2. Kapitel
Eine klinische Depression war heimtückisch, das sich an einen Menschen heranschlich und ihn überfiel, bevor er es merkte und auf der Hut davor sein konnte. MaryAnn Delaney wischte sich Tränen vom Gesicht, als sie die Liste von Symptomen durchging. »Traurigkeit«. Kreuz das an. Vielleicht sogar gleich zweimal.
Traurigkeit war nicht das Wort, mit dem sie die furchtbare Leere in sich beschreiben würde, die sie nicht überwinden konnte, aber es stand in ihrem Buch, und deshalb würde sie es der wachsenden Liste ihrer Symptome hinzufügen. Sie war so gottverdammt traurig, dass sie nicht aufhören konnte zu weinen. Und »Appetitlosigkeit« konnte sie auch ankreuzen, da der bloße Gedanke an Essen ihr schon Übelkeit verursachte. Und sie hatte auch nicht mehr schlafen können, seit...
Sie schloss die Augen und stöhnte. Manolito De La Cruz war ein Fremder. Sie hatte kaum ein Wort mit ihm gewechselt, doch als sie seinen Tod – seine Ermordung – mit angesehen hatte, war sie innerlich zerbrochen. Sie schien sogar mehr um ihn zu trauern als seine eigene Familie. MaryAnn wusste, dass sie sehr betroffen waren, doch sie ließen sich überhaupt nur selten ein Gefühl anmerken, und sie sprachen auch so gut wie nie von ihm. Sie hatten seine sterblichen Überreste im selben privaten Jet zurückgebracht, mit dem sie später auch zu ihrer Ranch in Brasilien zurückgeflogen waren, aber sie hatten ihn nicht mitgenommen zu der Ranch.
Stattdessen war die Maschine – mit MaryAnn an Bord – auf einer privaten tropischen Insel irgendwo im Amazonasbecken gelandet. Und anstatt Manolito eine anständige Beerdigung zuteilwerden zu lassen, hatten seine Brüder seinen Leichnam an irgendeinen geheimen Ort im Regenwald gebracht. MaryAnn konnte sich nicht einmal hinausschleichen und sein Grab besuchen. Wie verzweifelt und absurd war das? Mitten in der Nacht das Grab eines Fremden besuchen zu wollen, weil sie seinen Tod nicht überwinden konnte ?
Wurde sie langsam auch noch paranoid, oder war sie zu Recht besorgt darüber, dass man sie zu einer Insel gebracht hatte, die nie jemand erwähnt hatte, als sie mit ihrer besten Freundin Destiny in den Karpaten gewesen war? Juliette und Riordan hatten sie gebeten zu kommen, um sich Juliettes jüngerer Schwester anzunehmen, die ein Opfer sexueller Gewalt geworden war, und sie hatten oft über die Ranch gesprochen, aber nie über ein Ferienhaus auf einer privaten Insel. Das Haus war von undurchdringlichem Regenwald umgeben. MaryAnn bezweifelte, dass sie ohne eine Landkarte und einen Führer auch nur zur Start-und-Lande-Bahn zurückfinden würde.
Sie war Psychologin, Herrgott noch mal, und trotzdem konnte sie nicht die nötige Disziplin aufbringen, um ihre wachsende Verzweiflung, ihre bösen Vorahnungen oder den schrecklichen, unerklärlichen Kummer über Manolitos Tod zu überwinden. Sie brauchte Hilfe. Als Psychologin wusste sie das, doch ihr Kummer wuchs und wuchs und setzte ihr gefährliche und beängstigende Gedanken in den Kopf. Sie wollte morgens nicht mehr aufstehen, und sie wollte auch weder das feudale Haus noch den üppigen Dschungel, der es umgab, erforschen. Sie wollte nicht einmal mehr in ein Flugzeug steigen und in ihr geliebtes Seattle zurückkehren. Sie wollte nur noch Manolito De La Cruz' Grab finden und zu ihm hineinkriechen.
Was in Herrgotts Namen war nur los mit ihr? Normalerweise war sie ein Mensch, der an die Philosophie des halb vollen Glases glaubte. Sie war optimistisch genug, um an buchstäblich jeder Situation noch etwas Humorvolles oder Schönes finden zu können, doch seit jener Nacht, in der sie mit Destiny an der karpatianischen Feier teilgenommen hatte, war sie so deprimiert, dass sie kaum noch funktionieren konnte.
Zu Anfang hatte sie es noch geschafft, das zu verbergen. Alle waren so beschäftigt gewesen mit ihren Vorbereitungen für die Heimreise, dass sie gar nicht bemerkt hatten, wie still sie gewesen war. Und wenn doch, hatten sie es vielleicht für Schüchternheit gehalten. MaryAnn hatte sich bereit erklärt, nach Brasilien mitzukommen, in der Hoffnung, Juliettes jüngerer Schwester helfen zu können, bevor sie erkannt hatte, in welch großen emotionalen Schwierigkeiten sie selbst steckte. Sie hätte etwas sagen sollen, doch sie hatte nach wie vor geglaubt, der Kummer würde nachlassen. MaryAnn war mit der Familie De La Cruz in deren privatem Jet gereist – mit Manolitos Sarg darin. Während des Fluges hatten die De La Cruz' geschlafen, wie sie es tagsüber immer taten, und sie hatte allein neben dem Sarg gesessen und geweint. Geweint, bis ihre Kehle wund gewesen war und ihre Augen gebrannt hatten. Es war ihr völlig unverständlich, aber sie schien einfach nicht damit aufhören zu können.
Ein Klopfen an der Tür schreckte sie aus ihren Gedanken auf und ließ ihr Herz gleich schneller schlagen. Sie hatte hier eine Aufgabe, und die Familie De La Cruz erwartete von ihr, dass sie sie auch erfüllte. Der Gedanke, jemand anderem helfen zu wollen, wo sie selbst nicht einmal die Energie aufbringen konnte aufzustehen, war beängstigend.
