20. Kapitel
Wo sind sie?«, fragte Jasmine besorgt. Sie war nicht gern ohne die karpatianischen Männer in dem Haus. Unruhig ging sie von Fenster zu Fenster und starrte in den Regenwald hinaus.
MaryAnn antwortete nicht sofort, sondern rührte leicht an Ma-nolitos Geist. »Sie helfen Luiz. Er ist als Karpatianer wieder zu sich gekommen und sehr hungrig.«
Juliette strich Solanges Haar zurück. »Da draußen ist niemand, Jazz. Das wüsste ich. Außerdem sind die Männer nicht weit weg. Ich bezweifle, dass irgendjemand einen weiteren Angriff wagen würde.«
»Ich will einfach nur hier weg«, sagte Jasmine und drückte schützend eine Hand an ihren Bauch.
»Wir haben schon Bescheid gegeben, dass man uns den Jet schickt«, versicherte ihr Juliette. »Wir wollen nicht, dass Solange und du versucht, durch den Dschungel zu der Ranch zu gelangen. Das ist zu weit und zu gefährlich. Jetzt, da wir wissen, dass der Meistervampir die Jaguarmenschen dazu benutzt, Solange in seine Gewalt zu bringen, können wir keine Risiken eingehen.«
»Die Ranch befindet sich auch am Rand des Dschungels«, gab Jasmine zu bedenken. »Sie liegt immer noch sehr abgeschieden. Vielleicht sind wir ja auch dort nicht sicher.«
Juliette wechselte einen Blick mit MaryAnn, und beide blickten auf Solange herab.
Sie drückte die Hand ihrer Cousine. Es ist schon gut. Ich weiß, dass ich jetzt nirgendwo mehr sicher sein werde. Aber sag es nicht Jasmine. Ich hatte gehofft, auf der Ranch bleiben zu können, doch ich will sie nicht noch mehr gefährden, als sie es ohnehin schon ist. Sie ist schwanger, Juliette, und braucht Fürsorge.
Juliette sprach laut, um sowohl ihre Schwester als auch ihre Cousine zu beruhigen. »Es gibt mehrere Häuser auf dem Anwesen. Eins ist extra für euch beide errichtet worden, damit ihr ungestört sein könnt. Rafael und Colby sind Karpatianer und haben ihr eigenes Zuhause auf der Ranch. Colbys jüngerer Bruder und ihre Schwester leben bei ihnen. Riordan und ich haben dort auch ein eigenes Haus. Nicolas und Zacarias teilen sich das Haupthaus. Manolito und MaryAnn werden ihr eigenes Zuhause haben. Abgesehen davon lebt und arbeitet die Familie Chavez auf der Ranch, und sie verfügen über die nötigen Kenntnisse und Waffen, um Vampire oder wer auch immer sonst versuchen sollte, euch etwas anzutun, zu bekämpfen. Mit acht Karpatianern und den Chavez' ist die Ranch im Moment der sicherste Ort für euch.«
Solange seufzte. »Sie hat recht, Jasmine. Auf der Ranch sind wir wahrscheinlich sicherer als irgendwo anders. Ich brauche ohnehin noch Zeit, mich zu erholen. Und Pferde liebte ich schon immer.«
Jasmine drehte sich um, zum ersten Mal mehr interessiert an dem Gespräch. »Das wusste ich nicht. Du hast mir nie etwas davon gesagt.«
Solange versuchte, eine unbefangene Miene aufzusetzen. Sie gab heutzutage nur selten etwas von sich preis, nicht einmal ihrer eigenen Familie gegenüber. »Als ich jünger war, bin ich viel geritten.«
»Daran erinnere ich mich«, sagte Juliette. »Du warst eine solche Draufgängerin, selbst damals schon. Du bist immer ohne Sattel geritten und hast Mom zu Tode erschreckt damit.«
Solanges Augen verdüsterten sich, und sie sank wieder auf die Couch zurück. Juliette und sogar Jasmine sahen MaryAnn hilflos an, als wüssten sie nicht, was sie tun sollten.
MaryAnn wartete, bis Jasmine sich zu Solange auf die Couch gesetzt hatte, bevor sie ihren Nagellack aus ihrer Tasche nahm. »Möchte jemand den benutzen?«, fragte sie und hob das Fläschchen hoch.
»Ich habe mir noch nie im Leben die Nägel lackiert«, sagte Solange mit leicht schockierter Miene. »Könnt ihr euch mich mit roten Nägeln vorstellen?«
»Nicht rot.« MaryAnn schüttelte den Kopf, als hätte Solange soeben einen gewaltigen Fauxpas begangen. »Das ist »Feuriges Pink‹.«
»Feuriges Pink.« Juliette stieß ihre Cousine an. »Das ist zum Totlachen. Ich habe dich noch nie in Pink gesehen, geschweige denn in feurigem.«
»Warum nicht rot?«, fragte Jasmine.
