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Zuerst hörte er die
Vögel. Es mussten Tausende sein, unzählige Arten, jede mit einer
eigenen Melodie. Für ein untrainiertes Ohr klang das Gezwitscher
wahrscheinlich wie ohrenbetäubender Lärm, für ihn dagegen wie
Musik. Tief in seinem Innern erhob sich brüllend der Leopard,
dankbar, den Duft des Regenwaldes wieder einatmen zu können. Er
stieg aus dem Boot auf den wackligen Landungssteg und betrachtete
die Bäume, die wie grüne Türme ringsherum emporragten. Sein Herz
schlug höher. Wo immer er sich auch befand – der Regenwald blieb
seine Heimat. Im Grunde jeder Regenwald, aber hier, in der Wildnis
Panamas, war er geboren worden. Als Erwachsener hatte er den Urwald
von Borneo zu seiner Heimat gemacht, doch seine Wurzeln lagen hier.
Ihm war gar nicht bewusst gewesen, wie sehr er Panama vermisst
hatte.
Er wandte den Kopf und sah sich um, genoss die
Gerüche und Geräusche des Dschungels. Jeder Laut, vom vielstimmigen
Gesang der Vögel über die Schreie der Brüllaffen bis hin zum Summen
der Insekten übermittelte eine Fülle von Informationen, wenn man
sie zu entschlüsseln verstand. Und darin war er ein Meister. Conner
Vega straffte die Schultern,
es war nur eine kleine Bewegung, doch sein ganzer Körper schien
zum Leben zu erwachen; jeder Muskel, jede Zelle reagierte auf den
Wald. Er konnte es kaum erwarten, sich die Kleider vom Leib zu
reißen und frei in der Wildnis herumzulaufen, wie seine Natur es
verlangte. In seiner Jeans und dem einfachen T-Shirt wirkte er
recht zivilisiert, doch direkt unter dieser dünnen Hülle lauerte
das Ungezähmte.
»Der Wald ruft dich«, sagte Rio Santana mit einem
Blick auf die wenigen Menschen am Ufer. »Aber warte noch, bis wir
außer Sichtweite sind. Im Moment haben wir Publikum.«
Conner gönnte weder ihm noch den anderen einen
Blick. Sein Herz pumpte das Blut durch seine Adern, dass es
rauschte wie der Saft in den Bäumen; er vibrierte vor Energie,
genau wie der wuselnde Insektenteppich auf dem Waldboden. Sein
Leopard wollte die Freiheit der Heimat genießen, und die
vielfältigen Grüntöne – in allen Schattierungen der Welt – begannen
bereits zu bunten Schemen zu verschwimmen.
»Reiß dich zusammen«, stieß Rio zwischen den Zähnen
hervor. »Verdammt, Conner, jeder kann uns sehen. Nimm deinen
Leoparden an die Kandare.«
Panama-Jaguare gehörten zu den wildesten,
unberechenbarsten Unterarten ihrer Gattung, und Conner war das
Produkt der Gene dieser Großkatzen. Von allen Männern im Team war
er der gefährlichste – blitzschnell, heißblütig und todesmutig. Er
brachte es fertig, einfach im Wald zu verschwinden und dort Nacht
für Nacht das Lager der Gegner zu terrorisieren, bis diese aus
Angst vor dem geisterhaften, unsichtbaren Feind fluchtartig ihre
Zelte abbrachen. Er war so unbezahlbar wie unberechenbar – und sehr
schwer im Zaum zu halten.
Bei dieser Mission waren Conners Fähigkeiten
besonders gefragt. Er gehörte zu jenem Stamm der Leopardenmenschen,
die im Urwald von Panama heimisch waren, und das würde von großem
Nutzen sein, falls sie diesen scheuen – und überaus gefährlichen –
Gestaltwandlern begegnen sollten. Außerdem war es für das Team von
Vorteil, dass Conner die hiesigen Indianerstämme kannte. In dem in
weiten Teilen unerforschten Regenwald konnte selbst Gestaltwandlern
die Orientierung schwerfallen. Doch da Conner in diesem Dschungel
aufgewachsen war und ihn als seinen Spielplatz betrachtete, konnte
er ihnen den Weg weisen, wenn es schnell gehen musste.
Mit einer langsamen, stockenden Bewegung, die an
einen Leoparden auf der Lauer erinnerte, wandte Conner den Kopf.
Bald würde sich seine Gestalt ändern – sehr bald. Die Hitze, die er
verströmte, transportierte den Geruch des Raubtiers, das fauchend
um seine Freiheit kämpfte, den eines starken, schlauen Leoparden
auf der Höhe seiner Kraft.
»Es ist ein Jahr her, dass ich das letzte Mal im
Regenwald gewesen bin.« Conner stellte Rio seinen Rucksack vor die
Füße. Seine Stimme klang heiser, beinahe krächzend. »Und von zu
Hause war ich noch länger weg. Lass mich gehen. Wir treffen uns
dann im Basislager.«
Es war ein kleines Wunder und zeugte von Conners
Disziplin, dass er auf Rios Nicken wartete, ehe er eilig auf die
Baumreihe am Ufer zuging. Kaum zwei Meter hinter der Waldgrenze
waren vom Sonnenlicht nur noch ein paar Sprenkel auf den üppigen,
fleischigen Pflanzen übrig. Der Waldboden unter den Füßen –
Schichten aus Holz und Pflanzen – fühlte sich vertraut schwammig
an. Conner knöpfte sein Hemd auf, das bereits schweißgetränkt war.
Die drückende, schwüle Hitze war den meisten Menschen unangenehm,
auf ihn jedoch wirkte sie belebend. Nicht umsonst trugen die
Eingeborenen kaum mehr als ein Lendentuch. Hosen und Oberteile
waren schnell durchnässt und scheuerten auf der Haut, was zu
Ekzemen und wunden Stellen führte, die sich im Regenwald schnell
entzünden konnten. Conner streifte sein T-Shirt ab, zog die Stiefel
aus, rollte das Oberteil zusammen und stopfte es in einen der
Stiefel, damit Rio die Sachen mitnehmen konnte.
Dann richtete er sich wieder auf, sog die Luft ein
und betrachtete die Vegetation ringsum. Die Bäume ragten wie
Kathedralen in den Himmel und bildeten ein so dichtes Blätterdach,
dass der Regen Mühe hatte, die vielförmigen Blätter zu durchdringen
und die dichten Büsche und Farne am Boden zu bewässern. Orchideen
und andere Blumen wetteiferten mit den Moosen und Pilzen, die jeden
Zentimeter der Baumstämme bedeckten; auf der Suche nach Luft und
Licht strebten alle dem Baumkronendach entgegen.