»MaryAnn?« Juliettes Stimme klang erstaunt und auch ein bisschen alarmiert. »Mach die Tür auf. Riordan ist bei mir, und wir müssen dringend mit dir reden.«
Oh nein. Sie wollte mit niemandem reden. Juliette hatte bestimmt ihre jüngere Schwester ausfindig gemacht, die sich aller Wahrscheinlichkeit nach irgendwo im Dschungel versteckt hatte. Karpatianer, Vampire und Jaguarmenschen – manchmal kam MaryAnn sich ein bisschen vor wie Dorothy im Zauberer von Oz.
»Ich bin noch ganz verschlafen«, log sie. Sie konnte gar nicht schlafen, selbst wenn ihr Leben davon abgehangen hätte. Sie konnte nur weinen. Und sich fürchten. Egal, wie sehr sie sich auch bemühte, ihre Ängste und bösen Ahnungen zu überwinden, sie ließen sich einfach nicht aus ihrem Kopf verbannen.
Juliette rüttelte an der Tür. »Es tut mir leid, dich stören zu müssen, MaryAnn, doch es ist etwas sehr Wichtiges. Wir müssen dringend mit dir reden.«
MaryAnn seufzte. Das war nun schon das zweite Mal, das Juliette das Wort »dringend« benutzte. Irgendetwas war passiert. Sie musste sich zusammenreißen, sich das Gesicht waschen, die Zähne putzen und ihr Haar einigermaßen in Ordnung bringen. Sie setzte sich auf und wischte schnell wieder die Tränen ab, die ihr über das Gesicht liefen. Riordan und Juliette waren beide Karpatianer und konnten ihre Gedanken lesen, wenn sie wollten, aber sie wusste, dass das als schlechtes Benehmen galt, wenn man unter dem Schutz der Karpatianer stand, und war sehr froh über ihre Diskretion.
»Nur einen Moment noch, Juliette. Ich hatte geschlafen.«
Sie würden merken, dass das eine Lüge war. Sie mochten zwar nicht ihre Gedanken lesen, aber sie konnten nicht umhin, die Wellen des Schmerzes zu spüren, die von ihr ausgingen und das ganze Haus erfüllten.
MaryAnn wankte zu dem Spiegel hinüber und starrte voller Entsetzen ihr Gesicht an. Es gab keine Möglichkeit, so schnell die Spuren ihrer Tränen zu verbergen. Und an ihrem Haar war schon gar nichts mehr zu retten. Es war lang, lang genug, wenn sie es glatt zog, um ihr bis zur Taille zu reichen, aber sie hatte nicht daran gedacht, es zu Zöpfen zu flechten, und die Feuchtigkeit hatte es zu einer unbezähmbaren Mähne aufgebauscht. Sie sah unmöglich aus mit diesem störrischen Haar und ihren vom Weinen geröteten Augen.
»MaryAnn!« Juliette rüttelte wieder an der Tür. »Tut mir leid, doch wir kommen jetzt rein. Es handelt sich wirklich um einen Notfall, sonst würden wir das nicht tun.«
MaryAnn atmete tief ein und setzte sich mit abgewandtem Gesicht auf den Rand des Bettes, als sie zur Tür hereinkamen. Es half MaryAnn nicht gerade, sich besser zu fühlen, dass Juliette eine wahre Schönheit war mit ihren Katzenaugen und dem perfekten Haar oder dass Riordan groß und breitschultrig wie seine Brüder und geradezu sündhaft gut aussehend war. MaryAnn war sehr verlegen, nicht nur ihrer Haare wegen, die so grässlich kraus und feucht geworden waren, sondern vor allem, weil sie diesen furchtbaren, für sie schon lebensbedrohlichen Kummer nicht beherrschen konnte. Sie war eine starke Frau, und trotzdem machte nichts mehr Sinn für sie, seit sie den Mord an Manolito mit angesehen hatte.
Juliette glitt durch den Raum auf das Bett zu, und wieder bewunderte MaryAnn die Kraft und Anmut ihres Körpers, die wie ihr konzentrierter, stets wachsamer Blick an ihre Jaguarherkunft erinnerten. »Du scheinst nicht ganz auf dem Damm zu sein, meine Liebe.«
MaryAnn bemühte sich um ein Lächeln. »Das liegt nur daran, dass ich schon so lange von zu Hause fort bin. Ich bin eher ein Stadtmädchen, und das hier ist alles noch so neu für mich.«
»Als wir in den Karpaten waren, hast du da meinen Bruder Manolito kennengelernt?« Riordan beobachtete sie mit kühlem, abschätzendem Blick.
MaryAnn konnte den Druck seiner unausgesprochenen Fragen in ihrem Kopf spüren. Er hatte ihr einen gedanklichen Anstoß gegeben. Ihr Verdacht war also begründet. Irgendetwas stimmte hier nicht. Sie fühlte, wie das Blut aus ihren Wangen wich. Sie hatte diesen Leuten vertraut, und jetzt saß sie hier in der Falle und war verwundbar wie noch nie zuvor. Die De La Cruz' verfügten über Fähigkeiten, die nur wenige Menschen nachvollziehen konnten. MaryAnns Mund war mit einem Mal wie ausgedörrt, und sie presste die Lippen zusammen und drückte eine Hand an ihre Brust, wo eine gewisse Stelle pochte und brannte, während sie beharrlich schwieg.
