalb nicht ganz für voll nimmt und ihn gerne wie ein unartiges Kind zu behandeln scheint.«

Peter verzog das Gesicht. »Wie verhält er sich, wenn er verliert?«

»Das tut er nie. Weil er eine Niederlage nicht ertragen kann, wettet er nur, wenn er sich sicher ist.«

Aus welchem Grund aber trieb er sich überhaupt noch in Madingley House herum? Spann er Intrigen, um sich für seine Zurückweisung zu rächen? Peter lief plötzlich ein kalter Schauer über den Rücken, und immer deutlicher erkannte er, dass die Scheinverlobung irgendwie mit Wythorne zu tun haben musste.

Wie sollte er bloß Einzelheiten erfahren, solange Elizabeth sich in Schweigen hüllte?

Plötzlich erspähte er Lord Dekker, ebenfalls Mitglied und Stammgast des Clubs, der soeben in den Salon schwankte und auf einen Tisch zusteuerte. Ihn schickte der Himmel. Schließlich hatte er sich vor Kurzem im Club mit Freunden irgendwie zweideutig über Elizabeth unterhalten. Peter war so empört über die Beleidigungen gewesen, dass er die Einzelheiten schon wieder vergessen, jetzt indes das Gefühl hatte, dass ihm ein wichtiger Hinweis entgangen war.

Er bedankte sich bei Thurlow für seine Auskünfte und erhob sich.

»Sie sehen ziemlich gefährlich aus, Derby«, meinte Thurlow. »Überlegen Sie sich genau, was Sie tun wollen.«

»Ich habe schon viel zu lange überlegt. Es ist an der Zeit, etwas zu unternehmen.«

Er wusste, dass er auf der richtigen Spur war, als er sich Dekker näherte. Das betrunkene Grinsen verschwand von seinem Gesicht, als er Peter begrüßte, der sich sogleich einen Stuhl heranzog und ungefragt rittlings darauf Platz nahm.

Dekker zögerte. »Gut, der Stuhl war eigentlich für Seton, aber er kann sich auch einen neuen holen.«

»Bis er mit seiner Unterhaltung dort drüben fertig ist, sind wir es ebenfalls.«

Dekker grinste. »Habe gehört, dass Sie bald heiraten. Die beste Partie der Saison. Eigentlich die beste seit Jahren«, sagte er. »Ich habe ihr allerdings nie den Hof gemacht.«

»Nein, Sie wollten sie bloß einmal auf die Terrasse ziehen, um mit ihr alleine zu sein. Neulich war davon in meiner Gegenwart die Rede.«

Dekker verging das Grinsen. »Ich dachte, ich könnte sie vielleicht küssen. Das kann man einem Mann ja wohl nicht vorwerfen. Außerdem befanden sich viele Paare auf der Terrasse.«

»Wenn Sie möchten, dass ich Ihre beabsichtigte Kränkung meiner Verlobten gegenüber vergesse, sollten Sie mir den Namen desjenigen nennen, der sie Ihnen entführte.«

Dekkers Miene hellte sich auf. »Ganz einfach, das war Wythorne. Der wirkte ziemlich besitzergreifend. Nicht dass die Dame glücklich ausgesehen hätte, als er auftauchte.«

»Danke.« Peter stand auf, schob sich an Seton, der neugierig die Szene beobachtet hatte, vorbei und ging zur Tür.

Am nächsten Morgen suchte Peter Madingley House zum frühest angemessenen Zeitpunkt auf. Überrascht stellte er fest, dass der Butler ihn in den Billardraum führte, als er nach Elizabeth fragte. Sie stand über den Tisch gebeugt, sodass ihre Tournüre in die Luft ragte und er einen Blick auf ihre Knöchel erhaschen konnte. Sie wollte gerade zu einem Stoß ansetzen, hielt jedoch das Queue nicht richtig. Peter musste schlucken, als er daran dachte, was man alles auf dem Tisch so machen könnte. Sie schaute auf, und der Butler zog sich diskret zurück, während Peter in den Raum trat und die Tür hinter sich schloss.

