17. Kapitel

Der Vampir durchbrach die Überreste der Barriere, die Mary-Ann umgab, und riss Manolitos Schutzzauber in Fetzen. Die Krallen der Kreatur waren ausgestreckt, um Manolitos Körper zu erreichen, der an dem Geländer der Terrasse hoch im Blattwerk lehnte. Der Werwolf begegnete dem Untoten noch in der Luft, sie prallten hart zusammen, und die Wölfin trieb den Vampir mit der Kraft seiner eigenen Vorwärtsbewegung zurück. Erbarmungslos bearbeitete sie den Vampir mit ihren Tatzen, während sie zusammen von der Terrasse herunterfielen.

Sie stürzten auf den Waldboden zu, die Wölfin auf dem Untoten, und die beiden sich heftig windenden Gestalten zerbrachen ganze Äste, da der Vampir während des Sturzes immer wieder mit dem Rücken dagegenprallte. Überall um sie herum erwachte der Dschungel zum Leben von den Kampfgeräuschen, dem Kreischen der Vögel, dem Geschrei der Affen und dem Fauchen des Vampirs.

Der Vampir schlug der Wölfin seine Zähne in die Schulter und zerriss ihr Fleisch, während er ihr mit seinen Krallen den Bauch aufriss. MaryAnn spürte, wie tief die Krallen eindrangen; sie konnte sogar das Geräusch des zerreißenden Fleischs und Fells des Wolfes hören. Ihr drehte sich der Magen um, doch die Wölfin schlug mit der Tatze den Kopf des Vampirs beiseite, sodass sich seine Zähne aus ihrer Schulter lösten, und ignorierte den Schmerz, als Fleischfetzen und Blut die Blätter besprenkelten.

Der Vampir kam auf dem Boden auf, schon halb in Dunst aufgelöst, um dem Wolf zu entkommen, aber MaryAnns Beschützerin war schneller und schlug ihm ihre Fänge in die Kehle und die Krallen in die Brust, um ihm das verdorrte, schwarze Herz herauszureißen. Das Tier folgte seinem Instinkt, der kollektiven Erinnerung an ein uraltes Vermächtnis, das von einer Generation an die nächste weitergegeben wurde. Tief in ihrem Innersten, wo nichts sie berühren konnte, schwor sich MaryAnn, nie wieder ohne ihr Pfefferspray irgendwohin zu gehen. Die Wölfin hätte den Vampir damit blenden und sich so wenigstens vor diesen schrecklichen Zähnen schützen können.

Beim Aufprall auf dem Boden landete sie auf dem Vampir, und sie wälzten sich über den Boden, wobei der fauchende Vampir ihr seinen widerlichen Atem ins Gesicht blies. Die Kreatur, die nach verfaulendem Fleisch stank, beleidigte den feinen Geruchssinn der Wölfin. Der Vampir packte sie, schleuderte sie von sich und nutzte die Gelegenheit, um sich in Dunst aufzulösen und zu der Terrasse hoch oben in den Bäumen hinaufzuströmen.

MaryAnns Herz drohte, ihr die Brust zu sprengen. Sie hörte sich schreien und versuchte mit aller Macht, die Kontrolle über den Wolfskörper zu erlangen, damit sie zu Manolito eilen konnte, aber das Tier war schon in Bewegung, sprang mit unglaublicher Geschwindigkeit die Baumäste hinauf und stürzte sich auf den Vampir, der gerade neben Manolitos Körper wieder Gestalt annahm. Diesmal packte die Wölfin den Kopf des Vampirs mit seinen Tatzen und brach ihm mit einer schnellen Drehung das Genick. Ein lautes Knacken, und der Kopf des Vampirs fiel schlaff zur Seite. Knurrend, ihre Augen rot vor Zorn, senkte die Kreatur ihre Schulter und trieb die Wölfin zurück, sodass sie schon wieder zusammen über das Geländer in die Tiefe stürzten.

MaryAnn spürte, wie sie fielen, sie fühlte die Zweige, die gegen ihren Bücken peitschten, aber ihre Wölfin verlor nicht eine Sekunde die Kontrolle, sondern grub ihre Schnauze tief in die Brust des Untoten, um ihm das Herz herauszureißen. Blut bedeckte ihr Fell und brannte sich wie Säure in ihre Haut und Knochen, aber nicht einmal das konnte sie aufhalten. In seiner Verzweiflung riss der Vampir sich von der Wölfin los, und beide kamen hart auf dem Boden auf.

Und dann tauchte aus dem Nichts plötzlich Riordan De La Cruz auf, als der Vampir gerade wieder auf die Füße sprang. Ohne Zögern stieß Riordan seine Faust tief in die Brust des Untoten und riss ihm das Herz heraus. Nachdem er es weit weggeworfen hatte, fuhr er zu dem Wolf herum. Die Wölfin schwankte, als es ihr gelang, sich zu erheben, und zitterte am ganzen Körper von dem Schmerz ihrer Verletzungen.

Riordan zog eine Augenbraue hoch. »MaryAnn?«

Die Wölfin nickte und lehnte sich seitlich an einen Baum, um sich zu stützen. Dann zeigte sie mit dem Kopfbewegung auf das Herz, das auf den Körper des Vampirs zurollte.

»Ja, natürlich.« Riordan erhob die Arme zum Himmel, um seinen Schock zu überspielen. Sofort brauten sich Sturmwolken zusammen, und Donner grollte. Blitze durchzuckten die dunkleren Wolken, und dann schlug einer in das Herz ein und ließ es in Flammen aufgehen. Als Nächstes lenkte Riordan die tödliche Energie auf den Körper des Vampirs.

Zu MaryAnns Erstaunen legte die Wölfin sich in den knisternden Energiestrom. Doch statt darin zu verbrennen, löste die Energie das mit Säure versetzte Blut an ihrem Kopf und Körper auf. Schwankend trat die Wölfin zurück und lehnte sich mit zitternden Flanken und um Atem ringend wieder an einen dicken Baumstamm. Ihr ganzer Körper schmerzte, aber sie hatte Manolito am Leben erhalten. Sie konnte keine Sekunde länger warten, um nach ihm zu sehen. Ihn zu berühren. Sie brauchte ihn so sehr.

