Kapitel 23
Als Mary Anne am Nachmittag des nächsten Tages zufällig hörte, dass Elizabeth gekommen war und ihren Bruder sprechen wollte, eilte sie sogleich die Treppe hinunter in die Eingangshalle.
»Peter ist nicht da«, rief sie und griff nach der Hand der Besucherin. »Aber ich muss mit Ihnen reden. Kommen Sie mit in mein Zimmer.«
Elizabeths verblüffte Miene ignorierte sie, während sie sie mit sich zog. In ihrem Schlafzimmer wies sie ihr einen Sessel vor dem Kamin zu und ließ sich gegenüber nieder. Sie bemerkte, dass Elizabeth sich neugierig in ihrem Zimmer umschaute, und vermutete, dass sie die Einrichtung nicht sonderlich weiblich fand. Kein Schnickschnack, kein Nippes und keine Erinnerungsstücke an Kinder- und Mädchentage. Mary Anne hatte auf so etwas noch nie Wert gelegt.
Langsam setzte Elizabeth ihre Haube ab, während sie Peters Schwester forschend musterte und auf eine Erklärung wartete. Die zunächst ausblieb, weil die junge Frau nicht wusste, wie sie anfangen sollte.
»Gibt es etwas, das Sie mir erzählen möchten?«, ergriff Elizabeth schließlich die Initiative.
»Lord Thomas Wythorne hat mich eingeladen, ihn heute Abend nach Vauxhall Gardens zu begleiten«, sprudelte es plötzlich aus Mary Anne heraus. Um sogleich fragend aufzuschauen, weil sie Missbilligung in Elizabeths Gesicht zu entdecken fürchtete.
»Ich bin noch nie da gewesen«, fuhr sie hastig fort. »Ich habe von der Rotunde gehört, wo Ballettaufführungen stattfinden, von den durch farbige Lampen beleuchteten Wegen und den eindrucksvollen Säulengängen. Gibt es da wirklich einen Teich, aus dem Neptun mit acht weißen Seepferdchen aufsteigt?«
»Den gibt es, aber ich muss Sie warnen …«
»Ich würde natürlich maskiert hingehen und sogar eine Zofe mitnehmen. Lord Thomas hat das übrigens vorgeschlagen«, fügte sie hinzu, als müsse sie darauf hinweisen, dass er auch seine guten Seiten habe.
»Sie würden nur mit ihm hingehen?«
»O nein! Er sagte, mehrere andere Paare seien ebenfalls mit von der Partie. Wir werden in einem Separee essen und dabei den Akrobaten zuschauen. Ich habe noch nie Berufsakrobaten gesehen, nur Straßenkünstler.«
»Das hört sich zwar alles sehr aufregend an, doch ist Ihnen bewusst, dass Lord Thomas älter und entsprechend erfahrener ist als Sie?«
»Das weiß ich.« Seit der Einladung wurde Mary Anne deshalb von Ängsten geplagt, hatte es andererseits satt, sich vor allem und jedem zu fürchten. Ausnahmsweise einmal wollte sie sich wie eine ganz normale, unbefangene junge Frau fühlen.
»Es ist sehr leicht, jemanden vom rechten Weg abzubringen«, fuhr Elizabeth fort. »Und ein leichtsinniger Fehler kann einen bis ans Ende seiner Tage verfolgen.«
Mary Anne sah Elizabeth an und bemerkte deren erhitzte Wangen. »Ein leichtsinniger Fehler?«, fragte sie voller Neugier.
Elizabeth holte tief Luft. »Ich bin einmal leichtsinnig auf etwas eingegangen, das ich jetzt zutiefst bedauere. Ich würde es Ihnen gerne erzählen, sofern Sie mir versprechen, mit keinem darüber zu reden. Peter weiß natürlich Bescheid.«
Fasziniert beugte Mary Anne sich auf ihrem Sessel nach vorne und war ganz Ohr. Die gesittete, perfekte Lady Elizabeth sollte tatsächlich etwas Leichtsinniges getan haben? Das konnte sie kaum glauben!
»Sie wissen sicherlich, dass meine Cousine Susanna Künstlerin ist, oder?«
Mary Anne nickte.