Während Conner die Jeans auszog und sie in den
anderen Stiefel steckte, wand sich der Leopard bereits unter seiner
juckenden Haut. Nichts auf der Welt brauchte er mehr, als ungestört
in seiner anderen Gestalt umherzustreifen. Es war so lange her.
Ohne Rücksicht auf seine bloßen Füße rannte Conner in den Wald,
sprang über einen faulenden Ast und wünschte die Verwandlung
herbei. Er konnte schon immer schnell die Gestalt wechseln; das war
eine Notwendigkeit, wenn man umgeben von Raubtieren im Dschungel
lebte. Conner war nicht ganz Leopard und nicht ganz Mensch, sondern
eine Mischung aus beidem. Seine Muskeln verzerrten sich und ein
befreiender Schmerz durchzuckte ihn, als der Leopard Gestalt annahm
und mit
dicken Muskelsträngen unter dem dichten Pelz zum Vorschein
kam.
Wo Füße gewesen waren, tappten nun Pranken über den
gepolsterten Waldboden. Conner lief über mehrere umgestürzte Bäume
und durch dichtes Unterholz. Drei Meter weiter war das Sonnenlicht
gänzlich verschwunden. Der Dschungel hatte ihn verschluckt, und er
atmete erleichtert auf. Während das Blut heiß durch seine Adern
strömte, hob er den Kopf und ließ die Tasthaare arbeiten wie ein
Radar. Zum ersten Mal seit vielen Monaten fühlte er sich wohl in
seiner Haut. Er streckte sich und trottete tiefer in den vertrauten
Urwald hinein.
Conner bevorzugte die Leopardengestalt. Als Mensch
hatte er zu viel Schuld auf sich geladen, um sich noch
wohlzufühlen. Das bewiesen die tiefen Kratzspuren auf seiner Wange,
die ihn für alle Zeit brandmarkten.
Er dachte nicht gern darüber nach, wie er zu diesen
Narben gekommen war und warum er Isabeau Chandler erlaubt hatte,
ihn damit zu zeichnen. Er war bis in die Vereinigten Staaten
geflüchtet und hatte eine möglichst große Distanz zwischen sich und
seine Frau – seine Gefährtin – gebracht, doch es war ihm nicht
gelungen den Ausdruck in Isabeaus Gesicht zu vergessen, als sie die
Wahrheit über ihn erfuhr. Die Erinnerung daran verfolgte ihn Tag
und Nacht.
Er hatte sich eines der schlimmsten Verbrechen
schuldig gemacht, das man in seinem Volk begehen konnte. Er hatte
seine Gefährtin belogen. Dass er sie noch nicht als solche erkannt
hatte, als er den Job übernahm sie zu verführen, um über sie an
ihren Vater heranzukommen, spielte dabei keine Rolle.
Der Leopard hielt den Kopf in den Wind und bleckte
stumm die Zähne. Seine Tatzen sanken lautlos in die verrottenden
Pflanzen auf dem Boden. Er schlich durch das dichte Unterholz, und
sein Fell glitt an den Blättern zahlreicher Büsche entlang. Hin und
wieder stellte er sich auf die Hinterbeine und zog die Krallen an
einem Baumstamm herunter, um sein Revier zu markieren und seine
Ansprüche anzumelden, damit die anderen Männchen wussten, dass er
wieder daheim war und dass sie mit ihm rechnen mussten. Er hatte
diesen Auftrag angenommen, weil er ihn von Borneo fernhielt, dem
Regenwald, in dem Isabeau lebte. Er wagte es nicht, dorthin
zurückzukehren, denn er wusste, dass er dann wohl die zivilisierte
Hülle abstreifen und als Leopard nach ihr suchen würde. Und Isabeau
wollte nichts – absolut gar nichts – mit ihm zu tun haben.
Leise knurrend versuchte Conner diese Gedanken zu
verscheuchen. Er sehnte sich nach ihr. Tag und Nacht. Obwohl ein
ganzer Ozean sie trennte. Nun, da er wusste, dass seine Gefährtin
lebte und wo sie zu finden war, spielte Entfernung keine Rolle
mehr. Conner besaß alle Eigenschaften, die für Leoparden typisch
waren: Reflexe, Aggression und List, sowie das Ungezähmte und die
Eifersucht, doch vor allem anderen den Drang, seiner Gefährtin
stets nahe zu sein. Auch wenn der Mann in ihm verstand, dass man
nicht mehr nach den Gesetzen des Dschungels leben konnte, war es
ihm im Regenwald nicht möglich zu verhindern, dass seine primitiven
Bedürfnisse sich stark und drängend zurückmeldeten.
Conner hatte geglaubt, dass es ihm guttun würde,
wieder zu Hause zu sein, doch stattdessen überkam ihn das Wilde in
ihm mit einer solchen Wucht, dass er irgendetwas zerfleischen und
seine Qual in den Himmel brüllen wollte. Er musste Isabeau
aufspüren und für sich beanspruchen, ob es
ihr passte oder nicht. Doch unglücklicherweise gehörte seine
Gefährtin ebenfalls zu den Gestaltwandlern, was bedeutete, dass sie
das gleiche hitzige Temperament hatte, inklusive der Fähigkeit,
tief und ausdauernd zu hassen.
Conner schaute an den riesigen Bäumen empor in das
dichte Blätterdach, das das Licht abhielt. Leuchtend bunte Blumen
rankten sich um die Baumstämme und kämpften mit den Moosen und
Pilzen um einen Platz an der Sonne. Vögel huschten von Ast zu Ast
und hielten das Baumkronendach in ständiger Bewegung, so wie
Millionen von Insekten es mit dem schwammigen Waldboden machten.
Versteckt hinter breiten Blättern hingen klobige Bienenstöcke, und
Schlangen, die im verflochtenen Gezweig beinahe unsichtbar waren,
wanden sich um gekrümmte Äste.
Conner wollte all diese Schönheit in sich aufsaugen
und vergessen, was er seiner Gefährtin angetan hatte. Sie war so
jung und unerfahren gewesen, eine leichte Beute. Ihr Vater, ein
Arzt, kannte den Weg ins feindliche Lager. Und über die Tochter
kamen sie an den Mann heran. Ganz einfach. Isabeau war sofort von
Conner fasziniert gewesen, nicht nur aufgrund seiner animalischen
Anziehungskraft, sondern auch, weil sie ein früheres Leben
miteinander geteilt hatten – was sie damals beide nicht
wussten.
Unglücklicherweise war Conner Isabeaus Zauber
genauso schnell erlegen. Eigentlich hatte er sie nur dazu bringen
sollen ihm zu vertrauen, nicht dazu mit ihm zu schlafen. Doch er
war wie besessen gewesen, hatte einfach nicht die Hände von ihr
lassen können. Er hätte es wissen müssen. Sie war so jung gewesen.