Sie sprang auf einen der niedrigeren Äste und kletterte zu der Plattform in den Baumkronen hinauf. Manolito saß noch an derselben Stelle, sein Körper war ein bisschen zu einer Seite gesackt, aber er sah aus, als schliefe er. Sie atmete erleichtert auf und ließ sich neben ihm auf den Boden sinken.

MaryAnn konzentrierte sich darauf, ihren eigenen Körper wiederzuerlangen, und dankte ihrer Beschützerin für ihre Hilfe. Sie selbst mit ihrem viel schwächeren menschlichen Körper hätte den Vampir niemals besiegen können. Sie war auch erfüllt von Dankbarkeit den anderen Spezies gegenüber, die die Welt mit ihr teilten, war froh und dankbar, dass sie aufmerksam genug waren, um dafür zu sorgen, dass alle so sicher wie nur möglich waren. Die Wölfin in ihr verlieh ihr ein Gefühl der Sicherheit.

Die Wölfin bist du selbst, versicherte ihr die weibliche Stimme in ihr.

MaryAnn schloss die Augen und zog die Beschützerin tiefer in ihre Seele. Diesmal ging der Umwandlungsprozess viel schneller vonstatten, da die Wölfin sich sogleich in ihre Höhle zurückzog und MaryAnn wieder ihre eigene Gestalt annahm, viel müheloser, als es umgekehrt der Fall gewesen war. Ihr Körper transformierte sich mit einem Minimum an Schmerz, doch kaum besaß sie wieder ihre menschliche Gestalt, steigerte sich der Schmerz ihrer Verletzungen, bis ihr die Tränen kamen und sie sich auf die Lippe beißen musste, um nicht aufzustöhnen.

»Ich habe den Jaguar vernichtet und den Magier ebenfalls, und ich habe auch die Erde, Bäume und Blätter von dem Blut des Vampirs gereinigt, also komme ich jetzt zu dir herauf.«

MaryAnn verstand den warnenden Unterton in Riordans Stimme im ersten Moment nicht, bis sie an sich herabblickte und merkte, dass sie etwas zum Anziehen brauchte. Sie hatte keine Kleider mehr. Panik erfasste sie. Ihre Kleider waren ihr Schutzschild. Ohne sie fühlte sie sich hilflos. Sie konnte Riordan nicht nackt gegenübertreten. Ihre Panik war so groß, dass sie sogar zu hyperventilieren begann.

»Nein! Du kannst nicht heraufkommen. Ich bin nicht angezogen.«

Er murmelte irgendetwas in seinem ungeduldigen Ton, und plötzlich war MaryAnn mit einem verblichenen karierten Hemd, viel zu weiten Jeans und abgetragenen Turnschuhen bekleidet. Dann stand er vor ihr und blickte stirnrunzelnd auf sie herab.

»Ich werde deine Wunden heilen müssen. Aber dazu muss ich sie mir ansehen. Vampire hinterlassen neuerdings winzige Parasiten, wenn sie beißen.«

Sie hörte ihn kaum, weil sie zu beschäftigt damit war, in unverhohlener Bestürzung ihre Kleider zu betrachten. »Du ... du kannst doch nicht ernsthaft glauben, dass ich diese ... dieses Zeugs hier tragen werde«, sagte sie und hielt mit den Fingerspitzen den Saum des Hemdes hoch, als sie entsetzt zu Riordan aufblickte.

Sein Stirnrunzeln vertiefte sich. »Dieses Zeugs sind Kleider.«

»Oh nein, das sind allerhöchstem Lumpen.« Sie berührte ihren Zopf, um sich zu vergewissern, dass er noch in Ordnung war. Sie mochte gegen Vampire und Jaguare kämpfen, aber sie wollte zumindest gut dabei aussehen. »Das sind keine Kleider.« Ihren Arm zu bewegen, obwohl ihre Schulter schon wie Feuer brannte, hatte sie sichtlich zusammenzucken lassen, und natürlich hatte Riordan es bemerkt und war weit mehr an dem Vampirbiss interessiert als an ihren Kleidersorgen.

Er kniete sich hin, um seinen Bruder zu untersuchen. »Juliette sorgt sich nie um ihre Kleidung. Sie trägt so ziemlich alles.«

»Ich habe schon bemerkt, dass diese Frau eine Beratung braucht«, gab MaryAnn zurück. Und das nicht nur in Modefragen. Juliette brauchte auch ein paar Sitzungen hinsichtlich des Umgangs mit autoritären Männern.

Riordan blickte zu ihr auf, und sein Lächeln verschlug ihr den Atem. Für einen Moment, in diesem schwachen Mondlicht, hatte er wie sein Bruder ausgesehen. Doch es war nur ein sekundenlanger Eindruck, der schnell wieder verflog, und MaryAnns Verzweiflung, nicht bei Manolito zu sein, nahm zu.

Riordan richtete sich langsam auf, als das Lächeln auf MaryAnns Gesicht verblasste. »Das hast du gut gemacht. Ich stehe tief in deiner Schuld. Unsere ganze Familie, MaryAnn. Danke, dass du meinem Bruder das Leben gerettet hast.«

Die Aufrichtigkeit in seiner Stimme wurde ihr zum Verhängnis. Hätte sie ihre besten Kleider angehabt, hätte sie vielleicht mit Würde damit umgehen können, aber nein, er musste sie ja in ein absolut untragbares Outfit stecken, und ihre Nerven hielten diesem Druck einfach nicht stand. Sie hörte sich aufschluchzen. Rior-dan machte ein erschrockenes Gesicht und trat sogar einen Schritt zurück und hob die Hand.

»Nicht weinen, MaryAnn. Das war ein Kompliment. Fang nicht an zu weinen. Deine Schulter muss doch wehtun. Lass sie mich mal sehen.«

»Es ist wegen der Kleider.« Jetzt bekam sie auch noch Schluckauf. »Tausch sie aus.«

»Dann zeig mir, was du haben willst.«

Riordan hörte sich so verzweifelt an, wie sie sich fühlte. Sie konnte nicht hier herumstehen und heulen wie ein kleines Kind, während Manolito sich in jener anderen Welt befand und sich mit was auch immer auseinandersetzen musste. Sie musste zu ihm. Aus irgendeinem Grund ließ allein schon der Gedanke an diesen Ort sie frösteln. Aber sie nahm sich zusammen, schloss die Augen und entwarf ein Bild von sich in ihren Lieblingsjeans von Versace, dem tabakfarbenen Top mit den goldenen Lederriemchen von Dolce & Gabbana und ihren Lieblingsstiefeln von Michael Kors, weil die so schick und bequem waren und zu allem passten. Accessoires waren alles, und darum fügte sie auch noch den geflochtenen Gürtel und den dicken Armreif und die Kette hinzu, die sie schon immer haben wollte, sich aber nicht leisten konnte.