»Ein Freund von ihr suchte nach einem Modell, nach jemandem, den er noch nie gemalt hatte. Ich ließ mich aus Gefälligkeit dazu überreden.«
Mary Anne sah sie verwirrt an. »Was soll daran leichtsinnig sein, für ein Porträt zu sitzen?«
»Es ist leichtsinnig und skandalös, wenn man sich … nackt malen lässt.« Elizabeth seufzte und lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück, während Mary Anne sich die Hand vor den Mund schlug und einen kleinen Entsetzensschrei ausstieß. »Sie meinen doch wohl nicht etwa …«, brachte sie schließlich zögernd heraus.
»Genau das meine ich. Nackt. Bis auf ein Tuch, das allerdings nicht allzu viel bedeckte.«
Und dann, nach der ersten Schrecksekunde, brach Mary Anne in lautes Gelächter aus.
Elizabeth öffnete die Augen wieder und schaute sie finster an. »Keiner sollte je davon erfahren! Das Gemälde war für eine Privatsammlung in Frankreich bestimmt.«
»Und wer weiß jetzt davon?«, fragte Mary Anne, während sie sich die Tränen aus den Augen wischte.
»Das Gemälde hängt hier in London.«
Mary Anne schnappte nach Luft. »Was ist denn aus der französischen Privatsammlung geworden?«
»Das Geschäft platzte. Der Künstler war verzweifelt und musste es aus Geldmangel hier verkaufen – an den Club Ihres Bruders.«
»Dann hat Peter es also gesehen?«
Elizabeth nickte erschöpft.
»Und er weiß …?«
Wieder ein Nicken.
»Kein Wunder, dass er Sie heiraten will.« Sie hob beide Hände, als Elizabeth sie leicht indigniert anstarrte. »Es ist nicht fair von mir, mich darüber lustig zu machen. Es ist Ihnen peinlich, oder?«
»Ich dachte, es sei das Risiko wert. Ich wollte etwas ganz Außergewöhnliches tun, vielleicht sogar etwas Verruchtes. Haben Sie nie den Wunsch verspürt, sich etwas zu beweisen? Mut oder Furchtlosigkeit oder Risikobereitschaft? Wollten Sie noch nie einfach mal nur so ein Wagnis eingehen?«
Mary Annes Lächeln verschwand, und ihre Augen schauten sie flehentlich und um Verständnis bittend an. »Lord Thomas ist mein Wagnis.«
Elizabeth empfand Mitgefühl und Verständnis, aber auch Sorge. Sie hatte gehofft, Mary Anne würde die Geschichte mit dem Gemälde als Warnung verstehen, doch der Versuch schien misslungen zu sein. Eher hatte sie den Eindruck, dass die junge Frau ihren Plan, einen Abend mit Thomas und seinen Freunden zu verbringen, als harmloses Unterfangen betrachtete. Zumindest im Vergleich zu ihrem eigenen skandalösen Verhalten.
»Warum ausgerechnet Thomas Wythorne?«, fragte Elizabeth mit sanfter Stimme.
Bevor Mary Anne etwas sagen konnte, überzog eine Welle des Schmerzes und der Verzweiflung ihr Gesicht. Mit leiser Stimme sagte sie schließlich: »Ich habe noch nie jemandem davon erzählt.«
»Würde es helfen, wenn ich Ihre Hand halte?«, fragte Elizabeth behutsam.
Die Geste schien den Bann zu brechen, und Mary Anne begann seufzend zu erzählen. »Ich war vierzehn, als wir meine Tante und ihren Mann besuchten. Eines Tages blieb ich wegen Halsschmerzen zu Hause, während die anderen einen Ausritt unternahmen. Ich dachte, auch Onkel Cecil sei dabei.«
Ein ungutes Gefühl machte sich in Elizabeth breit, und sie musste sich sehr beherrschen, um gelassen weiter zuzuhören.
Mary Anne schaute aus dem Fenster, und man sah ihr an, dass sie nach den richtigen Worten suchte. »Onkel Cecil kam in mein Zimmer. Ich schlief nicht richtig und freute mich, dass jemand kam, um mir Gesellschaft zu leisten.« Ihre Stimme nahm einen monotonen Tonfall an. »Ich dachte, er wollte mir etwas vorlesen. Stattdessen wollte er … Nun ja, Sie können sich schon denken, was er wollte.«
Elizabeths Augen brannten, aber sie hielt die Tränen zurück, um Mary Annes Bericht nicht zu unterbrechen. »Erzählen Sie weiter – es wird Zeit, dass Sie sich das Ganze von der Seele reden.«
»Er drückte mich nach unten. Er berührte mich … unter meinem Nachthemd. Ich wehrte mich, doch ich war jung und schwach …« Mary Anne atmete bebend ein. »Ehe Sie jetzt falsche Schlüsse ziehen: Es kam nicht zum Äußersten, sodass er mich zumindest nicht ruinierte. Ich schlug nicht nur wild um mich, sondern es gelang mir auch, obwohl er mir den Mund zuhielt, laut zu schreien. Ein einziges Mal bloß. Immerhin reichte es, dass ein Dienstmädchen angerannt kam. Bevor sie das Zimmer betrat, drohte er mir noch, allen zu erzählen, ich hätte ihn dazu gebracht, sich mir zu nähern. Er hat mir einzureden versucht, ich trüge die Schuld. Mit Erfolg offenbar.«
»Holen Sie erst einmal ganz tief Luft«, drängte Elizabeth sie.