So unschuldig. Und er hatte das schamlos ausgenutzt.
Er hatte an nichts anderes gedacht als an sein
eigenes
Vergnügen. Auch nicht daran, was passieren würde, wenn die
Wahrheit herauskam – wenn Isabeau erfuhr, dass sie nicht einmal
seinen richtigen Namen kannte. Und dass sie nur ein Mittel zum
Zweck gewesen war. Ein raues Stöhnen entfuhr Conner bei diesen
Gedanken.
Nie hatte er sich an einer unerfahrenen Frau
vergriffen. Nie im Leben – ob als Mensch oder Leopard -, bis
Isabeau gekommen war. Sie war noch nicht durch das Han Vol Don
gegangen, die erste Brunst des weiblichen Leoparden, und ihre
Leopardin hatte sich noch nicht gezeigt. Das war auch der Grund,
warum er nicht erkannt hatte, dass Isabeau zu seinem Volk gehörte
und seine Gefährtin war. Dabei hätte er es merken müssen. An den
erotischen Bildern, die blitzartig vor seinem inneren Auge
auftauchten, sobald sie in der Nähe war, und an der Tatsache, dass
er in ihrer Gegenwart nicht klar denken konnte. Allein das hätte
ihn stutzig machen müssen. Doch er befand sich erst im zweiten
Lebenszyklus und wusste die Anzeichen nicht zu deuten. So wurde das
Verlangen, das in ihm brannte, mit jeder Begegnung heftiger. Er
hatte sich immer im Griff gehabt, doch wenn er Isabeau sah,
erfasste ihn ein so wildes Begehren, dass es ihm den Verstand
raubte, deshalb hatte er diesen absolut unverzeihlichen Fehler
begangen.
Er hatte sie unbedingt haben wollen. Sich nach ihr
verzehrt. Sich ihren Duft auf der Zunge zergehen lassen. Ihn tief
in die Lungen gesogen. Und schließlich hatte er mit ihr geschlafen.
Sie mit voller Absicht verführt. Sich an ihr ergötzt, bis sie sich
ihm ins Mark gebrannt hatte. Er hatte seinen Instinkten nachgegeben
und damit ihrer Beziehung unheilbaren Schaden zugefügt.
Über seinem Kopf kreischte warnend ein Brüllaffe
und
warf einen Zweig nach ihm. Conner beachtete ihn gar nicht, sprang
nur locker ins niedrige Geäst und stieg den Baum empor. Mit
erschrockenem Gezeter stoben die Affen auseinander. Von Ast zu Ast
springend, erreichte Conner den Hochweg im Kronendach. Die
überlappenden Zweige machten das Vorankommen leicht. Vögel
schwangen sich aufgestört in die Lüfte, Eidechsen und Frösche
huschten beiseite, sogar ein paar Schlangen hoben den Kopf, doch
die meisten interessierten sich nicht für Conners zielstrebiges
Vordringen ins Innere des Waldes.
Weiter vorn war wieder Wasserrauschen zu hören. Den
Fluss hatte Conner längst hinter sich gelassen, doch nun näherte er
sich einem kleineren Zulauf mit drei aufeinanderfolgenden
Wasserfällen. Er erinnerte sich noch, wie kühl das Wasser in den
Auffangbecken war. Als Kind hatte er oft in ihnen gebadet und sich
dann auf den Felsvorsprüngen von der Sonne trocknen lassen.
Die Hütte, in der er Rio und den Rest des Teams
treffen würde, lag direkt vor ihm. Sie war auf Stelzen gebaut und
schmiegte sich ins Laub dreier Bäume. Auf diese Weise wurde sie ein
Teil des Netzwerks aus Zweigen und bot Leoparden leichten Zugang.
Im Schatten des größten Baums nahm Conner wieder Menschengestalt
an.
Links neben der Hütte, vor einer kleinen Dusche im
Freien, warteten fein säuberlich zusammengelegt seine Kleider. Das
Wasser war kalt und erfrischend, und Conner machte sich das
zunutze, um sich nach dem Lauf durch den Dschungel den Schweiß vom
Körper zu waschen und die Muskeln zu dehnen. Während er die Sachen
überstreifte, die Rio bereitgelegt hatte, schnurrte sein Leopard
fast vor lauter Freude, wieder zu Hause zu sein.
Auf der kleinen Veranda des Baumhauses hielt Conner
einen Moment inne, nahm die Witterung auf, und erkannte in ihr die
vier Männer, die drinnen auf ihn warteten. Rio Santana natürlich,
der Teamleiter. Dann Elijah Lospostos, der Neuzugang im Team, den
er noch nicht so gut kannte wie die anderen, der aber anscheinend
extrem fähig war. Er hatte erst ein paarmal mit dem Mann
zusammengearbeitet, doch dass Elijah kein Drückeberger war, dabei
sehr schnell und lautlos arbeitete, wusste er bereits. Schließlich
waren da noch Felipe und Leonardo Gomez Santos aus dem
brasilianischen Regenwald; Brüder, die exzellente Rettungsarbeit
leisteten. Auf sie war auch unter schlimmsten Bedingungen Verlass,
sodass Conner sie als Kollegen allen anderen vorzog. Beide waren
sehr aggressiv, hatten aber dennoch eine Engelsgeduld. Sie
verstanden ihr Handwerk. Er freute sich, dass sie mit von der
Partie waren, egal, wie der Auftrag lautete. Und da Rio solchen
Wert darauf gelegt hatte, dass er auch dabei war, hatte Conner das
Gefühl, dass der Job schwierig werden würde.
Er stieß die Tür auf, und die vier Männer begrüßten
ihn mit einem knappen Lächeln, doch ihr Blick blieb ernst. Das und
die Anspannung im Raum fielen Conner sofort auf, und sein Magen zog
sich zusammen. Ja – dieser Job würde schwer werden. So viel dazu,
wie schön es war, nach Hause zu kommen.
Er nickte seinen Kollegen zu. »Schön, euch
wiederzusehen.«
»Wie geht’s Drake?«, fragte Felipe.
Drake war wahrscheinlich der beliebteste von allen
Leoparden, mit denen sie zusammenarbeiteten. Bei ihren
Rettungseinsätzen war er oft der Teamleiter, denn er war
ruhiger und disziplinierter als die anderen. Männliche Leoparden
waren berüchtigt für ihre Reizbarkeit, und wenn viele auf engem
Raum zusammen waren, führte das schnell zu Reibereien. Es sei denn,
Drake war in der Nähe. Der Mann war ein geborener Diplomat und
Anführer. Doch bei einem Einsatz war er so schwer verletzt worden,
dass sein Bein mit Platten zusammengeflickt werden musste, die ihn
daran hinderten, sich zu verwandeln. Alle wussten, was das zu
bedeuten hatte. Früher oder später würde er ohne seine andere
Hälfte nicht mehr weiterleben können.