Sie atmete tief ein und wieder aus, als sie die perfekt sitzenden Kleider an ihrem Körper spürte, die ihr das nötige Selbstvertrauen gaben, um sich ihrer nächsten Herausforderung zu stellen. »Danke, Riordan. Die sind perfekt.«

Statt des spöttischen Lächelns, das sie erwartet hatte, musterte er sie aufmerksam. »Du siehst wirklich großartig aus. Ich fand dich auch in den anderen Kleidern okay, aber diese hier passen irgendwie zu dir.«

MaryAnn lächelte und verspürte zum ersten Mal ein Gefühl der Kameradschaft zwischen ihnen. »Danke, dass du so schnell gekommen bist. Ich wusste nicht, was ich tun sollte mit diesem ... Ding. Es griff mich immer wieder an.« Dann schüttelte sie den Kopf und runzelte die Stirn. »Na ja, nicht mich. Meine Beschützerin.«

»Den Wolf.«

Er sagte es mit Respekt, und ihr wurde sogar noch leichter ums Herz. MaryAnn erkannte, was das bedeutete. Sie war der Wolf. Die Wölfin lebte in ihr, still und abwartend, kam hervor, wenn sie gebraucht wurde, und begnügte sich ansonsten damit, sich ruhig zu verhalten, solange ihr Eingreifen nicht nötig war. Sie wachte über sie, und die Tiere in ihrer Umgebung erkannten die Beschützerin in ihr als das an, was sie war. Und respektierten sie. Riordan respektierte sie.

»Du bist Manolitos Gefährtin«, sagte er. »Und du wirst mehr als allen Erwartungen gerecht.« Er verbeugte sich vor ihr in einer formvollendeten Geste des Respekts. »Er hätte es nicht besser treffen können. Du birgst viele Geheimnisse, kleine Schwester.«

MaryAnn konnte gar nicht anders, als zu grinsen. »Du meinst die Wölfin? Sie kommt gelegentlich hervor und tritt einigen Leuten kräftig in den Hintern.« Es machte sie sehr stolz, so beiläufig über die Wölfin, die in ihr war, sprechen zu können.

»Ich hatte keine Ahnung, dass es noch Werwölfe auf dieser Welt gab. Jetzt denke ich, dass sie viel schlauer sind, als wir ihnen zugetraut haben. Natürlich existieren sie noch, und das hätten wir uns denken müssen. Sie haben sich bloß immer damit begnügt, im Hintergrund zu bleiben.«

MaryAnn schwankte ein bisschen, als sie sich an das Geländer lehnte. »Ich hatte gehofft, sie könnten sich selbst heilen, wenn sie verwundet werden, so wie ihr es könnt. Und ich würde auch zu gern über die Fähigkeit verfügen, mir mit meiner Fantasie Kleider herbeizuzaubern. Es gibt ein paar Designer, die ich mir nicht leisten kann, aber ich kann mir sehr gut vorstellen, ihre Sachen zu tragen.«

Riordan ergriff ihren Arm, um sie zu stützen, und half ihr, sich wieder neben Manolito hinzusetzen. »Ich habe gute Neuigkeiten für dich, MaryAnn. Manolito ist sehr wohlhabend, und du wirst dir alle Kleider kaufen können, die du willst. Es ist gut, sich die Illusion zu erhalten, menschlich zu sein, aber wenn du erst einmal durch und durch Karpatianerin bist, wirst du auch in der Lage sein, dir so viele Kleider herbeizuzaubern, wie du willst.«

Ihr Herz machte bei seinen Worten einen Sprung. Durch und durch Karpatianerin. Damit musste sie erst noch fertig werden. Aber sie wollte für immer bei Manolito De La Cruz bleiben. Auch wenn er sie verrückt machen würde mit seiner Arroganz und erst noch würde lernen müssen, wie es war, mit einer Frau zu leben, die genauso stur war wie er selbst.

»Verstehst du, was das bedeutet?«, fragte Riordan.

»Nicht wirklich. Wie könnte ich?« Was auch immer er mit ihrer Schulter anstellte, raubte ihr den Atem. Es tat höllisch weh, und sie war wirklich froh, auf ihre perfekten Stiefel hinunterschauen zu können und ihre eckigen Spitzen und das wunderbar weiche Leder bewundern zu können.

»Du wirst voll und ganz Karpatianerin sein. Juliette war sehr bestürzt darüber, den Jaguar in sich zu verlieren. Sie kann zwar ihre Katze hervorrufen, ihre Gestalt annehmen und sich wie eine fühlen, aber es ist trotzdem nicht das Gleiche. Heute empfindet sie es nicht mehr als Verlust, doch ich weiß, dass es sehr schwierig war, als sie anfangs dachte, es sei einer.«

»Wirklich? Ich mache mir mehr Sorgen darüber, meine Familie zu verlieren. Meine Großeltern und Eltern liegen mir sehr am Herzen. Und der Gedanke, meine Familie und Freunde sterben zu sehen, behagt mit überhaupt nicht.«

Riordan wusste nicht, dass ihr Blut Manolito mit dem des Werwolfs infizierte, so wie sein Blut ihr die Eigenschaften eines Karpatianers gab. Sie ließ ihre Finger durch das lange, dichte Haar ihres Gefährten gleiten und erfreute sich an dem Wort und der Profundität seiner Bedeutung. Er gehörte ihr. So wie sie die Seine war, war er der Ihre. Was auch immer ihr geschah, geschah auch ihm. Was würde Riordan dazu zu sagen haben? Wie verständnisvoll würde er sein?