Mary Anne nickte und tat, wie ihr geheißen, ehe sie fortfuhr. »Dann flüchtete er durch die Terrassentür aus meinem Zimmer. Deshalb habe ich nie jemandem davon erzählt. Mein Vater war gerade erst gestorben, und da wollte ich meiner Mutter keinen zusätzlichen Kummer bereiten. Aber ich bin nie wieder in die Nähe dieses Mannes gegangen. Immer wenn ein Besuch anstand, habe ich mich krank gestellt. Das kann ich perfekt, etwa mich auf Kommando übergeben. Und ich sorgte ebenfalls dafür, dass er keine Einladung zu Ihrer Verlobungsfeier erhielt.«
Elizabeth konnte nicht anders. Sie beugte sich vor und schloss Mary Anne in ihre Arme, hielt sie, bis das Zittern allmählich nachließ.
»Sie sind so tapfer gewesen, Mary Anne, und haben sich selbst gerettet. Das ist wirklich alle Bewunderung wert.«
»Schon möglich, doch ich habe mir von ihm mein Leben nehmen lassen«, erwiderte sie. »Lange Zeit konnte ich Männer nicht einmal ansehen. Stattdessen konzentrierte ich mich voll und ganz aufs Billardspiel. Weil es etwas ist, das ich kontrollieren kann.«
»Warum ausgerechnet Billard?«
»Onkel Cecil spielt Billard«, erklärte sie mit einem Anflug von Bitterkeit. »Jetzt beherrsche ich es besser als er.«
»Ich verstehe.«
»Wirklich?«, fragte Mary Anne und sah sie forschend an. »Einerseits habe ich jedes Mal Angst, wenn Lord Thomas mich anschaut. Obwohl er sich mir gegenüber immer wie ein Gentleman benommen hat, und in Vauxhall Gardens werde ich schließlich nicht alleine mit ihm sein.«
Elizabeth überlegte kurz, Mary Anne von Thomas’ Erpressungsversuch zu erzählen, verzichtete indes darauf, weil seine Reue sehr echt geklungen hatte. Und wer war sie, anderen ihre Fehler nachzutragen? Sie musste Thomas die Chance zugestehen, seinen Sinneswandel unter Beweis zu stellen.
»Ich bin zwar immer noch der Meinung, dass es besser wäre, nicht hinzugehen«, sagte Elizabeth, »aber wenn es Ihnen so wichtig ist, achten Sie zumindest darauf, sich nicht auf ein Stelldichein zu zweit einzulassen. Denn Sie wollen ja nicht, dass Ihr Ruf Schaden nimmt.«
»Denken Sie daran: Ich trage eine Maske.«
»Und denken Sie daran, dass selbst Masken nicht narrensicher sind. Sie könnten sich in irgendeiner Weise verraten.«
»Das werde ich nicht.«
»Nun gut. Nur eines noch: Ich weiß, dass Sie Ihre Familie mit Ihrem Schweigen schonen wollten, weil Sie sie lieben. Trotzdem bin ich der Meinung, dass sie es wissen müsste. Auch jetzt noch. Denken Sie darüber nach.«
»Das werde ich. Und gibt es etwas, dass ich Peter von Ihnen ausrichten soll?«
»Bitten Sie ihn, mich zu besuchen.«
Als Peter früh am Abend desselben Tages durch die Balkontür trat, war Elizabeth gerade dabei, sich für das Abendessen umzuziehen. Sie verschlang ihn mit ihren Blicken, als sei es Wochen und nicht erst ein paar Tage her, dass sie ihn das letzte Mal alleine gesehen hatte.