»Er scheint sich gut zu erholen.« Drake war in die
Vereinigten Staaten gegangen, weit weg vom Regenwald. Um die Trauer
über seinen Verlust besser bewältigen zu können, hatte er einen Job
bei Jake Bannaconni angenommen, einem Leopardenmenschen, der in den
USA lebte und nichts von den Sitten und Gebräuchen ihres Volkes
wusste. Conner war Drake in die Staaten gefolgt und hatte ebenfalls
für Bannaconni gearbeitet. »Wir hatten ein paar Schwierigkeiten,
und Drake ist noch einmal verwundet worden, am selben Bein, aber
Jake Bannaconni hat dafür gesorgt, dass die Platte durch ein
Knochentransplantat ersetzt wird. Alle hoffen, dass es
funktioniert.«
»Heißt das, Drake kann sich vielleicht eines Tages
wieder verwandeln?« Überrascht zog Leonardo eine Augenbraue in die
Höhe und der sorgenvolle Blick seiner schwarzen Augen erhellte
sich.
»Das würden wir uns wünschen«, erwiderte Conner.
Dann schaute er Rio an. »Da Drake noch im Krankenhaus liegt, wollte
ich eigentlich nicht kommen, aber du hast gesagt, es sei
dringend.«
Rio nickte. »Ich hätte dich nicht darum gebeten,
wenn
wir dich nicht wirklich bräuchten. Aber keiner von uns kennt sich
hierzulande aus.«
»Hast du die Einheimischen informiert?« Damit
meinte Conner die Ältesten seines Dorfes. Sein Stamm lebte sehr
zurückgezogen und war schwer zu finden, dennoch verfügten
Leopardenmenschen über die Möglichkeit, einander mitzuteilen, wenn
sie fremdes Terrain betraten.
Rio schüttelte den Kopf. »Der Vermittler hat uns
davon abgeraten. Offensichtlich sind zwei von den hiesigen
Leoparden abtrünnig und arbeiten nun für diese Frau.« Er warf ein
Foto auf die raue Tischplatte. »Man nennt sie mujer sin corazón.«
»Frau ohne Herz«, übersetzte Conner. »Imelda
Cortez. Ich habe von ihr gehört. Jeder, der in diesem Teil des
Landes aufwächst, kennt die Familie. Sie nennen sie auch víbora, die Schlange. Am besten geht man ihr aus dem
Weg. Und wenn sie behaupten, sie habe kein Herz, so ist es ihnen
ernst damit. Seit Jahren ermordet sie die Indianer in dieser Gegend
und stiehlt ihnen ihr Land, um dort Koka anzubauen. Den Gerüchten
zufolge dringt sie immer tiefer in den Urwald vor, um weitere
Schmuggelpfade zu erschließen.«
»Die Gerüchte stimmen«, sagte Rio. »Was weißt du
noch über sie?«
Conner zuckte die Achseln. »Imelda ist die Tochter
des verstorbenen Manuel Cortez. Das heißt, ihre Grausamkeit und
Überheblichkeit wurden ihr in die Wiege gelegt. Nach dem Tod ihres
Vaters hat sie seine Geschäfte übernommen. Sie zahlt einen Haufen
Bestechungsgeld an die örtliche Miliz und Beamte kauft sie gleich
im Dutzend.«
Er sah Rio direkt in die Augen. »Worum es auch
geht,
du hast alle gegen dich. Wahrscheinlich stehen sogar einige meiner
eigenen Leute auf Imeldas Gehaltsliste. Du wirst niemandem
vertrauen können. Bist du sicher, dass du die Sache durchziehen
willst?«
»Ich schätze, ich habe keine andere Wahl«,
erwiderte Rio. »Angeblich ist Imelda ein männermordender Vamp, sie
bevorzugt den sehr maskulinen und dominanten Typ.«
Es wurde still im Raum, und die Spannung stieg.
Conners goldene Katzenaugen wurden so dunkel wie purer Whiskey und
begannen gefährlich zu funkeln. An seinem Kinn zuckte ein Muskel.
»Dann bist du ja genau der Richtige, Rio. Ich mache so was nicht
mehr.«
»Du weißt doch, dass ich das nicht übernehmen kann.
Rachael würde mich umbringen, und ehrlich gesagt bin ich auch
längst nicht so dominant wie du. Alle Frauen fliegen auf
dich.«
»Ich habe auch eine Gefährtin, selbst wenn sie mich
nicht ausstehen kann. Ich werde sie nicht noch mehr enttäuschen,
als ich es bereits getan habe. Die Antwort lautet Nein.« Conner
wandte sich bereits zum Gehen.
»Viele der Informationen stammen von deinem Vater«,
meinte Rio ganz ruhig.
Conner blieb mit den Rücken zu ihm abrupt stehen
und schloss kurz die Augen, ehe er sich wieder umdrehte. Er wirkte
wie ausgetauscht. Er sprühte vor Wut und ging mit geschmeidig
schnellem Schritt auf Rio zu, so bedrohlich, dass die anderen drei
Männer hastig aufsprangen. Doch Conner beachtete sie gar nicht; die
goldenen Augen fest auf sein Ziel gerichtet, blieb er direkt vor
Rio stehen. »Raul Fernandez hält sich an die überkommenen Regeln.
Er würde nie einen Außenseiter um Hilfe bitten. Niemals. Und er
hat nicht mehr mit mir geredet, seit er mich vor vielen Jahren vor
die Tür gesetzt hat.«
Rio zog eine gegerbte Lederhaut aus seinem
Rucksack. »Man hat mir gesagt, dass du mir nicht glauben würdest,
deshalb soll ich dir das hier geben. Angeblich wüsstest du dann
Bescheid.«
Conners Finger krallten sich in das dichte Fell. Er
bekam keine Luft mehr, und seine Kehle brannte vor Schmerz. Er
wandte sich von den anderen ab, stellte sich in den Türrahmen und
atmete die frische Nachtluft. Zweimal öffnete er den Mund, brachte
aber nichts heraus. Er zwang sich, tief Luft zu holen. »Worum geht
es?«
»Es tut mir leid«, sagte Rio.
Alle wussten, was so ein Leopardenfell zu bedeuten
hatte, und die Art, wie Conner es an sich gedrückt hielt, zeigte,
dass er die Person kannte und liebte, zu der es gehört hatte.
»Conner … Mann …«, begann Felipe, dann stockte er
wieder.