Sie rieb sich ihre pochenden Schläfen. »Hast du etwas gehört?« Sie sah sich um, hob den Kopf und schnupperte. Wie oft hatte sie das schon getan und nie gewusst, warum? Wie oft war sie in das Bewusstsein anderer Leute eingedrungen, ohne sich bewusst zu sein, dass sie das tat, um die Informationen zu erlangen, die sie brauchte, um ihnen zu helfen? Und die Tiere ... Sie sah sich nach den Affen in den Bäumen um. Sie waren ihr alle zu Hilfe gekommen, als sie sie gebraucht hatte. Selbst der Jaguar, der unter dem Einfluss des Vampirs gestanden hatte, hatte versucht, den Bann zu brechen und zu tun, was sie ihm sagte.

»Der Wolf ist gut«, bemerkte sie mit einem zufriedenen Lächeln.

»Natürlich. Was dachtest du denn?«

»Ich dachte, er ist ein Monster, das mit seinen Zähnen und Klauen schreiende Teenager zerreißt und die gesamte Familie auffrisst, während das jüngste Kind aus dem Schrank alles beobachtet und sich schwört, die haarige Bestie eines Tages umzubringen.«

Riordan schnaubte, und sein kurzes, amüsiertes Lächeln verblasste so schnell, wie es erschienen war. »Das kann passieren. Einige wenige können zu bösartigen Einzelgängern werden, aber früher hat die Wolfsgesellschaft – und heute wahrscheinlich auch noch, denke ich – ihre Artgenossen immer sehr gut unter Kontrolle gehalten. Sie lebten wie Menschen, zumindest zogen sie das vor, allerdings blieben sie gewöhnlich in der Nähe eines Waldes oder Dschungels, oder sie arbeiteten mit Tieren, um zu helfen, sie zu schützen. Sie gaben sich nur selten zu erkennen, solange jemand, der unter ihrem Schutz stand, sich nicht gerade in extremer Gefahr befand. Ihre Anzahl nahm sogar noch vor der unseren ab. Sie waren zu weit verstreut und die Rudel einander nicht nahe genug, um sich zu kreuzen, und wir nahmen an, dass sie versucht hatten, sich mit Menschen zu paaren, dabei aber nicht erfolgreich waren und ihre Spezies deswegen schließlich ausgestorben war.«

»Warum glaubst du, dass ihr Blut einen Menschen nicht verwandeln würde?«

»Wir dachten auch nicht, dass karpatianisches Blut einen Menschen ganz und gar verwandeln könnte. Juliette nimmt an, dass mit den Jahren mehr Menschen, als wir ahnten, auch das Blut von anderen Spezies in sich trugen, nicht viel vielleicht, aber wahrscheinlich doch genug für eine genetische Verbindung zwischen ihnen.«

»Du denkst jedoch, das Wolfsblut ist nicht so stark wie das karpa-tianische und dass Manolito kein Problem haben wird, mich zu verwandeln?«

Sie konnte Riordans Zögern spüren. »Ich weiß, dass er dich verwandeln muss, weil er sonst nicht überleben würde.«

»Das habe ich dich nicht gefragt.« Sie trat einen Schritt von ihm zurück, um ihm in die Augen sehen zu können. »Wovor habt ihr Angst?«

»Ich weiß nicht, was geschehen wird, wenn er dich verwandelt«, antwortete Riordan ganz ehrlich, als er wieder die Hand ausstreckte, um den Biss an ihrer Schulter zu untersuchen. Die Stelle war nicht nur verbrannt von dem Blut und Speichel des Vampirs, sondern auch zerfetzt und wund. MaryAnn zitterte, was ihr aber nicht einmal bewusst zu sein schien. Ihre Finger krallten sich in Manolitos langes Haar, als wäre er ihr Rettungsanker, doch auch das merkte sie nicht. »Als ich Juliette verwandelte, kämpfte der Jaguar mit aller Kraft um sein Leben.«

»Manolito hat aber Luiz verwandelt.«

»Luiz lag im Sterben. Es war die einzige Chance für den Jaguar, zu überleben. Ein kleiner Teil von ihm lebt noch, so wie auch ein kleiner Teil von Juliettes Jaguar noch in ihr lebt, aber es ist nicht das Gleiche wie zuvor, obwohl sie noch die Gestalt eines Jaguars annehmen können.«

MaryAnns Herz schlug schneller. Sie mochte die Wölfin, die ein Teil von ihr war, und war stolz auf sie. Und irgendwie, obwohl sie das soeben erst herausgefunden hatte, war ihre Beschützerin schon immer da gewesen, hatte ihr Leben mitgeformt und ihr ohne ihr Wissen beigestanden. Sie wollte nichts anderes sein. Sie betrachtete sich als menschlich. Vielleicht hatte Juliette recht, und die meisten Menschen hatten eine genetische Verbindungen zu einigen der anderen Spezies, aber was auch immer der Grund war, MaryAnn war gern, wer sie war; sie fühlte sich wohl in ihrer Haut und wollte sich nicht verändern, wenn das bedeutete aufzugeben, wer sie war. Und was sie war. Nicht, wenn sie die gerade erst entdeckte Wölfin dadurch wieder verlieren würde.

Aber konnte sie Manolito aufgeben? Ihn sterben lassen? Ihn zum Vampir werden lassen? »Manolito kann nicht zum Vampir werden, wenn er weiß, dass er eine Gefährtin hat, nicht wahr? Falls ich nicht Karpatianerin werde, meine ich?« Ihr Kopf pochte genauso heftig wie ihr Herz. MaryAnn wusste nicht, was mehr wehtat, ihr Kopf oder ihre Schulter. Sie konnte das Brennen der Wunde bis in ihre Knochen spüren.

Plötzlich musste sie Manolitos Geist anrühren und die Verschmelzung mit ihm suchen. Sie kämpfte gegen das Bedürfnis an, weil sie wusste, dass er sie nicht bei sich im Land der Schatten haben wollte, aber das war schwer, da sie sich so verzweifelt nach ihm sehnte. Sie konnte fast nicht atmen und hatte große Mühe, ihre Lungen mit Sauerstoff zu füllen. War sie das, oder war es Manolito? Befand er sich in Schwierigkeiten?