Juliette warf ihrem Lebensgefährten einen vernichtenden Blick zu. »Es ist wichtig, MaryAnn. Manolito ist in Schwierigkeiten, und wir brauchen schnellstens Informationen. Riordan liebt seinen Bruder und benutzte eine Abkürzung, um zu dir vorzudringen, die für unsere Spezies sehr nützlich, anderen gegenüber allerdings nicht sehr respektvoll ist. Das tut mir leid.«
MaryAnn sah blinzelnd zu ihr auf und spürte, wie ihr trotz ihrer Entschlossenheit wieder die Tränen kamen. »Er ist tot. Ich habe ihn sterben sehen. Und ich konnte spüren, wie sich das Gift in ihm ausbreitete, und auch den letzten Atemzug, den Manolito tat. Ich hörte einige der anderen Gäste sagen, dass nicht einmal mehr Gregori ihn von den Toten zurückholen könne. Und ihr habt seinen Leichnam im Flugzeug mit zurückgebracht.« Es auch nur laut auszusprechen, war schon schwierig. Sie brachte es nicht über sich, auch noch hinzuzufügen: ›In einem Sarg.‹ Nicht, wenn ihr Herz sich wie ein Stein in ihrer Brust anfühlte.
»Wir sind Karpatianer, MaryAnn, und nicht so leicht zu töten.«
»Ich sah ihn sterben. Ich fühlte, wie er starb.« Sie hatte geschrien. Tief in ihrem Innersten, wo es niemand hören konnte, hatte sie protestierend aufgeschrien und versucht, Manolito auf der Erde festzuhalten. Sie wusste nicht, warum ein Fremder ihr so wichtig war, nur dass er so edel, so durch und durch heroisch gewesen war, sich zwischen die tödliche Gefahr und eine schwangere Frau zu werfen. Und außerdem hatte sie ein Gerücht gehört, dass er schon einmal genau das Gleiche bei dem Prinzen der Karpatianer getan hatte. Selbstlos und ohne an seine eigene Sicherheit zu denken, hatte er sich auch für Mikhail Dubrinsky aufgeopfert. Und keinen der Karpatianer hatte das gekümmert. Sie waren zu der schwangeren Frau geeilt und hatten den gefallenen Krieger liegen lassen.
Juliette warf ihrem Lebensgefährten einen weiteren langen, vielsagenden Blick zu. »Du hast gespürt, wie Manolito starb?«
»Ja.« MaryAnns Hand glitt zu ihrer Kehle hinauf, denn für einen Moment fiel es ihr schwer zu atmen. »Ich habe seinen letzten Atemzug gespürt.« In ihrer eigenen Kehle und in ihren Lungen.
»Und dann hörte sein Herz zu schlagen auf.« Ihr eigenes Herz hatte im selben Moment gestockt, als könnte es ohne den Rhythmus des seinen nicht mehr weiterschlagen. Sie befeuchtete sich die Lippen. »Er starb, und alle waren viel mehr besorgt um die schwangere Frau. Sie schien allen so wichtig zu sein, aber Manolito starb. Ich verstehe euch nicht. Und auch diesen Ort verstehe ich nicht.«
Sie strich sich ihr störrisches Haar aus dem Gesicht und wiegte sich langsam hin und her. »Ich muss nach Hause. Ich weiß, dass ich versprochen hatte, mit deiner Schwester zu arbeiten, aber die Hitze hier macht mich ganz krank.«
»Ich glaube nicht, dass es die Hitze ist, MaryAnn«, wandte Juliette ein. »Ich halte es für viel wahrscheinlicher, dass dein Unwohlsein eine Reaktion auf das ist, was Manolito zugestoßen ist. Du bist deprimiert und trauerst um ihn, obwohl du ihn kaum kanntest.«
»Das ergibt doch keinen Sinn!«
Juliette seufzte. »Ich weiß, dass es so scheint, doch warst du je allein mit ihm?«
MaryAnn schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn ein paarmal in der Menge auf dem Fest gesehen.« Er hatte so gut ausgesehen, dass es unmöglich gewesen war, ihn nicht zu sehen. Sie hielt sich für eine sehr vernünftige Frau, aber der Mann hatte ihr schier den Atem geraubt. Sie hatte sich in Gedanken sogar scharf zurechtgewiesen, als sie gemerkt hatte, dass sie ihn wie ein verliebter Teenager anstarrte. Sie wusste, dass Karpatianer nur einen Partner hatten. Er hätte sie vielleicht als Nahrungsquelle benutzt, doch auf mehr bestand keine Hoffnung.
Außerdem könnte sie ohnehin nicht mit einem Mann wie Manolito De La Cruz leben. Er war herrisch und arrogant, ein uralter Karpatianer, den Jahrhunderte des Lebens in Südamerika auf schlimmstmögliche Weise geprägt und, was seine Verhaltensweise anging, in eine Art Neandertaler verwandelt hatten. Sie dagegen war eine sehr emanzipierte Frau aus dem gehobenen Mittelstand der Vereinigten Staaten und hatte zu viele misshandelte Frauen gesehen, um auch nur daran zu denken, sich mit jemandem einzulassen, der eine so autoritäre Einstellung Frauen gegenüber hatte. Doch obwohl sie all das wusste und sich im Klaren darüber war, dass Manolito De La Cruz der letzte Mann auf Erden war, mit dem sie eine Beziehung haben könnte, hatte sie trotzdem immer wieder zu ihm hinsehen müssen.
»Du warst nie allein mit ihm? Nicht einmal für kurze Zeit?«, beharrte Juliette und sah ihr diesmal prüfend in die Augen.
MaryAnn konnte winzige rote Flammen in den Tiefen ihrer tür-kisfarbenen Augen sehen. Katzenaugen. Eine Jägerin im Körper einer schönen Frau. Hinter Juliette stand ihr Gefährte, dessen Eleganz und Kultiviertheit das Raubtier in ihm nicht verbergen konnten.
MaryAnn verspürte wieder einen geistigen Befehl, nicht von Juliette, sondern von Riordan, der wieder einmal ihre Barrieren zu durchdringen versuchte, um an ihre Erinnerungen heranzukommen. »Hör auf damit!«, sagte sie, ihre Stimme scharf von jäher Wut. »Ich will nach Hause.« Sie traute keinem von diesen Leuten.