Es war ihr egal, ob jemand beobachtete, wie er zur Balustrade hochkletterte, denn schließlich galten sie ja als verlobt. Und mehr als das: Peter gab ihr das Gefühl, die wichtigste Frau auf der ganzen Welt zu sein – der Mittelpunkt seines Denkens und Fühlens, seines Lebens.
Ob er nun ernst oder lustig war, sie liebte und bewunderte ihn wegen seines Wesens und für das, was er sich durch eigene Anstrengungen geschaffen hatte. Doch gleichgültig ob mittellos wie früher oder wohlhabend geworden durch kluge Geschäfte – Peter war für sie der wertvollste Mensch, den sie sich vorstellen konnte.
Sie wusste nicht, wo sie anfangen und was sie sagen sollte. Am Ende schloss sie einfach nur die Tür ab, rannte zu ihm und warf sich in seine Arme. Sie küssten sich voll verzweifeltem Verlangen, und ihre Hände berührten einander, liebkosten sich.
Er murmelte ihren Namen, während seine Lippen ihren Mund suchten. »Ich weiß, dass es noch früh ist. Aber ich konnte es nicht erwarten, wieder bei dir zu sein. Nur könnte es peinlich werden, wenn man uns zusammen erwischt.«
»Wir sind verlobt, und nichts anderes zählt. Liebe mich, Peter, bitte, liebe mich.«
Sie trug nur ihren Morgenmantel, mit dem er kurzen Prozess machte, und sobald auch er seine Kleidung abgelegt hatte, lagen sie sich nackt in den Armen. Bei hellem Tageslicht, das alles enthüllte. Sie mussten leise sein, weil um diese Zeit noch reger Betrieb im Haus herrschte, doch der Reiz des Verbotenen steigerte ihr Verlangen nur.
Peter ließ sich rückwärts aufs Bett fallen und zog sie auf sich. Sie keuchte, weil diese Position neu für sie war. Rittlings saß sie auf seinen Lenden, und er spürte die Feuchtigkeit ihres Schoßes.
»Bist du etwa schon bereit für mich?«, flüsterte er, stieß ein ersticktes Lachen aus und griff nach ihren Brüsten. Sie warf den Kopf nach hinten und drängte ihm ihren Busen entgegen, während sie sich ganz den Empfindungen hingab, die er mit seinem Mund und seinen Händen bei ihr auslöste. Er spielte mit ihren Spitzen, massierte und knetete sie sanft, bis sie sich wand. Dabei spürte sie, wie seine Männlichkeit sich steif und heiß zwischen ihren Schenkeln regte, und wollte, dass er in sie eindrang.
Als sie zur Seite rutschen wollte, damit er sich leichter in sie schieben konnte, schüttelte er den Kopf und hielt sie fest.
»Hilf du mir, in dich einzudringen.«
Verwirrt sah sie ihn an. »Das geht?«
Als er nickte, hob sie die Hüften und berührte zum ersten Mal sein Glied, spürte es glatt und hart und heiß in ihren Händen.
»Sag mir, wenn ich dir wehtue«, wisperte sie unsicher.
»Du könntest mir nie …« Er atmete schnell und angespannt, während er ihr half, die richtige Stellung zu finden, damit sie sich schließlich ganz auf ihn herunterlassen konnte, um ihn zu umschließen.
Es war ein seltsames und gleichzeitig überwältigendes Gefühl, zumal diese Stellung ihr Gelegenheit gab, ihn zu beobachten – zu sehen, wie sie ihn erregte und ihm Lust bereitete.
»Mein Gott, du fühlst dich unglaublich an«, stöhnte er. »Versuch dich auf und ab zu bewegen.«
Sie besaß straffe, muskulöse Schenkel, die sie regelmäßigem Reiten verdankte, und schon bald fand sie das Tempo, das ihnen beiden taugte. Mit den Händen seitlich seines Kopfes abgestützt übernahm sie die Führung beim Liebesakt. Die Leidenschaft trieb sie zu immer schnelleren Bewegungen, unterstützt durch seine Hände, die ihre Brüste liebkosten. Sie sehnte den Höhepunkt der Lust, die Erfüllung herbei, und ihr ganzer Körper verkrampfte sich bebend, als die Woge über ihr zusammenschlug und sie mit sich riss.
Da ließ auch er sich gehen, packte ihre Hüften und zog sie mit vor Anspannung verzerrtem Gesicht bei jedem Stoß gegen sich, bis sie auf ihm zusammensank.