»Natürlich könnte er verrückt werden vor Verlangen. Es ist schlimmer zu wissen, dass eine Gefährtin da ist und man trotzdem nicht gerettet werden kann. Er wird tun, was nötig ist, MaryAnn, und am Ende wirst du darüber froh sein.«

Inzwischen schmerzte jedes Körperteil, ihr Rücken, ihre Arme und Beine, als hätte jemand sie geschlagen. »Ich brauche ihn«, gab sie ganz offen zu und hätte eigentlich beschämt sein müssen, aber das Einzige, woran sie denken konnte, war, zu Manolito zu eilen.

Riordan runzelte die Stirn. Winzige Schweißperlchen aus Blut bedeckten ihre Stirn. Es passte so gar nicht zu MaryAnn, eine Behauptung wie die seine widerspruchslos hinzunehmen, und normalerweise hätte sie ihm auch ihr Verlangen nach Manolito nie gestanden. Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht. Er musste sichergehen, dass das unreine Blut des Vampirs sich nicht wie Gift in ihr verbreitete. »Entspann dich einfach, MaryAnn. Ich werde dich heilen, wie es bei unseren Leuten üblich ist.«

Sie atmete tief ein und schmiegte sich an Manolito, weil sie das Gefühl seiner Nähe, die Wärme seiner Berührung brauchte, aber er fühlte sich kalt und leblos an, sein Geist war weit entfernt von seinem Körper. »Ich muss zu ihm.«

»Dann atme tief durch und lass mich dich heilen. Er würde das wollen«, sagte Riordan, noch immer um einen möglichst beruhigenden Ton bemüht. MaryAnn hatte in den letzten Tagen mit zu viel fertig werden müssen. Sie sah erschöpft aus, und bis morgen Abend, wenn er und Juliette sich wieder aus der Erde erhoben, würde sie trotz all seiner Heilungsversuche die Nachwirkungen ihres Sturzes aus so großer Höhe spüren.

Er atmete tief ein, löste sich von seinem Körper und ließ sein körperliches Ich von sich abfallen, damit er zu dem nötigen heilenden Licht aus purer Energie werden konnte. In Form dieses Lichtes drang er in ihren Körper ein, um sich den Schaden anzusehen. Der Vampir hatte ihr Blut mit voller Absicht infiziert. Er hatte keine großen Stücke Fleisch zerrissen und zerfetzt, sondern nur ganz tief mit seinen rasiermessenscharfen Fängen zugestochen, um Tausende winziger Parasiten in ihren Blutkreislauf zu injizieren. Warum? Warum hatte er nicht versucht, MaryAnn zu töten? Mit der Wölfin hatte er natürlich nicht gerechnet, aber ihr Erscheinen hätte den Vampir eigentlich dazu veranlassen müssen, sich noch heftiger zur Wehr zu setzen.

Stattdessen jedoch hatte der Untote sich offenbar dazu entschieden, MaryAnn den größtmöglichen Schaden zuzufügen, ohne sie jedoch zu töten. Er hatte der Wölfin den Bauch zerkratzt und aufgerissen und sie in die Schulter gebissen, aber nicht eine dieser Verwundungen hätte tödlich enden können. Kein Vampir besaß diese Art von Kontrolle während eines Kampfs auf Leben und Tod – es sei denn, er war darauf programmiert worden. Und wer konnte schon einen Vampir manipulieren, selbst einen geringeren, wenn dessen Leben auf dem Spiel stand? Vampire waren von Natur aus selbstsüchtig und raffiniert. Riordan beobachtete besorgt die in Mary-Anns Blutkreislauf ausschwärmenden Parasiten.

Nach kurzer Überlegung kehrte er in seinen eigenen Körper zurück. »Das könnte eine Weile dauern. Fühlst du dich schlecht?« Riordan hatte kein Gift entdeckt, sodass der Vampir ihr also keine tödliche Chemikalie injiziert hatte.

»Es kann nicht allzu lange dauern. Wir müssen Manolito helfen.«

Riordan sah ihr prüfend ins Gesicht. Abgesehen von den Anzeichen ihrer Erschöpfung, sah er keine Sorge in ihrem Gesicht, was bedeutete, dass sie es nicht ahnte. Aber er hätte sein Leben darauf verwettet, dass der Wolf in ihr es wusste. »Ruh dich aus«, sagte er, mehr zu der Wölfin als zu ihr. Denn sie würde später noch gebraucht werden, dessen war Riordan sich ganz sicher.

MaryAnn schloss die Augen und legte ihren Kopf an Manolitos Schulter. Riordan beugte sich über sie und verließ seinen Körper, um den Kampf gegen die Parasiten aufzunehmen, die der Untote zurückgelassen hatte.

Manolito starrte Draven Dubrinsky schockiert an. Der Mann war schon lange tot. Warum hatte Vlad ihn nicht vorgewarnt, dass sein Sohn im Reich der Schatten weilte? Draven, wie sein Vater und Mikhail, war eine Quelle der Macht für das karpatianische Volk. Er kannte immer den genauen Ton, den genauen Pfad zur geistigen Verbindung, sogar bei Gefährten des Lebens.

Manolitos Herz machte einen Satz, sein Magen verkrampfte sich, aber sein Puls blieb ruhig und stark und sein Gesicht ganz unbewegt. Sein erster Gedanke war, MaryAnn zu warnen. Doch dazu würde er mit ihrem Geist verschmelzen müssen. Würde das sie weit genug in diese Welt hineinziehen, dass Maxim an sie herankommen konnte?

Manolito atmete tief aus und zwang sich, MaryAnn aus seinem Bewusstsein zu verdrängen. Falls Draven seinen Geist berührte, sollte er weder sie noch einen Weg zu einer geistigen Verbindung zu ihr finden können. Sie war schließlich keine Karpatianerin. Draven konnte sie nicht so mühelos aufspüren, wie er es vielleicht bei einer reinrassigen Karpatianerin könnte.