»Worum geht es?«, wiederholte Conner, ohne
irgendjemanden anzusehen. Er konnte es nicht. Seine Augen brannten
wie Feuer. Er stand mit dem Rücken zu den anderen, drückte den Pelz
seiner Mutter ans Herz und versuchte, an nichts anderes zu denken
als an den Auftrag.
»Imelda Cortez hat vor, ihre Ware durch den
Regenwald zu schmuggeln. Ihre eigenen Männer kann sie dafür nicht
gebrauchen, denn sie kommen mit der fremden Umgebung nicht klar.
Die Wege werden zu schlammig, sie verirren sich, die Moskitos
fressen sie bei lebendigem Leib und selbst kleine Wunden entzünden
sich schnell. Sie hat eine ganze Reihe von Leuten durch
Verletzungen, Krankheiten und
feindliche Eingeborene verloren. Sobald ihre Männer tief im Wald
sind, sind sie für Giftpfeile eine leichte Beute.«
»Deshalb braucht sie die Hilfe der Indianerstämme,
die sie seit Jahren dezimiert, doch dort hat sie nicht viele
Freunde«, erriet Conner.
»Richtig«, erwiderte Rio. »Imelda musste sie unter
Druck setzen, damit sie für sie arbeiten. Daher hat sie damit
angefangen Kinder zu entführen. Die Eltern möchten ihren Nachwuchs
nicht in Einzelteilen zurückbekommen, deshalb transportieren sie
Imeldas Drogen über die neuen Wege, wo sie höchstwahrscheinlich
nicht von Regierungsbeamten aufgespürt und abgefangen werden. Mit
den Kindern als Geiseln hat Imelda zusätzlich noch den Vorteil,
ihre Kuriere nicht bezahlen zu müssen.« Rio zog einen versiegelten
Umschlag aus seinem Rucksack. »Das hier ist auch für dich.«
Conner drehte sich wieder um, mied aber den allzu
wissenden Blick seines Freundes und streckte nur den Arm aus. Rio
drückte ihm den Brief in die Hand.
»Ich muss wissen, ob dein Vater glaubt, dass die
Leopardenmenschen verraten worden sind«, sagte Rio. »Haben die
beiden Schurken, die für sie arbeiten, Imelda ihre wahre Identität
etwa preisgegeben, oder nehmen sie nur ihr Geld?«
Das brachte Conner endlich dazu aufzuschauen. Seine
Augen hatten fast keine Iris mehr und tief in ihnen loderte es wie
Flammen. Die schlimmste Sünde, die ein Leopard begehen konnte, war
es, einen Außenstehenden einzuweihen. Er riss den Umschlag auf und
zog ein einzelnes Blatt Papier heraus. Es dauerte einen langen
Augenblick, bis er die Botschaft seines Vaters gelesen hatte. Das
Summen der nachtaktiven Insekten wirkte überlaut in dem kleinen
Raum. An Conners Kinn zuckte ein Muskel. Die Stille dehnte
sich.
»Conner«, drängte Rio schließlich.
»Vielleicht solltest du deine Meinung über diese
Mission ändern«, meinte Conner, während er das Fell andächtig
zusammenfaltete und wieder in den Rucksack steckte. »Aus der
schlichten Geiselbefreiung ist ein Mordauftrag geworden. Einer von
den beiden abtrünnigen Leoparden hat meine Mutter getötet. Und
Imelda weiß von unserem Volk.«
Rio fluchte und ging zum Herd hinüber, um sich eine
Tasse Kaffee einzuschenken. »Wir sind also in Gefahr.«
»Zwei unserer eigenen Leute haben uns an Imelda
verraten.« Conner schaute auf, rieb sich die Augen und seufzte.
»Wenn wir unsere Geheimnisse vor dem Rest der Welt schützen wollen,
bleibt mir keine Wahl. Anscheinend möchte Imelda eine ganze Armee
von Leoparden zusammenstellen. Die beiden Söldner haben versucht,
andere anzuwerben, nicht nur vom ortsansässigen Stamm, sondern auch
von außerhalb. Um zu verhindern, dass sie noch andere mit ihrem
Geld anlockt, haben die Ältesten den Standort des Dorfes tiefer in
den Regenwald verlegt. Die Einzigen, die es noch erreichen könnten,
sind jene beiden Leoparden in Imeldas Diensten, und die würden auf
der Stelle getötet, sobald sie es wagten, sich dem Dorf zu nähern.«
Conner lächelte und bleckte die scharfen, weißen Zähne, doch das
hatte nichts mit Humor zu tun. »So dumm werden sie nicht
sein.«
»Woran ist deine Mutter gestorben?«, fragte Felipe
leise.
Es dauerte einen weiteren langen Augenblick, bis
Conner antwortete. Draußen schrie ein Brüllaffe, und mehrere Vögel
antworteten ihm. »Nach dem, was mein Vater schreibt, hat einer der
Söldner, Martin Suma, sie umgebracht, als sie versuchte, die
Entführung der Kinder zu verhindern. Sie
war gerade zu Besuch bei Adan Carpio, einem der zehn Ältesten des
Embera-Stammes, als Imeldas Männer über das Dorf herfielen und die
Kinder verschleppten. Suma hat die Männer angeführt und als Erstes
meine Mutter getötet, denn er wusste, dass sie die größte Gefahr
darstellte.« Conner bemühte sich um einen ausdruckslosen Tonfall.
»Suma hat mich nie zu Gesicht bekommen, falls ihr euch deswegen
Sorgen machen solltet. Ich habe lange genug in Borneo gelebt, um
wie einer von dort zu wirken. Felipe und Leonardo sind aus
Brasilien, Elijah könnte von überallher sein, nur wenige kennen
sein Gesicht, und du stammst aus Borneo. Niemand wird Verdacht
schöpfen. Ich schleiche mich in Imeldas Haus, hole die Kinder
heraus, übergebe sie euch und knöpfe mir dann die zwei Schurken und
ihre Chefin vor. Das ist meine Angelegenheit, nicht eure.«
»Wir machen das zusammen«, erwiderte Rio, »als
Team.«
»Du hast diesen Auftrag angenommen in dem Glauben,
dass es sich um eine Befreiungsaktion handelt, und dabei soll es
auch bleiben. Den Rest kannst du mir überlassen.« Conner wandte den
Kopf und sah dem Teamführer direkt in die Augen. »Es ist doch nicht
so, dass jemand auf mich wartete, Rio, und du hast Rachael. Du
musst heil zu ihr zurückkehren.«
»Dies ist doch kein Himmelfahrtskommando, Conner.
Wenn du nicht mit dir reden lässt, beenden wir unsere
Zusammenarbeit an dieser Stelle«, entgegnete Rio. »Wir gehen
zusammen rein, erledigen den Job und machen uns wieder aus dem
Staub.«
»Aber deine Ältesten erlauben keine Rache, wenn
einer von uns in Leopardengestalt getötet wird«, sprach Conner den
wunden Punkt an. Rio war von seinem Stamm verstoßen
worden, nachdem er den Mörder seiner Mutter umgebracht
hatte.