»O mein Gott«, stöhnte sie nur.
Sie liebte den Klang seines leisen Lachens, das seine Brust vibrieren ließ, während er ihr mit den Fingern durchs feuchte Haar an den Schläfen fuhr.
»Ich bin so froh, dass du mich gebeten hast, zu dir zu kommen«, murmelte er. »Das war der beste Grund dafür.«
»Aber es war nicht der einzige, Peter.«
Sie glitt von seinem Körper und zog die Decke bis zur Brust hoch, als sie sich hinsetzte.
In diesem Augenblick klopfte es an der Tür.
Mit großen Augen legte Elizabeth einen Finger an Peters Lippen und rief: »Teresa, bist du das?« Als ihre Zofe »Ja« rief, antwortete Elizabeth: »Ich habe Kopfschmerzen bekommen und werde mich noch für eine Stunde hinlegen. Wenn ich dich brauche, klingle ich.«
Beide schwiegen und lauschten den verhallenden Schritten.
Peter stützte sich auf den Ellbogen auf. »Also, was wolltest du sagen? Aus welchem Grund hast du mich sonst herkommen lassen?«
Elizabeth hatte zwar etwas Angst davor, ihm Mary Annes Geheimnis zu enthüllen, aber sie fand, dass er ein Recht darauf hatte, es zu erfahren. Als sie in sein Gesicht schaute, wurde ihr plötzlich klar, wie sehr sie ihm immer vertraut hatte, auch wenn ihr das früher nicht als etwas Besonderes aufgefallen war. Wie hatte sie je denken können, dass man nur mit Freunden über alles redet, nicht jedoch mit dem Menschen, den man liebt? Gerade von ihm erwartete sie jetzt solche Nähe.
Sie nahm Peters Hand, schenkte ihm ein liebevolles, beruhigendes Lächeln und erzählte ihm dann, was seiner Schwester Schreckliches angetan worden war. Sein fassungsloser, schmerzerfüllter Blick bohrte sich wie ein Dolch in ihr Herz, und sie verstand, dass er nach dieser Eröffnung nicht einfach ruhig liegen blieb. Er erhob sich und zog seine Hose an, um anschließend im Zimmer auf und ab zu gehen. Als sie ihn in die Arme nehmen wollte, schob er sie sanft von sich.
»Ich kann einfach nicht begreifen, wie jemand so etwas einem jungen Mädchen antun kann«, stieß er leise mit rauer Stimme hervor. »In der Hölle ist ein besonderer Platz für solch einen Mann vorgesehen, und ich werde gerne dafür sorgen, dass er dorthin kommt.«
»Das wirst du schön lassen, Peter. Es war ihre Entscheidung, Schweigen zu bewahren, und nur ihr Vertrauen zu mir hat sie schließlich dazu veranlasst, alles zu erzählen. Sie will keine Rache und vor allem nicht alles wieder aufwühlen. Und indem du ihn zur Rechenschaft ziehst, würden es womöglich eine Menge Leute mitbekommen. Was sie wirklich möchte, ist zu vergessen und ein ganz normales Leben zu führen.«
»Ich mache mir selbst Vorwürfe«, stöhnte er und fuhr sich mit den Händen durchs Haar. »Ich hätte einfach besser auf sie aufpassen müssen. Aber ich bin lieber nach Madingley Court gerannt, um am Unterricht deiner Brüder teilzunehmen …«
»Es passierte während eines Besuchs bei eurer Tante und eurem Onkel. Ich weiß nicht einmal, ob du dabei warst. Ganz davon abgesehen konntest du nicht jeden Moment auf sie achten. Ich denke, dass Mary Anne versucht, ihr Leben endgültig in den Griff zu bekommen.«
Abrupt blieb er stehen. »Wovon sprichst du?«
»Lass mich, ehe ich es dir erzähle, voranschicken, dass Thomas Wythorne sich gestern bei mir entschuldigt hat.«
Peter setzte eine finstere Miene auf. »Ich habe gesehen, dass er sich beim Picknick mit dir unterhielt.«
»Vielleicht hat ihn der Fechtkampf zur Vernunft gebracht«, meinte sie trocken.