Er vermied es, Vlad Dubrinskys Sohn anzusehen, weil er es für klüger hielt, keinen Dritten in seinen Kampf mit Maxim zu verwickeln. Die Malinovs kannte er und war mehr als nur bereit, sich einen geistigen Schlagabtausch mit Maxim zu liefern, falls das nötig war, um die Karpatianer zu beschützen. »Du kannst sie nicht durch mich in diese Welt hineinziehen. Nicht durch jemanden wie ihn.«

»Sei dir da nicht so sicher, Manolito. Das war schon immer dein Problem. Und das deiner Brüder.« Bittere Verachtung schwang in Maxims Stimme mit. »Was denkst du, wie es deiner Frau gegen einen unserer Mächtigsten ergehen wird?« Sein Lachen war leise und spöttisch. »Nicht sehr gut, glaube ich.«

Manolito runzelte die Stirn, als er sich plötzlich wieder vom Regenwald umgeben sah, wo MaryAnn auf der Terrasse neben seinem Körper saß, mit angezogenen Knien und einer Hand in seinem Haar. Blut war an ihrer Schulter und vorne an ihrer Brust, und ihr Top war halb zerrissen. Ihr Gesicht konnte er nicht sehen, aber sie schien dem Mann zu vertrauen, der so dicht neben ihr stand. Es war Riordan, sein Bruder, der sich gerade vorbeugte, um sich ihre Wunden anzusehen.

Er hätte besorgt aussehen müssen, doch da war etwas Verstohlenes, Gerissenes an ihm, während er über ihr stand wie ein Raubtier über seiner Beute. Dann wandte er den Kopf und lächelte ihn an, und Riordans Gesicht verschwamm und wurde zu dem Kirjas, der einer von Maxim Malinovs Brüdern war.

Manolito blieb fast das Herz stehen, aber er blieb völlig ruhig, aus Angst, sich zu bewegen und damit vielleicht den Angriff auf MaryAnn auszulösen. Alles in ihm drängte ihn, die geistige Verbindung zu ihr aufzunehmen, sie zu warnen ...

Maxim beugte sich vor. »Menschen sind so leicht zu täuschen.«

Manolito schloss die Augen, als Erleichterung ihn jäh durchzuckte. »Das glaube ich nicht. Und soweit ich mich erinnere, hat mein Bruder Rafael Kirja das Herz herausgerissen und ihn in den tiefsten Schlund der Hölle geschickt, wo er und seinesgleichen hingehören.« Ein Mensch mochte die Gefahr nicht spüren, doch die Wölfin in MaryAnn schon. Eine solche Beschützerin wäre augenblicklich in Erscheinung getreten, wenn ein Vampir MaryAnn angegriffen hätte.

»Ich hoffe nur, du bist dir sicher«, spöttelte Maxim.

Im selben Moment stieß Kirja MaryAnn beiseite und schnitt Manolito die Kehle durch. MaryAnn schrie auf und versuchte wegzukriechen, doch der Vampir packte sie an den Knöcheln, warf sie herum und riss ihr die Kleider vom Leib. Dann trat er ihr heftig in die Rippen und bückte sich, um ihr immer wieder seine Fäuste ins Gesicht zu schlagen. Sie rollte sich weg, und er packte sie an ihren Haaren und zerrte sie zu Manolito hinüber, wo er sie festhielt, während er sie zwang, das Blut aufzulecken, das aus der Kehle ihres Gefährten quoll.

Manolito erfuhr, dass es weit schlimmere Dinge gab als körperliche Folter. Er hatte sich gesagt, es sei nicht wirklich MaryAnn, aber seine Augen und sein Verstand weigerten sich, ihm zu glauben. Er erinnerte sich immer wieder selbst daran, dass Kirja schon lange tot und aus der Welt der Lebenden verschwunden war, doch das Blut und die Schreie waren nur allzu real. Er erschauderte, als Kirja fortfuhr, MaryAnn zu schlagen. Manolitos Magen rebellierte, als der Vampir ihr weitere Misshandlungen zufügte und die schlimmsten Gräueltaten an ihr verübte, die Maxim sich ausdenken konnte ... und dieses Scheusal hatte eine ausgesprochen rege Fantasie.

Manolito hatte nicht die Macht, sich diesen Bildern zu verschließen, und deshalb versuchte er, seine Emotionen abzuschalten. Aber es war ausgeschlossen. In diesem Land war es ihm bestimmt, Gefühle zu haben – das war bei allen so –, und die Emotionen waren sogar noch tausendfach verstärkt. Nun wusste er, wie die Untoten einen Geist um den Verstand bringen konnten. Er konnte seine Gefühle nicht abschalten; er musste jeden Schlag, jede noch so widerliche, abartige Demütigung, die MaryAnn zu ertragen hatte, mitempfinden. Seine Lungen brannten vor Sauerstoffmangel; seine Hände zitterten. Er ballte sie zu Fäusten... um was zu tun ? Diese Monster hatten keine Körper. Das hier war nur ein perverses Spiel mit seinem Geist. Sie warteten darauf, dass er es nicht mehr ertrug und sich mit MaryAnns Geist verbinden würde, um nach ihr zu sehen und sein eigenes Leid zu lindern.

Manolito schüttelte den Kopf. »Du wirst sie nie bekommen, Maxim, egal, was du mir antust. Egal, was du mir zeigst.«

Kirja stieß seine Faust in MaryAnns Brust, riss ihr Herz heraus und hielt es triumphierend hoch, während sie schrie und schrie. Ein kalter Schauder durchzuckte Manolito, aber er blieb stoisch und mit unbewegter Miene stehen. Sollte es sein Schicksal sein, die nächsten Jahrhunderte ihren Schmerz zu spüren und mit anzusehen, wie sie gefoltert wurde, würde er dazu bereit sein. Sie durften sie nicht bekommen. Es waren vielleicht nur Minuten vergangen oder Stunden – Zeit bedeutete nicht viel an diesem Ort –, doch ihm kam es vor wie mehrere Lebenszeiten, ja, wie Jahrhunderte, in denen er gezwungen war, mit ansehen zu müssen, wie die andere Hälfte seiner Seele ertragen musste, was auch immer Kirja, Maxim oder Draven sich gerade vorstellten. Der Klang von MaryAnns Schreien und Bitten, die Bilder ihrer Folter waren für immer in sein Herz, seinen Verstand und sogar in seine Seele eingebrannt.

»Er kann sie nicht lieben, wenn er einfach so herumsteht«, sagte Draven. »Jeder Mann würde zusammenbrechen, wenn er seine Gefährtin so brutal misshandelt sähe.«

Manolito schaute durch ihn hindurch. Draven Dubrinsky würde nie erfahren, was Liebe war. Aber Manolito wusste es. Er spürte es in jedem Schlag von Kirjas Faust, in jedem Tritt seiner Füße und in jeder Berührung seiner Hand an MaryAnns Körper. Doch das alles war nur Illusion. Ein Trugbild, weiter nichts.