»Weil das nicht zu ihrer Hautfarbe passen würde«, war Mary-Anns sachkundige Antwort. »Sie hat schöne Hände. Da wird sie doch wollen, dass die Leute sie bemerken.«
Solange schob ihre Hände hinter ihren Rücken. »Ich habe kein Interesse daran, dass Männer mich bemerken.«
MaryAnn lachte. »Du Dummerchen. Glaubst du wirklich, Frauen machten sich nur für Männer hübsch? Einige vielleicht schon, aber die meisten tun es sich selbst zuliebe. Wenn du gut aussiehst, bist du mutiger und hast mehr Selbstvertrauen. Wenn du und Jasmine zum Beispiel zu einer Dinnerparty gehen müsstet, würdet ihr doch so gut aussehen wollen, dass andere Frauen euch nicht für arme Verwandte halten. Geschlechtsgenossinnen beurteilen Frauen viel grausamer als Männer.«
»Du siehst immer gut aus«, sagte Juliette. »Was tust du sonst noch, um das zu erreichen?«
MaryAnn blickte sich um und senkte ihre Stimme. »Die Geheimwaffe ist Gurke.«
Solange setzte sich abrupt wieder auf. »Jasmine, halte dir die Ohren zu.«
MaryAnn, Juliette und Jasmine brachen in schallendes Gelächter aus.
»Oje! Was für eine schmutzige Fantasie du hast, Solange«, sagte Juliette.
»Meine Fantasie ist in Ordnung, vielen Dank. Es ist MaryAnns, um die ich mir Sorgen mache.«
»Man legt Gurkenscheiben auf die Augen«, sagte MaryAnn und konnte sich das Lachen kaum verkneifen.
Solanges antwortendes Lächeln war nur kurz und flüchtig, aber es brachte wieder Licht in ihre Augen. »Das wusste ich.«
Es war das erste Mal, dass MaryAnn einen Anflug von Normalität in Solange sah, als sie ihre Unnahbarkeit für ein paar Sekunden aufgab.
»Ich werde dir die Zehen- und Fingernägel lackieren, Jasmine«, erbot sich MaryAnn. Der Schlüssel zu Solanges Kooperation, und vielleicht sogar zu ihrer endgültigen Heilung, war ihre Liebe zu ihrer jüngeren Cousine. Soweit MaryAnn ihre Vorschläge auf Jasmine beschränkte, würde Solange sich der jüngeren Frau zuliebe dazu zwingen, an der Unterhaltung teilzunehmen.
Jasmine blickte Solange und dann ihre Schwester an. »Ich habe sie mir noch nie lackiert.«
»Nun, dann wird es aber höchste Zeit«, sagte Juliette.
»Und ich finde, Juliette sollte die Gurke mal probieren«, schlug Solange vor.
Juliette warf ein Kissen nach ihr.
»Auf deinen Augen, nur auf deinen Augen«, verteidigte sich Solange.
»Ich lasse mir die Nägel lackieren, wenn du willst«, sagte Jasmine.
Solange schüttelte den Kopf. »Auf keinen Fall.«
Juliette stieß sie wieder an. »Solange hat Angst, dass wir denken könnten, sie wäre ein Girlie. Ein Modepüppchen.«
»Hey!« MaryAnn schaffte es, eine gekränkte Miene aufzusetzen. »Was ist so schlimm daran? Ich habe trotzdem Vampiren in den Hintern getreten. Ich sah bloß gut dabei aus.« Sie erwähnte nicht, dass sie ein Fell getragen hatte, sondern streckte ihre Fingernägel aus. »Und ich habe mir nur einen Nagel dabei abgebrochen.«
»Deine Nägel sind lang«, stellte Jasmine bewundernd fest. »Meine brechen dauernd.«
»Aber nicht, wenn sie gut manikürt sind. Komm schon, Jasmine. Solange wird sich auch ihre Zehennägel lackieren lassen. Sie kann sie ja zudecken, damit sie niemand sieht. Das ist ungefähr so, wie wenn man sexy Unterwäsche trägt und keiner es weiß. Du fühlst dich schön damit, aber du bist die Einzige, die es weiß.«
Juliette runzelte die Stirn. »Unterwäsche? Wer trägt schon Unterwäsche?«
»Oh!« Solange warf das Kissen zu ihr zurück. »Da irrst du dich.«
»Okay, darin muss ich Solange recht geben«, sagte Jasmine. »Das ist wirklich ein bisschen zu viel vertrauliche Information. Ich werde dich nie wieder ansehen können, ohne mir vorzustellen... « Sie brach ab und verzog das Gesicht.