Elizabeth richtete sich mit großen Augen auf. »Du solltest die Tür ein Stück offen lassen.«

»Wen kümmert’s, denn schließlich trägst du meinen Ring am Finger.«

»Mich vielleicht?«

»Wir müssen uns unter vier Augen unterhalten.« Er kam langsam auf sie zu. »Du lernst Billardspielen?«

»Ich dachte, es könnte dabei helfen, Mary Annes Freundschaft zu erringen.«

»Du willst immer noch eine Gegenleistung dafür erbringen, dass ich deinen Verlobten spiele?«

Sie richtete sich auf. »Willst du damit andeuten, dass ich es nicht ehrlich meine?«, sagte sie und erschrak sogleich über ihre Worte. »Ach, Peter, verzeih mir. Ich will mich nicht streiten, aber ich bin völlig verwirrt. Alles ist so kompliziert geworden.«

»Und das Ganze hat mit Thomas Wythorne angefangen.«

Sie wurde blass und legte das Queue langsam auf den Tisch. »Was meinst du damit?«

»Als ich dich mit ihm zusammen beobachtete, kam mir der Verdacht, dass er in die Sache verwickelt sein könnte. Dann fand ich heraus, dass du seinen Antrag abgewiesen hast, und konnte mir ausrechnen, dass er nicht zu der Sorte Mensch gehört, die so etwas auf die leichte Schulter nimmt.«

Sie ließ sich gegen den Billardtisch sinken und sah zu Boden. »Das tut er nicht«, bestätigte sie mit leiser Stimme.

Peter nahm ihr Gesicht in beide Hände und hob es an, damit sie ihm in die Augen schaute. »Hat er dich unter Druck gesetzt?«

Sie löste sich von ihm und ging zum Fenster. Er folgte ihr.

»Lass es sein, Peter. Kümmere dich nicht darum«, sagte sie und schob den Vorhang zur Seite, um nach draußen zu schauen.

Er riss den Stoff aus ihrer Hand, wirbelte sie zu sich herum und legte ihr beide Hände auf die Schultern.

»Es soll mich nicht kümmern?«, rief er. »Wie konntest du mir so etwas bloß verschweigen?«

»Sollte ich etwa dafür sorgen, dass du ihn im Namen meines Bruders herausforderst? Was hätte das wohl gebracht, außer dass du womöglich verletzt worden wärst?«

»Ich hätte ihn allein deinetwegen herausgefordert, nicht um die Ehre deines Bruders zu verteidigen«, erklärte er wütend.

»Genau, und das wusste ich. Aber ich konnte und wollte das nicht zulassen. Deshalb beschloss ich, mein Problem selbst zu lösen.«

»Womit hat er dir gedroht? Wollte er dich ruinieren? Schande über dich bringen?«

Sie seufzte. »Er wollte mich heiraten.«

Peter blinzelte überrascht.

»Er will mich nach wie vor heiraten, um unsere Familien miteinander zu verbinden. Es geht ihm dabei nur ums Ansehen, denn er liebt mich nicht. Oder anders ausgedrückt: ums Prinzip. Er will einfach nur das haben, was ihm verweigert wurde.«

»Du weißt, dass ich nie etwas gegen deinen ausdrücklichen Willen getan hätte. Und trotzdem hast du mir nicht vertraut.«

»Es war mir alles so peinlich«, flüsterte sie und schloss die Augen. »Wegen des Gemäldes hattest du mir schon Leichtsinn vorgeworfen, und ich meinerseits war wütend wegen dieser dummen Wette … Ach, aber das alles ist ja gar nicht das Hauptproblem. Ich merkte einfach, dass du recht hattest, und das wollte ich einfach nicht wahrhaben.«

»Du hast Fehler gemacht, das tun wir alle.« Er war da nicht anders als sie, und ihm dämmerte langsam, dass es auch bei ihm Dinge gab, die er nicht wahrhaben wollte, die ihm bloß in seinen Albträumen in ihrer ganzen Tragweite vor Augen standen. »Womit hat Wythorne dir überhaupt gedroht?«

Elizabeth seufzte. »Das ist ebenfalls so ein Punkt, weswegen ich es dir nicht sagen wollte. Es ging um das Gemälde. Irgendwie hat er davon Wind bekommen und ließ mich wissen, er werde dafür sorgen, dass niemand sonst davon erfährt, sofern ich ihn heirate. Andernfalls sei der Skandal perfekt. Du hattest mir genau aus diesem Grund meinen Leichtsinn vorgehalten, und prompt passiert es.«