Er zwang sich zu einem Lächeln, obwohl er Bäche von blutigem Schweiß über seinen Körper strömen spürte. Auch das war eine Illusion. »Ein Spiel, Maxim, mehr nicht. Du treibst deine Spielchen mit mir, und dabei weißt du sehr genau, dass ich mich niemals beugen werde. Du kennst mich. Also mach weiter, wenn es sein muss, doch es kommt mir reichlich kindisch vor, sogar für dich.«

Maxim fauchte, bleckte seine Zahnstümpfe und winkte die Illusion mit einer Handbewegung weg.

»Sieh mich an«, schnarrte Draven, der überaus verärgert darüber war, dass Manolito ihn nicht einmal zur Kenntnis nahm.

»Ich habe nicht den Wunsch, mit dir zu reden, dich zu sehen oder dich in irgendeiner Form als real zu betrachten«, sagte er und beobachtete dabei mehr Maxim als Draven. Vlads Sohn hatte Macht, aber es war Maxim, der gerissen und hasserfüllt genug war, um zurückzukehren und das karpatianische Volk zu vernichten.

»Ich finde es widerlich, Maxim, dass du mit jemandem wie dem da Umgang pflegst. Er hat unsere geliebte Schwester auf dem Gewissen. Du magst ihm vielleicht verziehen haben, doch ich will nicht in seiner Nähe sein. Glaub ja nicht, dass ich einen wie diesen Ausgestoßenen des Geschlechts Dubrinsky fürchte. Vor langer Zeit hätte ich die Gelegenheit begrüßt, ihm das Leben zu nehmen. Es wäre nichts gewesen, verglichen mit Ivorys Verlust, aber trotzdem hätte ich es gern getan, so wie auch du es hättest tun sollen, Maxim.«

Er hielt seinen Blick unverwandt auf den Freund von einst gerichtet, und seine Stimme triefte förmlich vor Verachtung.

Maxim knurrte, und Speichel rann an seinem Kinn hinunter, als er drohend seinen Kopf hin und her wiegte. »Sprich nicht so herablassend mit mir. Mit deiner Treulosigkeit hast du schon vor langer Zeit bewiesen, auf wessen Seite du stehst.«

Zum ersten Mal erlaubte sich Manolito, einen Anflug von Ärger in seine Stimme einfließen zu lassen. »Wage es nicht, das Wort ›treulos‹ zu benutzen, wenn der Mörder deiner Schwester an deiner Seite steht! Du bist tiefer gesunken, als ich es für möglich gehalten hätte, als du zum Hündchen dieser niederträchtigen Bestie geworden bist. Kriech vor ihm, Maxim, wie die, die deine Anerkennung suchen. Leck ihm die Stiefel, wenn es sein muss. Aber ich will nichts mehr mit dir zu tun haben, solange dieser ...« Absichtlich hielt er inne und schwenkte seine Hand in Richtung Draven. »Solange dieses ... Stück Dreck dein Herr und Meister ist.«

»Ich bin von königlichem Blut!«, empörte sich Draven. »Du solltest vor mir auf den Knien rutschen.«

Manolito gönnte ihm nicht einmal einen Blick. Ohne die Augen von Maxims abzuwenden, beschwor er im Geist ein Bild von Ivory herauf. Für Manolito war sie so jung und unschuldig wie beim letzten Mal, als er sie gesehen hatte; die Erinnerung an sie war so sehr ein Teil von ihm, dass sie nie verblassen würde. Er schickte das Bild über den Pfad des Blutbandes, das ihn mit Maxim vereinte. Ivory mit ihrem Lachen und ihrer strahlend hellen Seele. Ivory, wie sie Maxim die Arme um den Hals warf und ihn auf die Wange küsste. Ivory, wie sie mit einem Schwert in der Hand und mit verbundenen Augen vor dem Haus der Malinovs stand, im Kreise ihrer Brüder und der Brüder De La Cruz. An jenem Tag brachten sie ihr bei zu kämpfen.

Hör auf damit!, schrie Maxim und presste seine Finger an seine Augenhöhlen.

Manolito projizierte die liebevollen Erinnerungen gnadenlos; genauso hatte Maxim ihn mit MaryAnns Folter gequält. Ivory als kleines Kind auf Maxims Schultern. Ihr erstes Mal in der Luft, sicher und beschützt im Kreise ihrer Brüder, Ruslan immer unter ihr und Maxim und Kirja an ihren Seiten, während Vadim und Sergey hinter ihr und vor ihr durch die Lüfte flogen. Ihr Lachen. Der Mond, der ihr strahlendes Gesicht beleuchtete, als sie die Treppe hinunterrannte, um sie zu begrüßen, wenn sie von einer Schlacht zurückkehrten.

Hör auf. Ich bitte dich. Hör auf bettelte Maxim, weil im Reich der Schatten und Nebel die Geister jede Emotion verspüren konnten. Hass. Verbitterung. Trauer. Reue. Es war ihnen bestimmt, all das zu spüren wie Peitschenhiebe, um ihnen vor Augen zu führen, welch zerstörerischen Weg sie im Land der Lebenden eingeschlagen hatten. Das war der Grund, warum auch Manolito solch starke Emotionen verspürte, obwohl er wusste, dass die Szene mit MaryAnns Folter nur Illusion gewesen war. Er sollte fühlen, was er in all diesen endlosen Jahrhunderten noch nie empfunden hatte.

Maxim hatte keine andere Wahl, als die Liebe zu seiner Schwester in ihrer ganzen Stärke zu spüren. Bei jeder Erinnerung durchfluteten ihn Emotionen. Schließlich bedeckte er sein Gesicht mit seinen Händen und fiel auf die Knie.

»Du stehst bei dem Mann, der all diese Dinge mit ihr getan hätte, die du meiner Gefährtin antun wolltest. Soll ich dir zeigen, was in Dravens Kopf vorging? Die Perversionen, die er Ivory zugemutet hätte?«

Manolito wäre nie dazu fähig gewesen, aber er wusste, dass Maxim die Bilder ganz allein heraufbeschwor. Er würde wissen, dass er Schulter an Schulter mit demjenigen stand, der ihnen letzten Endes Ivory genommen hatte, und er plante gewiss nichts Gutes für den, der den ultimativen Verrat an ihr begangen hatte.