»Dieser Fall liegt anders«, widersprach ihm Rio.
»Suma hat deine Mutter wissentlich ermordet. Meine Mutter ist von
einem Großwildjäger erschossen worden, der sie für eine Leopardin
hielt. Ich kannte die Strafe und habe ihn trotzdem aufgespürt. Hier
aber geht es um Gerechtigkeit. Suma hat nicht nur eine Artgenossin
getötet, sondern darüber hinaus das ganze Volk in Gefahr gebracht.
Das könnte für uns das Ende bedeuten. Wir erledigen den Job
gemeinsam. Aber vor allem anderen müssen die Kinder gerettet
werden.«
»Um schnell sein zu können, brauchen wir
Vorratsdepots entlang einer vorher festgelegten Route. Wir könnten
die Kinder tief in den Dschungel führen, bis Imelda ausgeschaltet
ist, aber ohne Proviant und Ausrüstung schaffen wir es nicht auf
sicheres Gebiet«, sagte Conner. »Ich gehe in den Wald und markiere
die passenden Stellen, so dass sie von oben zu sehen sind, dann
werft ihr alles Nötige mit dem Hubschrauber ab. Außerdem müssen wir
uns ein paar Fluchtwege überlegen und auf der Karte einzeichnen,
damit wir an diesen Wegen Kleidung, Waffen und Proviant verstecken
können.«
»Uns bleibt nicht viel Zeit. In sechs Tagen bietet
sich eine gute Gelegenheit, Kontakt zu Imelda herzustellen. Der
Chef der Tourismusbehörde gibt eine Party, zu der sie kommen wird.
Wir haben dafür gesorgt, dass auch ein brasilianischer
Geschäftsmann, Marcos Suza Santos, eingeladen ist. Wir geben uns
als seine Bodyguards aus. Das ist unsere einzige Chance, eine
Einladung in Imeldas Haus zu ergattern, sonst müssen wir dort
einbrechen. Und da wir nicht genau wissen,
wo die Kinder versteckt sind, könnte das sehr riskant
werden.«
»Ist der Mann ein Verwandter von euch?«, fragte
Conner die beiden Brasilianer.
»Unser Onkel«, antworteten die Brüder
gleichzeitig.
Conner straffte die Schultern und kehrte zum Tisch
zurück. »Haben wir irgendwelche Hinweise, wie Imeldas Festung
angelegt ist?«
»Adan Carpio ist derjenige, der den ersten Kontakt
zu unserem Team hergestellt hat«, sagte Rio. »Er hat uns mit
Skizzen vom Grundstück, den Sicherheitseinrichtungen auf dem
Gelände und dergleichen versorgt. Nur leider ist nichts vom Inneren
der Villa dabei. Er versucht, von Einheimischen, die früher im Haus
gearbeitet haben, Informationen zu bekommen, doch anscheinend
kommen nur wenige lebend aus dem Arbeitsverhältnis raus.«
»Ich kenne Adan, ein guter Mann«, erwiderte Conner.
»Im Regenwald findet man nicht viele wie ihn. Neben seiner eigenen
Sprache beherrscht er auch Spanisch und Englisch, was die
Verständigung leichtmacht. Was er sagt, stimmt. Man kann ihn beim
Wort nehmen. Adan steht in der Dschungelhierarchie ganz weit oben
und genießt bei allen Stämmen, auch meinem eigenen, großen
Respekt.«
Rio wusste, dass das aus dem Mund eines Leoparden
ein großes Lob war. »Sein Enkel zählt zu den Verschleppten.
Insgesamt wurden sieben Geiseln entführt, darunter drei von den
Embera und zwei vom Stamm der Waounaan – Söhne, Töchter oder Enkel
von Ältesten. Imelda hat damit gedroht, sie stückweise
zurückzuschicken, falls irgendjemand versucht sie zu befreien, oder
falls die Stämme sich weigern für sie zu arbeiten.«
Conner blieb die Luft weg. »Diese Frau meint es
ernst. Also bleibt uns nur ein einziger Versuch für die Befreiung.
Adan kennt den Wald wie seine Westentasche und bringt
Spezialeinheiten aus aller Welt das Überleben im Dschungel bei. Der
Mann fällt nicht so leicht um, er ist ein Gewinn für uns, glaubt
mir. Ihr könnt ihm vertrauen.« Conner wischte sich mit der Hand
über das Gesicht. »Nun zu den beiden Schurken, die unser Volk
verraten haben … ist Adan sicher, dass sie auf Imeldas Gehaltsliste
stehen oder handeln sie womöglich aus eigenem Antrieb?«
Rio nickte. »Die meisten Informationen über diese
beiden stammen von deinem Vater …«
»Du meinst Raul oder Fernandez. Ich nenne ihn schon
seit Jahren nicht mehr Vater«, fuhr Conner dazwischen. »Ich habe
den Mädchennamen meiner Mutter angenommen. Auch wenn er mir
geschrieben hat, Rio, wir stehen uns nicht nahe.«
Rio runzelte die Stirn. »Können wir ihm dann
trauen? Würde er uns eine Falle stellen? Oder vielleicht
dir?«
»Weil wir uns gegenseitig verachten?«, fragte
Conner. »Nein, unserem Volk gegenüber ist er loyal. Seine
Informationen sind sicher richtig. Aber sicher ist auch, dass nicht
er unser Auftraggeber ist. Es würde ihm nie in den Sinn kommen, für
die Rettung dieser Kinder zu bezahlen. Er hat sich bloß an unseren
Klienten drangehängt, damit wir diese Verbrecher nicht lebend
entkommen lassen. Doch er wird kaum mit uns zusammenarbeiten und
uns auch nicht anderweitig unterstützen.«
Wieder breitete sich eine lange Stille aus. Dann
seufzte Rio. »Und wer steht auf deiner Abschussliste?«
»An erster Stelle Imelda Cortez. Ihr kann keiner
über
den Weg trauen, jetzt, wo sie über uns Bescheid weiß. Selbst wenn
wir diese Kinder befreien können, heißt das nicht, dass sie sich
nicht wieder welche holt. Außerdem die beiden gedungenen Leoparden,
die unser Geheimnis verraten haben.«
»Die zwei werden uns als Artgenossen erkennen«, gab
Rio zu bedenken. »Und sie werden merken, dass du aus der Gegend
stammst.«
Conner zuckte die Achseln. »Sie werden auch euren
Geschäftsmann als Artgenossen erkennen. Deshalb muss Santos sich ja
von seinesgleichen beschützen lassen. Alles andere wäre verrückt.