»Also muss noch jemand anders davon wissen? Dekker?«

Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Bisher hat sich keiner in dieser Hinsicht geäußert, und Wythorne nannte keinen Namen. Er ging felsenfest davon aus, dass ich ihn unter diesen Umständen bestimmt heiraten würde. Aber das wollte ich nicht, und weil mir nichts anderes einfiel, habe ich ihm erzählt, dass ich verlobt sei. Natürlich glaubte er mir nicht, und deshalb musste es echt wirken.«

Sie schwieg eine Weile, bevor sie fortfuhr. »Nachdem er weg war, zermarterte ich mir das Hirn, um eine Lösung für den Schlamassel zu finden, den ich angerichtet hatte, und da fielst du mir ein. Ich wollte dich nie verletzen und habe es durch meine Gedankenlosigkeit doch getan. Ich bin nicht besser als Thomas.«

»Wovon redest du überhaupt?«

»Begreifst du denn nicht?« Sie beugte sich vor und drückte ihre Hände gegen seine Brust. »Ich bin genau wie Thomas, weil ich ebenfalls immer alles bekomme, was ich mir in den Kopf setze. Und wenn es mal nicht so läuft wie geplant, dann greife ich wie er zu miesen Tricks.«

Er griff nach ihren Händen, die immer noch auf seiner Brust ruhten. »Elizabeth, geh nicht so hart mit dir ins Gericht.«

»Es stimmt doch. Als Thomas nicht das bekam, was er wollte, verlegte er sich auf Drohungen und Einschüchterungsversuche. Meine Reaktion war eine Scheinverlobung, um über Thomas zu triumphieren und um einen anderen für mich zu gewinnen. Beide denken wir nicht an die Gefühle anderer Menschen, sondern nur an unseren eigenen Vorteil. Solange wir unseren Willen bekommen, ist alles gut.«

»Du warst verzweifelt, Elizabeth.«

»Und ich habe dich benutzt! Und tue es immer noch, die ganze Zeit. Was kann ich unternehmen, um nicht mehr diese Schuld auf mich zu laden?«

Er starrte sie an und wünschte sich sehnsüchtig, er könnte ihr sagen, dass er eine echte Verlobung wollte. Doch er fürchtete sich davor, sie gänzlich zu verprellen und für immer zu verlieren. Was sie brauchten, das war ein echter Neuanfang. Ohne Täuschungsmanöver und Scheinverlobungen, aber auch ohne gemeine, kränkende Wetten.

Er hoffte inständig, dass es ihnen gelingen würde.

Er trat zurück, ließ ihre Hände los. »Das Einzige, was wir jetzt tun können, besteht darin, diese Scheinverlobung zu beenden, wie wir es von Anfang an geplant haben.«

Ein merkwürdiger Blick aus ihren Augen traf ihn, und er wusste nicht zu sagen, was er ausdrückte. War es Erleichterung oder Schmerz?

Erleichterung, dass die Lügen ein Ende haben würden, oder Schmerz, weil sie nicht mehr so eng verbunden wären? Letzteres zu glauben verbot er sich und hoffte dennoch wider alle Vernunft darauf, wenn er an die Nähe, die Intimitäten und die Leidenschaft dachte, die sie geteilt hatten.

»Wir werden so tun, als ob die Spannungen zwischen uns wüchsen«, fuhr er fort. »Bestimmt wurden unsere Differenzen in der Oper bereits registriert. Zudem schränke ich künftig meine Besuche bei dir ein.«

»Oh«, sagte sie bloß und runzelte die Stirn, sank dann auf einen Stuhl neben dem Fenster. »Weißt du, was ich mittlerweile über mich selbst erkannt habe, Peter?«

Er setzte sich neben sie.