Sie blickte sich in dem verschwenderischen Luxus ihres Zimmers um und wusste, dass sie in einem goldenen Käfig saß. Die panische Angst, die in ihr aufstieg, machte ihr beinahe jedes Denken unmöglich. »Ich kann nicht atmen«, sagte sie und drängte sich an Juliette vorbei in Richtung Badezimmer. Sie konnte die Killer in ihnen sehen, die Ungeheuer, die hinter ihrer glatten, zivilisierten Fassade lauerten. Sie hatten geschworen, sie zu beschützen, aber sie hatten sie hierhergebracht, an diesen heißen, gefängnisähnlichen Ort, der weit entfernt von jeder Hilfe war, und nun begannen sie, sich an sie heranzupirschen. Sie brauchte Hilfe, und alle, die sie darum hätte bitten können, waren viel zu weit entfernt.
Juliette hob ihre Hand, und ein ärgerlicher Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht. Wir machen ihr Angst, Riordan. Hör auf, sie zu bedrängen. Hör auf ihr Herz. Sie ist sehr verängstigt, viel mehr, als normal wäre. Könnte es nicht sein, dass sich das, was Manolito befallen hat, auch auf sie auswirkt?
Riordan schwieg einen Moment. MaryAnn war ihm immer wie eine starke, mutige Frau erschienen. Und obwohl er sie nicht besonders gut kannte, schien sie sich tatsächlich anders zu verhalten als gewöhnlich. Wenn sie seine Gefährtin ist, wäre das möglich, Juliette. Aber wie könnte sie das sein? Warum hat er nicht seinen Anspruch auf sie geltend gemacht und sie unter den Schutz seiner Familie gestellt? Das ergibt doch alles keinen Sinn, Juliette. Er hätte noch nicht erwachen dürfen. Gregori hat ihn auf der Erde festgehalten, und als wir ihn hierherbrachten, haben wir ihn zu dem heilenden Erdreich im Regenwald gebracht, und Zacarias hat dafür gesorgt, dass er unter der Erde blieb. Ich kenne keine Mächtigeren als die beiden. Wie ist es also möglich, dass Manolito vor der Zeit erwacht ist ?
Könnte die Verbindung zwischen Gefährten des Lebens stärker sein als ein Befehl des Heilers oder von dem Oberhaupt unserer Familie ?
Riordan rieb sich das Kinn. Die Wahrheit war, dass er keine Ahnung hatte, ob das möglich war.
Auf jeden Fall hat sie eine Höllenangst, und wir müssen etwas unternehmen. Juliette tat einen tiefen, beruhigenden Atemzug. »MaryAnn, ich kann sehen, dass du vollkommen durcheinander bist. Ich werde Riordan bitten, das Zimmer zu verlassen, und dann kannst du mir erzählen, was dich so belastet.«
Ohne sie zu beachten, rannte MaryAnn die letzten Stufen zu dem großen Radezimmer hinauf, schlug die Tür hinter sich zu und schloss sie ab. Dann trat sie vor das Waschbecken und drehte das Wasser auf, in der Hoffnung, dass das Geräusch Juliette davon abhalten würde, ihr zu folgen. Ihr Gesicht mit kaltem Wasser zu befeuchten, half ihr, ein wenig Klarheit zu erlangen, obwohl sie vor Angst zitterte, wenn sie daran dachte, was sie vor sich hatte. Es würde nicht leicht werden, den Karpatianern zu entkommen. Sie war völlig wehrlos gegen sie, aber Gregori, der Heiler der Karpati-aner und Beschützer des Prinzen, war derjenige gewesen, der sie unter seinen Schutz gestellt und ihr ein paar Schutzvorkehrungen gezeigt hatte. Sie musste sie einfach nur treffen und nicht in Panik geraten, bis sie den Weg zu der Start-und-Lande-Bahn gefunden hatte.
Sie hatte schon immer einen sechsten Sinn für Gefahr gehabt, doch das hier hatte sie nicht kommen sehen. Jetzt wuchs und wuchs die Angst in ihr und begann, sich in nacktes Entsetzen zu verwandeln. Sie konnte diesen Leuten nicht vertrauen. Sie waren ganz und gar nicht das, was sie zu sein schienen. Alles war vollkommen verkehrt. Das riesige Anwesen mit all seiner Schönheit war nur dazu gedacht, Unvorsichtige in den Machtbereich dieser Ungeheuer zu locken. Sie hätte sie alle gleich durchschauen müssen. Gregori hätte sie durchschauen müssen. Oder war das Ganze eine riesige Verschwörung, in die alle involviert waren?
Nein, das konnte sie von ihrer besten Freundin Destiny oder deren Gefährten Nicolae nicht glauben. Sie mussten gewarnt werden. Womöglich waren sie schon in Schwierigkeiten, oder vielleicht war es auch nur die Familie De La Cruz, die sich mit den Vampiren verbündet hatte. Spione im Lager der Karpatianer. Sie waren ihr die ganze Zeit schon irgendwie anders vorgekommen. Nein, sie hätte ihnen nicht vertrauen sollen!
MaryAnn starrte sich im Spiegel an, ihre vom Weinen geröteten und verquollenen Augen, ihr vom Kummer gezeichnetes Gesicht. Die Stelle über ihrer Brust, die nie ganz verheilt war, pochte und brannte. Sie war sicher gewesen, dass es nur eine allergische Reaktion auf irgendeinen Insektenstich gewesen war. Sie hatte diese kleine Wunde, seit sie in den Karpaten gewesen war, doch nun befürchtete sie, dass erheblich mehr dahintersteckte als ein entzündeter Insektenstich. Vielleicht hatten Juliette, Riordan oder Rafael De La Cruz sie in irgendeiner Form gezeichnet?