Zu ihrer aller Erstaunen lächelte Solange. Ein echtes, aufrichtiges Lächeln, das ihr ganzes Gesicht veränderte, ihre Augen erhellte und sie um Jahre jünger aussehen ließ. »Jetzt hast du auch mir dieses Bild in den Kopf gesetzt.«
Sie und Jasmine wechselten einen Blick, verzogen das Gesicht und sagten wie aus einem Munde: »Puh!«
»Dann ist meine Mission erfüllt. Ich habe es geschafft, euch beide zu verwirren.« Juliette verschränkte ihre Arme und lächelte zufrieden.
Jasmine lachte und streckte MaryAnn ihre Hände hin. »Wenn Solange feuriges Pink ist, welche Farbe bin dann ich?«
Alle warteten. MaryAnn blickte zu Solange hinüber, die eine Augenbraue hochzog. »Hm, ich glaube, bei dir ist es mehr kaugummifarben«, sagte MaryAnn und förderte ein weiteres Fläschchen aus ihrer Tasche zutage.
»Das ist Pink!«, erklärte Solange und lehnte sich an ihre Kissen.
»Ist es nicht«, sagte MaryAnn entrüstet. »Da besteht ein feiner Unterschied.«
»Was hast du sonst noch da drin?«, wollte Juliette wissen und warf einen Blick in die große Tasche mit den ordentlichen Reihen kleiner Nagellackfläschchen, die in eigens dafür angebrachten Schlaufen steckten. »Ich kann es nicht glauben. Sieh dir das mal an, Solange.« Sie schnappte sich die Tasche und ließ die anderen ihren Inhalt sehen.
Ein ehrfürchtiges kleines Schweigen entstand.
»Wie viele Fläschchen Nagellack hast du eigentlich?«, fragte Solange.
MaryAnn nahm die Tasche und öffnete den kaugummifarbenen Nagellack. »Ich verlasse nur selten das Haus, ohne mindestens zehn dabeizuhaben. Man kann nie wissen, was vielleicht passiert, und eine Frau sollte sich immer wohlfühlen in ihrer Haut, ganz gleich, in welcher Situation.« Sie stieß einen etwas übertriebenen Seufzer aus. »Ich weiß wirklich nicht, was ihr drei ohne mich tätet.«
»Nun«, sagte Solange und beugte sich so weit vor, dass ihre Nase fast den Nagellack berührte, als sie beobachtete, wie MaryAnn ihn auf Jasmines Fingernägel auftrug, »wir trügen auf jeden Fall weder feuriges Pink noch kaugummifarben.«
»Also los.« Juliette griff nach dem feurigen Pink. »Gib mir deinen Fuß, Solange.«
»Warte!« In MaryAnns Stimme schwang Panik mit. »So einfach ist das nicht. Hier.« Sie zog zwei orangefarbene und purpurrote Schaumgummistreifen heraus. »Die musst du zwischen ihre Zehen stecken.«
Solange zog ihren Fuß hinauf und unter sich. »Vergiss es, Juliette. So was Schrilles steckst du mir nicht auf den Fuß.«
»Nun stell dich nicht so an.« MaryAnn schob einen der Streifen zwischen ihre Zehen und hob den Fuß. »Siehst du? Es tut überhaupt nicht weh. Ich habe noch ein Paar, und die sind noch nicht mal rot.«
»Nein, sieh mal, sie sind pink, Solange!«, rief Jasmine entzückt.
Solange verdrehte die Augen, erlaubte Juliette aber, sie zwischen ihre Zehen zu stecken. »Aber wehe, ihr erzählt jemandem davon!«
MaryAnn beschäftigte sich eifrig mit Jasmines Nägeln und warf gelegentlich einen Blick auf Solanges Zehen. Juliette veranstaltete eine ziemliche Schweinerei und brachte Jasmine damit so zum Lachen, dass sie kaum noch ihre Hände stillhalten konnte. Mary-Ann warf Solange mehrmals einen Blick zu. Sie schien sich zu entspannen und sich ausnahmsweise einmal zu erlauben, ein bisschen Spaß zu haben. Es war ein kleiner Schritt, doch immerhin bereits ein Fortschritt.
MaryAnn suchte ihren Lieblingsnagellack und begann mit ihren eigenen Zehen, während Jasmine auf ihre Nägel blies und Juliette sich von Solange die Zehennägel lackieren ließ. Doch plötzlich versteifte sich Solange und sah zur Tür.
Manolito? MaryAnn spürte seine Anwesenheit ganz in der Nähe. Geht behutsam mit Solange um. Sie hat ein echtes Trauma erlitten, und sowohl sie als auch Jasmine brauchen Hilfe. Sag es bitte auch Riordan und Luiz.
Er durchflutete sie mit einem beruhigenden Gefühl, als er ins Zimmer kam. »Guten Abend, die Damen. Wie ich sehe, geht es euch sehr gut.« Er bückte sich, um MaryAnn aufs Haar zu küssen, und tat so, als bemerkte er nicht, wie seine Nähe Solange zusammenzucken ließ.