Und was mich angeht, im Regenwald an der Grenze zwischen Panama und
Kolumbien leben drei Stämme von Leopardenmenschen, aber wir haben
nicht viel miteinander zu tun. Rauls Name wird den Verrätern
bekannt sein, denn er ist einer der Ältesten im Dorf, doch ich
benutze den meiner Mutter. Außerdem wissen nur wenige von mir –
meine Mutter und ich, wir wohnten außerhalb des Dorfes.«
Die anderen hielten erschrocken den Atem an.
Gefährten blieben zusammen – für immer. Ungerührt musterte Conner
seine Kollegen. »Ich habe den Alten zeit meines Lebens gehasst.
Aber ich schätze, ich bin genau wie er.«
Conner spürte, wie sein Magen sich weiter
verkrampfte. Er hatte keine Wahl. Er ging zum Fenster und starrte
in die Dunkelheit. Die Schlinge hatte sich um seinen Hals gelegt
und schnürte ihm langsam, aber sicher die Luft ab. Wenn sie die
Kinder befreien wollten, musste er bei Imelda seinen Charme spielen
lassen, damit Marcos Suza Santos und seine Bodyguards in jene
Festung eingeladen wurden, die sie ihr Zuhause nannte. Er mochte ja
der romantischen Vorstellung
nachgehangen haben, wie er nach Borneo zurückkehren und Isabeau
Chandler aufspüren würde, woraufhin sie ihm vergab und bis ans Ende
ihrer Tage mit ihm glücklich wäre. Aber für Männer wie ihn gab es
kein Happy End. Das wusste Conner. Er konnte nur nicht akzeptieren,
dass er sich Isabeau aus dem Kopf schlagen musste.
Unter dem Kronendach war es totenstill, doch trotz
der Finsternis konnte er noch die vielfältigen Formen der Blätter
ausmachen; ihm brach der Schweiß aus, und eine eiserne Hand schien
sich um sein Herz zu legen. Er würde eine andere Frau verführen.
Ihr in die Augen sehen und sie berühren. Sie ködern und Isabeau ein
weiteres Mal betrügen. Seinem langen Sündenregister die nächste
Untat hinzufügen.
»Schaffst du das?«, fragte Rio, der offenbar seinem
Gedankengang gefolgt war.
Mit einer langsamen, animalischen Bewegung wandte
Conner den Kopf. Sein Blick war ablehnend, voller Selbsthass. »Ich
bin wie gemacht für den Job.« Es gelang ihm nicht, die Bitterkeit
ganz aus seiner Stimme zu verbannen.
Rio schnappte nach Luft. Er selbst konnte sich
nicht vorstellen Rachael zu hintergehen. »Einer von den anderen
könnte deinen Part übernehmen, wenn du ihn anlernst.«
Felipe und Leonardo blickten einander an. Seit wann
war Charisma lernbar? Zwar strahlten sie alle eine animalische
Anziehungskraft aus, doch bei Conner war sie besonders ausgeprägt,
schon seit seiner Geburt stellte er alle anderen in den Schatten.
Sobald er den Raum betrat, fiel er sofort auf. Statt Conner zu
verstecken, zogen alle Nutzen aus seinem Talent. Denn er konnte
gelangweilt, amüsiert und gleichgültig aussehen, und das alles zur
gleichen Zeit.
Elijah regte sich zum ersten Mal, was die
allgemeine Aufmerksamkeit
auf ihn lenkte. Er war früher im Drogengeschäft gewesen und kannte
alle Beteiligten vom Hörensagen. Auch er war ein gefährlicher Typ
mit charismatischer Ausstrahlung. »Vielleicht könnte ich den Job
übernehmen. Ich habe den richtigen Lebenslauf. Mein Name würde
dieser Imelda Cortez bestimmt etwas sagen, wenn ich ihn verraten
würde. Doch damit bekäme Santos’ Ruf einen Knacks.« Er warf einen
schnellen Blick zu Felipe und Leonardo hinüber. »Es tut mir leid;
ihr wisst, dass ich die Wahrheit sage. Imelda wird Erkundigungen
über uns einziehen, und mein Name ist weltweit jeder
Polizeidienststelle bekannt. Aber vielleicht macht meine
Anwesenheit es für sie auch noch interessanter uns einzuladen. Ich
könnte den Verführer spielen.«
Rio musterte seinen Schwager. Elijah hatte von
Vater und Onkel ein Drogenimperium geerbt. Als Elijahs Vater
versucht hatte, sich aus den illegalen Geschäften zurückzuziehen,
hatte der Onkel seinen Bruder getötet und dessen Kinder, Elijah und
Rachael, nach seinen Vorstellungen großgezogen. Elijahs ganzes
Leben war eine Gratwanderung zwischen Leben und Tod gewesen. Er war
noch nicht bereit für eine Schlüsselposition bei einer Mission.
Zweifellos würden sein Aussehen und seine faszinierende
Persönlichkeit auf Imelda anziehend wirken, doch noch fehlte ihm
jener Charme, der Conner angeboren schien. Die vier Narben auf
Conners Wange erhöhten diesen Reiz nur noch.
Rio gestattete es sich, Conner zu mustern. Er
selbst hatte ihn dafür ausgewählt, Isabeau Chandler zu umgarnen.
Und schließlich war er es gewesen, der ihren Vater umgebracht
hatte. Conner hatte noch versucht, Chandler zu retten, doch der
hatte eine Waffe gezogen, um den Leiter des Terroristencamps zu
schützen. Er hatte Rio keine Wahl gelassen. Conner
stand dabei in der Schusslinie und redete noch auf den Mann ein,
doch Isabeaus Vater weigerte sich, seine Chance zu nutzen. Also
hatte Rio abgedrückt und so zwar Conners Leben gerettet, doch die
Seele seines Freundes schien unrettbar verloren.
Isabeau war völlig schockiert gewesen. Nie würde er
vergessen, was für ein Gesicht sie gemacht hatte, als sie begriff,
dass Conner sie benutzt hatte, um Zutritt zum Camp zu bekommen.
Jedes Mal, wenn Rio daran dachte, schauderte es ihn, und nun bat er
Conner, das Gleiche noch einmal zu tun. Imelda war zwar keine
Unschuld wie Isabeau, trotzdem blieb es ein lausiger Job, egal, wie
man es betrachtete.
Conner zuckte die Achseln. »Danke für das Angebot,
Elijah, aber es bringt nichts, wenn wir uns beide die Finger
schmutzig machen. Du hast noch eine Chance. Meine habe ich längst
vertan. Als Frauenheld kannst du deiner Gefährtin nicht imponieren.