Sie hatte unbedingt nach Hause zurückkehren wollen, weg von der gewalttätigen Welt der Karpatianer, aber Juliette war mit einer Geschichte über ihre jüngere Schwester zu ihr gekommen, die MaryAnn nicht einfach so beiseite hatte schieben können, obwohl ihr Kummer und ihre Verzweiflung grenzenlos und überwältigend gewesen waren. Gab es Jasmine, Juliettes Schwester, überhaupt? MaryAnn bezweifelte es allmählich. Sie hätten sich jetzt auf einer riesigen Ranch in Brasilien befinden müssen, auf der sie tagsüber von vielen Menschen umgeben waren, aber Rafael und Colby, Juliettes Schwager und dessen Gefährtin, sowie Colbys Bruder und Schwester waren auf einem privaten Flugplatz ausgestiegen und MaryAnn mit Riordan und Juliette zu einer Insel weitergeflogen.
Sie saß in der Falle. MaryAnn holte tief Luft und ließ sie langsam wieder aus. Doch sie würde nicht hier sterben. Sie war eine Kämpferin, und irgendwie würde es ihr gelingen, Destiny und Nicolae zu informieren, dass dieser Zweig der Familie Verräter waren. Furcht kroch wie eine kalte Hand über ihren Rücken, als ihr bewusst wurde, was sie zu tun hatte. In den Dschungel fliehen, den Weg zur Startbahn finden und den Piloten irgendwie dazu überreden, sie zu einem regulären Flughafen zu bringen, von wo aus sie nach Hause fliegen konnte. Schnell blickte sie sich in dem großen Badezimmer um und überlegte, was sie mitnehmen konnte.
Nichts. Da war nichts. Sie würde improvisieren müssen. Mary-Ann trat ans Fenster und sah hinaus. Die Anlage war ziemlich verwildert, da der Regenwald auf das Haus zukroch wie ein heimtückischer Invasor und seine Ranken und sein Buschwerk sich bis in den Garten hinein erstreckten. Es würde nur ein kurzer Sprint bis in den Dschungel sein. Sie legte die Hände um den Fensterrahmen und versuchte, ihn anzuheben.
MaryAnn.
Sie schrie vor Schreck auf und presste eine Hand auf ihr wild pochendes Herz, als sie herumfuhr. Dampf strömte unter der Tür hindurch und durch das kleine Schlüsselloch herein. Dann materialisierten sich Juliette und Riordan, er am Fenster, sie neben der Tür.
»Was glaubst du, wo du hingehst?«, fuhr Riordan sie mit zornig funkelnden Augen an. »Du würdest innerhalb von fünf Minuten nach Betreten des Waldes getötet werden! Wir sind für deine Sicherheit verantwortlich.«
Seine Stimme klang merkwürdig langsam in ihren Ohren, wie ein tiefes Knurren, das sie an Dämonen erinnerte, die sie in Filmen gesehen hatte, wenn der Ton zu langsam abgespielt wurde. Furcht ergriff sie, Wut stieg in ihr auf, und absolute Konfusion beherrschte sie. Die Psychologin in ihr versuchte verzweifelt, einen Sinn in all den auf sie einstürmenden Emotionen zu erkennen.
»MaryAnn«, sagte Juliette freundlich. »Ich weiß, dass du verwirrt bist von all dem, was du fühlst, aber wir glauben, eine Erklärung dafür zu haben. Wir vermuten, dass Manolito dich auf die bei unseren Leuten übliche Weise an ihn gebunden hat. Riordan hat versucht, ihn über ihren gedanklichen Kontaktweg zu erreichen, doch Manolito verwehrt ihm den Zugang, weil er genau wie du befürchtet, dass er ein Vampir sein könnte. Er behauptet, eine Gefährtin zu haben, und hier bist du, verzweifelt und ganz aufgelöst vor Trauer über einen Mann, den du, wie du sagst, nicht einmal richtig kennengelernt hast. Ergibt das irgendeinen Sinn für dich? Irgendetwas geht hier vor, und dir und uns zuliebe müssen wir herausfinden, was es ist.«
Riordan rieb sich die Schläfen, als schmerzten sie. Seine dunklen Augen waren voller Sorge. »Ich fürchte um die Sicherheit und um das Leben meines Bruders. Er scheint verwirrt zu sein, und da draußen im Dschungel darf man nicht verwirrt sein. Wir haben mächtige Feinde. Er befindet sich in großer Gefahr, und er vertraut niemand anderem als seiner Gefährtin. Falls du also diese Frau sein solltest, bist du die Einzige, die ihn retten kann.«
Er starrte sie mit den unbewegten Augen eines wilden Tieres an, wachsam, listig und zutiefst beängstigend. MaryAnn erschauderte und wich vor ihm zurück, bis sie mit dem Rücken an der Fensterbank stand. Ein Teil von ihr dachte, sie wären verrückt geworden und versuchten ganz bewusst, sie noch mehr zu verunsichern, doch die Psychologin in ihr war wie immer auf der Suche nach Informationen und bemühte sich, sich auf all das einen Reim zu machen. Von Destiny hatte sie genug über Gefährtinnen des Lebens erfahren. Und auch sie war schon eine ganze Weile bei den Karpatianern, und selbst wenn sie die Verbindung von Gefährten des Lebens nicht verstand, so wusste sie doch, dass sie stark und unzerbrechlich war.
Juliette streckte ihr die Hand hin. »Komm wieder mit in das andere Zimmer und lass uns versuchen, Klarheit zu gewinnen. Du erinnerst dich also nicht, mit Manolito allein gewesen zu sein?«
So etwas würde sie doch nicht vergessen, oder? Sie hatte geträumt, dass er zu ihr gekommen war. Ein Tagtraum, den sie einmal gehabt hatte – aber eben nur ein Traum. Manolito hatte sie in seine starken Arme genommen, und sein Mund war über ihre Haut zu der kleinen Schwellung über ihrer Brust hinabgeglitten. Die Stelle pochte und brannte. Ohne sich dessen bewusst zu sein, legte sie ihre Hand über den pulsierenden roten Fleck, der nicht richtig verheilen wollte, und nahm seine Wärme in sich auf.