Er lächelte nicht. »Ich wünschte, ich hätte ihm mehr zufügen können als eine Niederlage beim Fechten. Aber was hat das mit meiner Schwester zu tun?« Grimmig zog er die Augenbrauen zusammen. »Ich habe mir schon Gedanken gemacht, dass er Mary Anne hinterhersteigt.«
»Das ist ein unpassendes Wort, Peter, denn die beiden scheinen sich tatsächlich zueinander hingezogen zu fühlen.«
»Zueinander hingezogen?«
»Ich sagte dir doch, dass sie sich um einen neuen Anfang bemüht. Und dazu gehört, ihre Furcht vor Männern, die du jetzt endlich verstehst, zu überwinden. Nun, und sie meint, Wythorne sei der Richtige …«
»Warum ausgerechnet er?«
»Er gefällt ihr. Und überdies scheint er seine Lektion wirklich gelernt zu haben, Peter. Er hat mir offen gestanden, wie sehr er sich wegen seines Verhaltens schämt und dass er erkannt hat, wie erbärmlich das war.«
»Sehr richtig!«
»Er beging einen schlimmen Fehler, genau wie ich. Aber zumindest weiß niemand sonst von dem Gemälde.«
Peter runzelte die Stirn. »Ich dachte, es sei ihm von jemand anderem zugetragen worden.«
»Er hat gelogen«, erklärte sie fröhlich. »Er wollte mich auf diese Weise davon überzeugen, dass ich ihn brauchen würde, um die Sache geheim zu halten.« Sie legte eine Hand auf seinen Arm. »Ich habe ihm verziehen, denn ich war eigentlich noch schlimmer als er, indem ich alle anlog und dich zudem ausnutzte, Peter. Und gerade das bedauere ich am allermeisten. Jeder sollte eine zweite Chance bekommen. Du gestehst sie mir zu, Matthew hat sie dir gegeben, und ich möchte sie Thomas gewähren. Meinst du nicht auch?«
Peter blieb mitten in ihrem Zimmer stehen und starrte sie an.
Sie ging zu ihm und legte ihm sanft die Hände auf die Brust. »Ich habe dich benutzt, um einen anderen Mann zu bekommen – den, von dem ich immer dachte, dass ich ihn will. Das war unmoralisch und niederträchtig, und trotzdem hast du mir vergeben.«
»Den Mann, von dem du dachtest, dass du ihn willst?«
»Ja.«
»Dann hast du also deine Einstellung bezüglich dieses Herrn geändert und erkannt, dass er nicht der Richtige für dich ist?«
Sie nickte und schenkte ihm ein zittriges Lächeln, doch er schaute sie mit tiefem Ernst an. »Dann sollst du wissen, dass ich genau das gehofft habe«, sagte er.
Sie sah ihn verwirrt an. »Was meinst du damit?«
»Ich hatte das Gefühl, dass du dich nie voll und ganz an mich binden würdest, solange du nicht erkennst, was es mit deiner angeblichen Verliebtheit zu Gibson auf sich hat. Du hättest unter Umständen immer wieder zurückgeschaut und dich gefragt, was wohl daraus geworden wäre.«
»Peter, was hast du getan?«
»Ich habe Gibson eröffnet, dass du ihm immer sehr zugetan gewesen seist.«
Sie stöhnte vernehmlich. »Ohne mich vorher zu fragen?«
»Ich wusste, dass du es mir nicht erlauben würdest, aber du musstest für dich einfach Klarheit gewinnen. So oder so. Ich fand, du solltest das bekommen, was du wirklich willst.«
»Um das zu erreichen, hast du mein Geheimnis verraten?«
»Und du hast das meiner Schwester verraten, was nicht schlimm ist. Sie allerdings zu ermutigen, sich mit Wythorne zu treffen, der ein völlig indiskutables Verhalten an den Tag gelegt hat, das grenzt an Verrat«, hielt er ihr mit finsterer Miene entgegen.
Seine Worte ließen sie zusammenzucken, und unwillkürlich traten Tränen in ihre Augen.
»Auf deine Bitte hin habe ich mich bemüht, deiner Schwester zu helfen. Es war ein schmaler Grat, auf dem ich mich bewegen musste, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Mag sein, dass ich dabei nicht immer in deinem Sinn gehandelt habe, doch ich finde, man muss ihr diese Chance lassen, Peter. Sie fordert sie außerdem ein.«
Er nickte und zog sich weiter an. Während sie ihn beobachtete, überfiel sie ein ungutes Gefühl.
»Wir unterhalten uns wieder, wenn wir uns etwas beruhigt haben«, sagte er, bevor er über den Balkon verschwand.
Sie wollte ihn zurückrufen, aber kein Ton drang über ihre Lippen.