Das klappt einfach nicht.«
»Ich habe mir schon oft genug die Finger schmutzig
gemacht«, bemerkte Elijah. »Es gibt einiges, worauf ich nicht
sonderlich stolz bin.«
»Das geht uns allen so«, erwiderte Conner, »aber
das habe ich nicht gemeint. Dies ist etwas anderes, obwohl Imelda
zum Abschaum der Menschheit gehört. Wenn du sie verführst und mit
ihr schläfst, wirst du deiner Gefährtin, solltest du sie irgendwann
finden, nicht in die Augen sehen können.«
Rio öffnete den Mund, doch er konnte nichts dagegen
sagen. Mit einer so schweren Sünde auf dem Gewissen hätte er nie zu
Rachael zurückkehren können, dennoch bat er Conner schon wieder,
sich diese Last aufzubürden. Was er tat, war nicht richtig, doch
ohne Einladung gab es keinen Weg in Imeldas Festung.
»Du hast das schon einmal gemacht«, betonte Elijah.
»Es ist nicht fair, dich wieder in diese Situation zu
bringen.«
»Ich weiß bereits, wer zu mir gehört. Isabeau
Chandler ist meine Gefährtin«, entgegnete Conner. »Aber nach dem,
was ich ihr angetan habe, wird sie mir keine zweite Chance geben.
Und eine andere Frau will ich nicht, denn dann würde ich ihr die
Chance nehmen, selbst glücklich zu werden. Ich weiß nur zu gut, wie
so etwas ausgeht.« Conner klang verbittert und er gab sich alle
Mühe, seinen Ton zu ändern. Lässig zuckte er die Achseln. »Ich habe
nichts mehr zu verlieren, Elijah, du dagegen alles. Ich mache das
jetzt noch ein letztes Mal, aber falls es wieder nötig werden
sollte und du den Job immer noch willst, kannst du es dir ja
überlegen.«
»Wenn du absolut sicher bist.«
»Dies ist meine Angelegenheit. Der Mann, der laut
Raul für den Mord an meiner Mutter verantwortlich ist, arbeitet für
Imelda Cortez. Sein Name steht zusammen mit dem seines Partners auf
unserer Liste. Ich schnappe mir beide. Imelda dürfte niemandem von
den Leopardenmenschen erzählt haben. Schließlich möchte sie dieses
Wissen zu ihrem Vorteil nutzen, deshalb haben wir im Moment noch
die Möglichkeit, alles unter der Decke zu halten.«
Rio nickte. »Wahrscheinlich versucht sie noch mehr
Leoparden zu rekrutieren.«
»Da wird sie in meinem Dorf kein Glück haben«,
meinte Conner im Brustton der Überzeugung. »Raul hat es tiefer in
den Wald verlegt, wo Suma und Ottila Zorba, so heißt der andere,
sich nicht hintrauen. Der Name Suma ist mir geläufig, doch den Mann
selbst kenne ich nicht. Er hat nicht in unserem Dorf gewohnt. Seine
Eltern werden ihn außerhalb
des Regenwaldes zur Schule geschickt haben. Wahrscheinlich ist er
erst wiedergekommen, als ich fort war. Obwohl Suma anscheinend
meine Mutter kannte, wird er die Verbindung nicht herstellen
können. Und Zorba gehört zu einem anderen Stamm.«
»Wenn sie woanders keine Rekruten findet«, sagte
Rio, »wird Imelda die beiden irgendwann doch in dein Dorf schicken.
Sie hat viel Geld. Die meisten Menschen, die im Wald leben,
interessiert das zwar nicht, doch einige der Jüngeren könnten auf
Abenteuer aus sein.«
»Wenn ich die beiden Schurken nicht als Erster
erwische, werden die Ältesten sie unauffällig zur Strecke bringen,
ehe sie die Jüngeren ansprechen können.« Conner schaute in die
Runde. »Wenn ihr alle sicher seid, dass wir in Aktion treten
sollten, lasst uns mit der Planung beginnen. Wissen wir, wie die
Kinder aussehen? Wie viele Mädchen sind es? Mehr als Jungen? Und
seid gewarnt, Imelda setzt zur Bewachung ihrer Festung mit Vorliebe
Kinder ein. Sie drückt ihnen einfach eine Waffe in die Hand und
stellt sie in die vorderste Verteidigungslinie. Sie weiß, dass es
den Beamten schwerfällt, Kinder zu töten.«
»Glaubst du, dass sie die kleinen Geiseln auch von
Kindern bewachen lässt?«
»Ich will nur darauf hinweisen, dass es sein könnte
und wir uns darauf einstellen sollten, das ist alles.«
Rio reichte Conner eine Wasserflasche und
trommelte, die Stirn nachdenklich gerunzelt, mit den Fingern auf
den Tisch. »Elijah, ist eigentlich bekannt, dass du keine krummen
Geschäfte mehr machst?«
Der schüttelte den Kopf. »Nein, als mein Onkel
starb, dachten alle, ich hätte ihn getötet, um das ganze Geschäft
für mich allein zu haben. Aber ich habe nach und nach alles
verkauft, was illegal war, und bin aus dem Drogen- und Waffenhandel
ausgestiegen. Mit Menschenhandel hatten wir nie etwas zu tun. Es
gibt allerdings Gerüchte, jedenfalls gelte ich nach wie vor als
äußerst skrupellos.«
»Dann lass uns diesen Ruf nutzen, anstatt dich
unter falschem Namen als Leibwächter auszugeben. Du könntest als
Freund von Santos auftreten«, sagte Rio. »Das wird Imelda in der
Hoffnung, mit Santos einen dicken Fisch an der Angel zu haben, noch
bestärken.«
»Bleiben noch drei von uns als Bodyguards«,
bemerkte Conner. »Verfügt ein Mann wie Santos normalerweise über
mehr?«
»In der Regel wird er von vier Männern und zwei
Hunden begleitet«, erwiderte Felipe. »Aber ich wollte sein
gewohntes Team nicht in Gefahr bringen. Wir hätten den Leuten doch
gar nicht erklären können, was wir vorhaben.«
»Und dein Onkel hat der Sache zugestimmt?«, fragte
Conner. »Weiß er überhaupt, worauf er sich einlässt?«
Felipe nickte. »Oh ja. Und er weiß auch, dass
Imelda eine Bedrohung für uns darstellt.«
»Dann sag uns doch, wer wirklich unser Auftraggeber
ist, Rio«, forderte Conner. »Du hast uns erzählt, dass Adan Carpio
den Kontakt hergestellt hat. Aber sein Stamm kann nichts von uns
wissen. Und mein Vater hätte uns nie um Hilfe gebeten. Also, wer
wusste von uns und woher? Ich möchte alle Karten auf dem Tisch
liegen haben, ehe wir weitermachen.«