»Das war nicht real«, erwiderte sie kopfschüttelnd. »Er war auf der anderen Seite des Raumes in dem Gasthof in den Karpaten, doch ich habe nie mit ihm gesprochen.« Er hatte sie angesehen. Sie hatte damit gerechnet, dass seine Augen flach, kalt und leer sein würden wie die so vieler anderer karpatianischer Jäger, aber er hatte ... gefährlich ausgesehen, als wäre er vielleicht schon auf der Jagd nach ihr. Doch statt verängstigt zu sein wie jetzt, war sie insgeheim sogar entzückt gewesen, da es ja schließlich nur eine Fantasie gewesen war.
MaryAnn folgte Juliette aus dem Zimmer und spürte Riordans Anwesenheit hinter sich wie die einer großen Dschungelkatze. Er bewegte sich mit der gleichen Lautlosigkeit wie sein Bruder. Sie brauchte frische Luft; das Zimmer kam ihr erdrückend heiß vor, fast so wie der schwüle Regenwald dort draußen. Auch das war äußerst eigenartig, denn das Haus war gut isoliert und mit einer Klimaanlage ausgestattet.
»Ich wüsste nicht, wie ich seine Gefährtin sein könnte. Wir haben uns nicht einmal persönlich kennengelernt. Würde ich das nicht wissen? Oder er?«
»Er würde es wissen«, sagte Riordan. »Er würde sich zu seiner Gefährtin hingezogen fühlen, und wenn du das wärst und mit ihm gesprochen hättest, würde er Farben sehen und hätte seine Empfindungsfähigkeit wiedererlangt. Und er hätte sich auch nicht sehr weit von dir entfernen können.« Er runzelte die Stirn. »Aber wenn es so wäre, hätte er es uns gesagt. Du wärst unverzüglich unter den Schutz unserer Familie gestellt worden.«
»Sie stand bereits unter Gregoris, Nicolaes und Destinys Schutz«, erinnerte ihn Juliette. »Vielleicht hielt Manolito es da nicht für nötig.«
Er hätte es sogar für dringend erforderlich gehalten ... es sei denn ... Riordan unterbrach seinen Gedanken und sah MaryAnn prüfend ins Gesicht. »Du sagtest, es sei ›nicht real‹ gewesen. Wie meinst du das?«
MaryAnn errötete unter ihrer perfekt gebräunten Haut. »Ich habe von ihm geträumt.«
Juliette atmete tief ein. »Oh, Riordan! Was ist hier los? Irgendetwas Schreckliches geht vor, denn sonst wäre er längst hier.«
Riordan war sofort an ihrer Seite, so schnell, dass MaryAnn seine Bewegungen nur verschwommen wahrnahm, und legte einen Arm um Juliettes Taille, während er sie auf die Schläfe küsste. »Mary-Ann ist hier. Zu dritt können wir das Rätsel lösen und ihn finden.«
Die Tatsache, dass Riordan sie mit einschloss, als könnte sie mithelfen, eine Lösung zu finden, linderte MaryAnns innere Anspannung aus irgendeinem Grund ein wenig. Sie blinzelte ein paarmal und atmete tief ein, um zu versuchen, über das seltsame Bild hinwegzusehen, das Juliette und Riordan überlagerte: das Bild zweier Vampire. Und tatsächlich gingen ihre Eckzähne zurück, und plötzlich hatten sie wieder ganz normale, blendend weiße Zähne.
»Ist Manolito wirklich noch am Leben?«, fragte sie, weil sie es kaum zu glauben wagte.
Riordan nickte. »Wir alle haben versucht, ihn bei uns zu behalten, aber er war tot, nach unseren wie auch nach menschlichen Maßstäben, und seine Seele verließ schon seinen Körper. Niemand glaubte, dass wir ihn noch zurückholen konnten, nicht einmal mit-hilfe unseres Heilers und der regenerierenden Erde und allen, die mit aller Kraft daran arbeiteten, ihn auf dieser Welt zu halten, als er plötzlich wieder bei uns war. Falls du seine Gefährtin bist, könntest du die Erklärung dafür sein. Vielleicht hast du ein Stück seiner Seele behütet, ohne dir dessen bewusst zu sein.«
MaryAnn öffnete schon den Mund, um zu protestieren, und schloss ihn dann wieder. Sie wusste, dass die Karpatianer keine Menschen waren. Für ihre Spezies galten nicht die gleichen Regeln. Sie hatte Dinge gesehen, die sie vor ein paar Wochen noch für unmöglich gehalten hätte. »Aber müsste ich es nicht wissen, wenn ich seine Gefährtin wäre?«
»Nur unsere Männer kennen die rituellen Worte zur Gründung einer solchen Verbindung«, erklärte Juliette. »Als Vorsichtsmaßnahme, um den Fortbestand unserer Spezies zu sichern.«
»Du meinst, damit die Frau ihn nicht zurückweisen kann.«
»Das ist das Gleiche«, sagte Riordan. »Und ich bezweifle, dass er dich mit den rituellen Worten an sich gebunden hat. Viel wahrscheinlicher ist, dass er dich durch einen Austausch von Blut an sich gebunden hat.«
Für einen Moment schlug MaryAnns Herz schneller, aber dann beruhigte es sich wieder. Sie hatte zwar Nicolae erlaubt, etwas von ihrem Blut zu nehmen, um Destiny besser zu beschützen, doch sie wäre nie, nie im Leben auf die Idee gekommen, Blut mit diesen ... Leuten auszutauschen. Deshalb schüttelte sie den Kopf. »Das kann nicht sein. Erstens war es nur ein Traum, und zweitens hätte ich das nie zugelassen. Ich habe immer noch Mühe, euch und eure Welt zu verstehen und daran zu glauben. Ich hätte niemals freiwillig sein Blut genommen.«
Juliette und Riordan wechselten einen langen Blick. »Du hast gesagt, ›es war nicht real‹. Wie war dieser Traum, von dem du gesprochen hast?«, fragte Riordan.