»Weil ich mein ganzes Leben lang sicher und behütet war, bin ich letztlich unfähig, für mich selbst einzustehen. Ich habe dich letztlich zu einer Verlobung überredet, um stellvertretend für meinen Bruder in dieser Situation einen Beschützer an meiner Seite zu haben.«

»Du weißt doch, dass ich immer für dich da bin, Elizabeth.«

»Ja schon, aber trotzdem muss ich für mich selbst einstehen können. Und für meine Fehler oder die Folgen meines Leichtsinns. Ich denke, ich sollte meinem Bruder die Wahrheit über das Gemälde erzählen. Dann bin ich eine Last los, die mir auf der Seele liegt, und zugleich nicht mehr erpressbar.«

»Du solltest gut darüber nachdenken. Ich weiß nicht, wie Christopher die Sache beurteilt. Denk noch einmal darüber nach.«

»Das werde ich. Ich habe ja noch ein wenig Zeit. Wichtig ist bloß, dass ich die volle Verantwortung für den ganzen Schlamassel übernehme. Verstehst du das?«

Er hob beide Hände. »Vollkommen.«

Und dann sah er sie einfach nur noch an.

»Was ist?«, fragte sie schließlich.

»Du trägst die Verantwortung. Also sag mir, was wir tun sollen.«

Sie dachte einen Moment lang nach und trommelte dabei mit den Fingerspitzen auf die Armlehne. »Ich denke, du solltest aus dem Zimmer stürmen und die Tür hinter dir zuknallen.«

»Und was sagst du, worüber wir uns gestritten haben?«, fragte er sanft.

Sie überlegte. »Haben wir irgendetwas getan, das jetzt zwischen uns steht?«

»Küssen.«

Sie sahen einander einen langen, sinnlichen Moment schweigend an.

Sie schüttelte den Kopf. »Darüber können wir uns nicht streiten.«

»Warum nicht?«

»Das ist … zu persönlich.« Sie wich seinem Blick aus.

»Dann vielleicht darüber, dass es dir zu sehr gefällt. Erinnerst du dich? Du wolltest alles, was ich dir beibringe, eigentlich an William ausprobieren.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, nein, ich habe meine Meinung geändert. Ich könnte unmöglich … Nein, niemals …«

Das, was sie geteilt hatten, mit einem anderen tun? Seine Hoffnung, sie vielleicht doch für sich zu gewinnen, stieg. Wenn sie William nicht küssen wollte, dann war das ein gutes Zeichen. Ein sehr gutes sogar, wie er fand.

»Was ist mit Geld als Streitthema?«, fragte sie.

»Das würde glaubwürdig klingen zwischen einem Bürgerlichen und der Tochter und Schwester eines Duke.«

»Gut. Ein perfekter Grund, warum es zu Spannungen zwischen uns kam.« Sie klang etwas zuversichtlicher.

»Aber du weißt, dass es deshalb nie welche zwischen uns geben würde, nicht wahr?«, fragte er ernst.

»Ich weiß«, sagte sie und schaute weg.

Peter stützte sich auf die Armlehnen und stand auf. Er ging quer durch den Raum, öffnete die Tür und schaute in beide Richtungen. Obwohl er niemanden sehen konnte, wusste er, dass die langen, hallenden Flure den Lärm durchs ganze Haus tragen würden.

Er stand in der offenen Tür und sagte laut: »Darüber werden wir reden, wenn dein Bruder zurück ist.«

Elizabeth kam schnell zur Tür gerannt. »Das hast nicht du zu bestimmen«, rief sie, schlug sich die Hand vor den Mund und sah ihn mit großen Augen an.

»Das werden wir sehen.« Er verbeugte sich und schenkte ihr noch ein kurzes Lächeln, ehe er zur Tür hinausmarschierte und sie hinter sich zuknallte.

Es war nicht schwer, mit finsterer Miene durchs Haus zur Eingangstür zu gehen. Das Ende ihrer Scheinverlobung war eingeläutet. Nur konnte er eine echte herbeiführen?

Dienstboten schauten ihm verwundert nach, desgleichen Abigail, die junge Duchess of Madingley, aber er ging wortlos an ihnen vorbei. Jetzt musste er überlegen, wie es weitergehen sollte. Was nicht zuletzt von Elizabeth abhing, die zunächst einmal erleichtert schien, dass Täuschungen und Ausnutzen ein Ende hatten.

Er musste ihr beweisen, dass sie Unrecht hatte mit ihren Selbstvorwürfen.