»Nein. Ich kann nicht an sie denken.«

Es waren so viele Erinnerungen. Manolito konnte die Tränen in seinem eigenen Herzen spüren. Ivory. Er hatte sie geliebt wie eine Schwester. Sie hatte ihrer aller Leben aufgeheitert mit ihrer großzügigen Art und mitfühlenden Natur.

»Du hast getan, was du vorhattest, Manolito.«

Alle fuhren herum zu dem Paar, das lautlos hinter sie getreten war. Es waren Vlad und Sarantha, die sich liebevoll an den Händen hielten.

»Ihr solltet nicht hier sein«, sagte Manolito. Er warf einen Blick auf Draven, sah das boshafte Grinsen in seinem Gesicht und hätte am liebsten etwas zerschmissen. Vlad und seine Gefährtin hätten weitaus Besseres von ihrem Sohn verdient. »Das hier ist mein Problem, und ich werde einen Weg finden, es zu lösen.« Er wollte ihnen den Schmerz ersparen, das Monster zu sehen, das Draven gewesen war. Irgendwie wusste er, dass das Ivory lieber gewesen wäre als Vergeltung.

»Du hast ihre Pläne zerstört und Maxim dazu gebracht, seine Fehler einzusehen. Er wird seinen Brüdern nicht helfen«, sagte Vlad. »Deine Zeit hier ist vorbei, Manolito. Ich muss nur noch meine Pflicht tun, und dann wird die unsere auch vorbei sein.«

Manolito blickte auf seine Hände herab. Sie waren nicht mehr transparent. Er schloss die Finger zu einer Faust und öffnete die Hand wieder.

»Wir werden immer zu dir stehen«, sagte Manolito, wohl wissend, dass Vlad verstehen würde, dass damit alle De La Cruz gemeint waren.

»Du und deine Brüder waren stets sehr loyal zu unseren Leuten«, sagte Vlad. »Ich verlasse mich darauf, dass ihr den Jaguaren beistehen werdet, so gut ihr könnt, und dass ihr die gleiche Loyalität, auf die ich immer bei euch zählen konnte, auch meinen Söhnen entgegenbringt.«

Sarantha trat neben Manolito und berührte seine Narben. »Du hast Mikhail das Leben gerettet. Und du hast unseren Sohn Jacques gerettet, indem du dich vor Shea geworfen hast und dich von dem vergifteten Messer hast treffen lassen, das für sie bestimmt war. Damit hast du auch unseren ungeborenen Enkel gerettet. Ich danke dir, Manolito. Das ist bei Weitem nicht genug, aber alles, was ich hier zu geben habe.«

Vlad umfasste seine Unterarme. »Geh jetzt. Verlass diesen Ort. Du gehörst nicht mehr hierher. Lass mich erledigen, was ich schon vor Jahrhunderten hätte tun sollen. Lebe lange und gut, mein alter Freund.«

Manolito wandte sich ab, weil er spürte, wie er die Kommunikation mit MaryAnn suchte. Mit seinen Brüdern. Mit dem Leben. Aber trotzdem blieb er noch einen Moment, um Vlads und Saranthas Konfrontation mit ihrem Sohn zu sehen.

»Du hast hier viele Jahre Zeit gehabt, Draven«, sagte Vlad, »und wir haben dir immer beigestanden, doch das ist jetzt vorbei. Selbst hier, wo man dir die Chance gab, zu bereuen und Erlösung zu erlangen, hast du dich geweigert, dich zu bessern. Wir akzeptieren deine Entscheidung. Und deshalb wirst du jetzt von diesem Ort zum nächsten gehen.«

»Nein! Das könnt ihr nicht tun. Ich bin euer Sohn.« Zum ersten Mal verschwand das Grinsen aus Dravens Gesicht. Er warf sich seiner Mutter vor die Füße und schlang die Arme um ihre Beine. »Lass nicht zu, dass er mich verdammt! Er kann mich nicht wegschicken.«

»Wir verdammen dich, wie wir es schon vor so vielen Jahren hätten tun sollen, Draven«, erwiderte Sarantha fest. »Geh jetzt. Vielleicht wirst du an dem nächsten Ort mehr lernen, als wir dich lehren konnten.«

Draven schrie, als schwarzer Rauch aus seinem Körper strömte, sich um ihn legte und ihn schließlich vollkommen umwölkte. Schatten krochen über den Boden und huschten durch die Bäume. Schlingpflanzen mit langen, scharfen Dornen an ihren suchend ausgestreckten Fangarmen erhoben sich von der Erde. Die Vampire verfolgten das Schauspiel fasziniert, einige lächelnd, andere mit nervöser Miene, doch keiner rührte sich, als Draven versuchte wegzulaufen.

Die Schlingpflanzen richteten sich auf, zusammengerollt wie Schlangen, und dann schossen sie vor und wickelten sich um Dravens Knöchel. Ein harter Ruck, und er fiel in ein Nest aus gierigen Klauen, die aus dem Erdboden nach ihm griffen. In einem Moment war er noch da, verfangen in den dornigen Tentakeln, den Mund zu einem jetzt stummen Schrei geöffnet, und im nächsten Augenblick schon war er fort, verschluckt von einem schwarzen Loch.

Stille herrschte. Sarantha legte ihren Kopf an Vlads Schulter, und er zog sie an sich und drückte sie beschützend an seinen größeren und kräftigeren Körper. Manolito konnte den Ruf seiner eigenen Welt spüren, die ihn zu sich hinzog, und machte sich in aller Eile auf den Weg, um zu seiner Gefährtin zurückzugelangen, sie in seinen Armen zu halten und sie so zu behüten und zu beschützen, wie Vlad während all ihrer gemeinsamen Jahrhunderte Sarantha behütet und beschützt hatte. Als er zurückblickte, konnte er sie nur noch als ein helles Licht wahrnehmen, und dann verschwand auch das , und er befand sich wieder in seinem Körper.

MaryAnn zog verblüfft den Atem ein, doch dann schlang sie die Arme um ihn und drückte ihn an sich und küsste ihn. Über ihren Kopf hinweg lächelte Manolito seinen Bruder an. »Danke, Riordan«, sagte er schlicht, aber aus tiefster Überzeugung.