MaryAnn presste die Hand auf ihre Brust. Sie konnte immer noch Manolitos Mund auf ihrer Haut spüren. Sie war draußen gewesen, und es hatte geschneit. Später, als sie ins Haus zurückgegangen und allein gewesen war ... da war ihr kalt gewesen, und Manolito hatte ihre Kleider beiseitegeschoben, um sie mit seinen Lippen aufzuwärmen. Sie waren warm und weich gewesen und unbeschreiblich sinnlich, diese Lippen. MaryAnn hatte nicht einmal daran gedacht, ihn wegzustoßen, sondern nur seinen Kopf gehalten, während er trank, und dann ...
MaryAnn sog scharf den Atem ein, schlug die Hände vors Gesicht und schüttelte den Kopf. »Es war nicht real. Ich hätte so etwas nie getan. Es war nur ein Traum.«
»Hat er dich gezeichnet?«, wollte Juliette mit sanfter Stimme wissen.
»Nein. Das ist es nicht. Es ist kein Zeichen. Ich würde doch kein Blut mit ihm austauschen! Oder ihn glauben machen, ich sei etwas, was ich nicht bin. Und ich verspreche auch nichts, was ich nicht halten würde.« Deshalb war sie hier, obwohl sie eigentlich ... woanders sein müsste. Egal wo, nur nicht hier.
»Du hast nichts Falsches getan, MaryAnn. Lass mich das Zeichen sehen.«
MaryAnn schluckte, als ihre Hände widerstrebend zu ihrer Bluse glitten. Sie wollte Juliette den roten Fleck nicht zeigen. Er war etwas ganz Persönliches. Im Moment pulsierte er vor Hitze. Aber sie befeuchtete ihre Lippen, nahm ihren ganzen Mut zusammen und schob den Stoff hinunter, um Juliette den roten Fleck zu zeigen, der ähnlich wie ein Knutschfleck aussah, jedoch größer und wund war... und zwei verräterische, an den Rändern gerötete Einstiche aufwies.
Bei deren Anblick bekam sie ein ganz mulmiges Gefühl im Magen. »Er hat mich gebissen, nicht? Es war also doch kein Traum.« Und wenn er es getan hatte, wieso fühlte sie sich dann mehr erregt als hintergangen?
»Du bist es, was meinen Bruder am Leben erhält«, sagte Riordan, die schwarzen Augen auf den Fleck gerichtet. »Als seine Gefährtin des Lebens stehst du unter dem Schutz meiner Familie; du bist eine Schwester, die wir lieben und umsorgen werden. Du hast getan, was kein anderer vermocht hätte.«
»Lass uns keine voreiligen Schlüsse ziehen«, protestierte MaryAnn. »Ich habe ja nicht mal mit dem Mann gesprochen.«
»Du bist seine Gefährtin. Dieses Zeichen besagt es«, wiederholte Riordan.
Sie schüttelte den Kopf. »Es könnte bedeuten, dass er mein Blut genommen hat und ich allergisch auf das Gerinnungsmittel in seinem Speichel reagiere. Und es könnte auch ein Insektenstich sein.« Sie hätte stöhnen können über diese verzweifelten, absurden Vorschläge, doch all das hier konnte nicht wirklich geschehen. Es war einfach völlig irreal!
»Natürlich ist es beängstigend«, sagte Juliette. »Es kommt für uns alle unerwartet, aber zumindest weißt du jetzt, warum du so aufgewühlt und deprimiert warst. Gefährten des Lebens können nicht voneinander getrennt sein, ohne geistig miteinander in Verbindung zu bleiben. Versuch, ihn zu erreichen, MaryAnn.«
»Ich bin niemandes Gefährtin, Juliette«, sagte MaryAnn. »Ich mag Männer nicht einmal besonders. Die ich bei meiner Arbeit täglich sehe und höre, sind nicht gerade nett. Ich tauge nicht zur Gefährtin – und versteht mich bitte nicht falsch, aber schon gar nicht zu der eines der De-La-Cruz-Brüder. Sie sind mir viel zu schwierig.«
Riordan schenkte ihr ein kurzes Lächeln. »Das machen wir in anderen Dingen wieder wett.«
MaryAnn konnte sich nicht dazu überwinden, sein Lächeln zu erwidern. Das Ganze war absurd, aber sie begann langsam, es tatsächlich zu glauben. »Um die gleichen Empfindungen zu haben, müsste da nicht die Verbindung zwischen uns sehr stark sein? Dein Bruder hat nicht einmal mit mir gesprochen. Wenn ich seine Gefährtin wäre, würde er sich dann nicht zumindest vorstellen?«
»Nicht, wenn er denkt, du würdest ihn zurückweisen«, erklärte Riordan, ohne Juliettes warnenden Blick zu beachten. »Vielleicht verbirgt er seine Absichten.«
MaryAnn runzelte die Stirn. »Selbstverständlich hätte ich ihn abgewiesen. Ich habe in Seattle ein Leben, das mir sehr, sehr wichtig ist. Das hier ist nicht meine Welt, und ich würde auch nicht mit einem so autoritären Mann zusammen sein wollen, wie dein Bruder es offensichtlich ist. Natürlich hätte ich Nein gesagt.«
»Was erklären dürfte, warum er nichts gesagt hat. Manolito hätte deine Weigerung nicht akzeptiert, aber du stehst unter dem Schutz des Prinzen und seines Stellvertreters. Außerdem bist du Destinys beste Freundin. Nicht nur Mikhail und Gregori würden Partei für dich ergreifen, sondern auch Destinys Gefährte Nicolae und sein Bruder Vikirnoff und dessen Gefährtin Natalya. Nein, Manolito würde sich in Geduld fassen, in der Nähe bleiben und den Moment abwarten, bis du nicht mehr im Kreis deiner Beschützer bist.«
MaryAnn rieb sich die pochenden Schläfen. »Mir ist schwindlig und übel. Und da ist so ein Brennen in mir. Ist er das? Oder bin ich es selbst?«