»Wie geht es Luiz?«, fragte Jasmine.
»Gut. Riordan ist noch bei ihm. Er hat einiges zu lernen. Zu fliegen und seine Gestalt zu verändern, wie unsere Leute es tun, ist nicht so einfach, wie es aussieht.« Er zwinkerte Jasmine zu. »Hübsche Nägel. Die Farbe gefällt mir gut.«
Sie lächelte. »Das ist kaugummifarben.«
Manolito nahm MaryAnn das Fläschchen aus der Hand, setzte sich ihr gegenüber und zog ihren Fuß auf seinen Schoß. »Ich bin auf der Insel auf Patrouille gegangen, Solange, und habe Jaguarspuren auf der Nordseite gesehen. Ich bin ihnen bis zum Fluss gefolgt. Es sah aus, als wäre die Katze dort hineingesprungen.« Er sprach ganz beiläufig mit ihr, behandelte sie als Gleichgestellte und zwang sie dadurch, das Gleiche auch mit ihm zu tun. Er schraubte das Fläschchen Nagellack auf und runzelte die Stirn über den Geruch.
MaryAnn warf ihm ein dankbares Lächeln zu, weil er mit Solange gesprochen hatte, als merkte er nicht, dass sie seine Anwesenheit im Zimmer kaum ertragen konnte. Es war bestimmt schon einige Jahre her, seit Solange in solch ungezwungener Atmosphäre in der Gesellschaft eines Manns gewesen war.
»Ich habe einen sehr guten Geruchssinn«, fügte Manolito hinzu, »und obwohl die Spur schon mehrere Stunden alt war, konnte ich keinen Mann in der Raubkatze entdecken. Wie unterscheidet man einen Gestaltwandler und einen echten Jaguar, ohne in ihr Gehirn blicken zu können? Er war zu weit entfernt, um seinen Geist anrühren zu können.«
MaryAnn hätte Manolito am liebsten umarmt und ihn geküsst.
Ich habe einiges daraus gelernt, in dein Bewusstsein schauen zu können. Seine Stimme war wie eine sinnliche Liebkosung, bei der sich ihr die Zehen krümmten, und so landete das dick mit Lack bedeckte Pinselchen auf ihrem Zeh anstatt auf ihrem Zehennagel.
Solange hatte das Ganze beobachtet, fasziniert von dem Anblick eines karpatianischen Mannes, der mit größter Behutsamkeit die Zehennägel seiner Gefährtin lackierte. Es zuckte um ihre Lippen, und sie musste wegsehen, als Manolito MaryAnn einen ärgerlichen Blick zuwarf.
»Halt still.«
»Ich halte still. Du hast das getan.«
»Was habe ich getan?«, fragte Manolito.
Du sahst so unwiderstehlich sexy aus und hörtest dich an wie Hitze in einem Wintersturm. Benimm dich, ja?
Solange räusperte sich. »Wenn der Jaguarmensch unterwegs ist, trägt er für gewöhnlich ein kleines Bündel um den Hals.« Ihre Stimme klang leise und rau, als benutzte sie sie nur selten. Sie vermied es, Manolito direkt anzusehen, aber sie knurrte ihn auch nicht an. Und sie fuhr fort, sich Juliettes Zehen zu widmen, als wäre das das Normalste auf der Welt. »Wenn er auf einen Baum springt, bleibt oft etwas von dem Moos auf dem Stamm oder den Ästen auf seinem Bündel hängen. Es ist nur sehr klein, aber wenn du erst mal weißt, wonach du Ausschau halten musst, kannst du es erkennen.«
»Wenn wir wieder auf der Ranch sind, könntest du dir vielleicht die Zeit nehmen, es mir zu zeigen«, sagte Manolito. »Dann wissen wir, wonach wir suchen, wenn wir auf Patrouille gehen.« Seine Stimme klang so beiläufig wie Solanges. Dann beugte er sich vor, um auf MaryAnns Zehen zu blasen.
»Klar.«
Schweigen trat nun ein, aber es war ein kameradschaftliches, kein angespanntes. MaryAnn sah sich in dem Zimmer nach den Frauen um, die ihre Freundinnen und Familie geworden waren. Dann glitt ihr Blick zu dem Mann, der ihr Herz und ihre Seele war, und sie merkte, dass sie lächelte.
Manolito blickte auf, und ihr Herz schlug schneller, wie es immer der Fall war, wenn seine schwarzen Augen ihre suchten und sie sich in seinem Blick verlor.
Ich liebe dich, avio päläfertiil. Meine Gefährtin. Meine Frau.
Ich liehe dich auch, avio päläfertiil, koje. Mein Gefährte. Mein Mann.
Das Leben konnte nicht mehr besser werden.