»Ich glaube, er ist es, der sich krank fühlt. Manolito spürt immer noch die Wunde und die Nachwirkungen des Giftes. Er braucht dringend Hilfe. Ich habe seinen Geist berührt, aber er ist so verwirrt, dass er nicht weiß, wo er ist oder was real ist oder nicht. Er glaubt nicht, dass ich sein Bruder bin, weil ich nichts von seiner Gefährtin wusste. Also erinnert er sich nicht an das, was er getan hat oder wie er euch beide ohne deine Zustimmung aneinander gebunden hat. Wahrscheinlich fragt er sich, was aus dir geworden ist und warum du nicht gekommen bist, um ihm zu helfen.«
MaryAnn ließ sich auf das Bett sinken und atmete tief durch. Sie war eine nüchterne, praktisch veranlagte Frau; oder zumindest wollte sie das glauben. Dies alles hier war ein unglaubliches Chaos, doch falls tatsächlich alles stimmte, war Manolito De La Cruz noch am Leben und in Schwierigkeiten. Er brauchte sie. Gefährtin des Lebens oder nicht, sie konnte ihn genauso wenig allein und verletzt dort draußen im Dschungel lassen, wie sie Juliettes Schwester im Stich lassen könnte. »Na schön, dann sagt mir, was ich tun soll.«
»Versuch, ihn auf telepathischem Wege zu erreichen.«
Sie hatte keine Ahnung, was sie erwartet hatte, doch das ganz sicher nicht. Action, ja. Sanfte Worte. Einen Jeep, der sie zu ihm bringen würde ... »Telepathisch?«, sagte sie. »Seid ihr verrückt? Ich habe keine solchen Fähigkeiten. Absolut nicht. Und Gedanken lesen kann ich auch nicht. Also werdet ihr ihn wohl erreichen müssen, und dann versuche ich, mit ihm zu reden.«
Juliette schüttelte den Kopf. »Man kann nicht die Gefährtin eines Karpatianers sein, ohne übersinnliche Fähigkeiten zu haben, MaryAnn. Gregori und auch Destiny haben dein Potenzial sofort erkannt. Bei dem Blutaustausch wird Manolito eine private Kommunikationsmöglichkeit für euch eingerichtet haben.«
»Halt! Noch mal zurück. Wie meint ihr das mit meinem angeblichen ›Potenzial‹?« Plötzlich war MaryAnn so wütend, dass sie am ganzen Körper zitterte und den bitteren Geschmack des Verrats auf ihrer Zunge spürte. »Wollt ihr mir etwa erzählen, Destiny hätte mich dazu überredet, in die Karpaten mitzukommen, weil sie oder Gregori dachten, ich könnte möglicherweise die Gefährtin eines eurer Männer sein?«
Juliette sandte Riordan eine stumme Bitte um Hilfe zu. Sie hatte das Gefühl, als ginge sie über ein Minenfeld und stolperte zu oft.
Er zuckte seine breiten Schultern. Ich bezweifle, dass Destiny etwas davon wusste, aber Gregori hat etwas von MaryAnns Blut zu sich genommen. Er muss es also gewusst haben. Wir können uns nicht erlauben, noch mehr unserer Männer zu verlieren. Du weißt, wie verzweifelt unsere Lage ist. Natürlich hat Gregori sie zu der Versammlung mitgenommen, weil er hoffte, dass sie für einen von uns die Rettung sein könnte.
Juliette unterdrückte das Bedürfnis, sich über Riordans unbekümmertes Eingeständnis aufzuregen.
Sie wird ihn mit der Zeit schon lieben lernen, wenn es ihre Bestimmung ist, bei ihm zu sein. So ist nun einmal unsere Lebensweise. Du hast dich ja auch dagegen gesträubt, mit mir zusammen zu sein, Juliette. Ich erinnere mich noch gut, wie du dich in deinem Jaguarkörper versteckt und versucht hast, deinem Schicksal zu entkommen. Heute bist du glücklich und zufrieden mit mir, so wie sie es mit Manolito sein wird. Die Zeit verändert vieles.
Trotzdem ist es unfair, dass ein Mann das Schicksal einer Frau bestimmen kann.
Für den Mann ist es genauso unfair. Er hat auch keine andere Wahl, erinnerte Riordan sie. Und viel mehr zu verlieren.
»Ich fühle mich so hintergangen«, sagte MaryAnn. »Ich war der Meinung, Destiny kenne und verstünde mich. Man tut so etwas nicht mit Freunden.« Schmerz überschattete ihre Stimme, aber daran konnte sie nichts ändern. Sie hatte Destiny vertraut, ihr geholfen, ihre Vergangenheit zu bewältigen, damit sie sich ein neues Leben mit ihrem Gefährten aufbauen konnte. MaryAnn hatte sogar den Trubel und die Kultiviertheit ihrer geliebten Heimat Seattle verlassen und sich in die entlegenen, unzivilisierten Wälder der Karpaten begeben, nur um dafür zu sorgen, dass Destiny ihr Glück fand.
Juliette schüttelte den Kopf. »Destiny ist noch neu in der karpa-tianischen Gesellschaft. Ich bezweifle, dass sie davon gewusst hat oder zugelassen hätte, dass man dich in eine solche Situation bringt. Gregori hat wahrscheinlich gedacht, sein Schutz würde verhindern, dass man dich gegen deinen Willen belästigt. Die meisten Männer glauben, dass eine Frau sich so oder so in ihren Gefährten verlieben wird. Karpatianische Gefährten fühlen sich stark zueinander hingezogen, und die körperliche Anziehung ist enorm.«
»Hat es je einen Mann oder eine Frau gegeben, die sich nicht in ihren Gefährten oder ihre Gefährtin verliebt haben?« Denn wenn Manolito ihr gehörte, konnte sie sich durchaus vorstellen, mit ihm zu schlafen, aber mit ihm zu leben war eine völlig andere Sache.
»Wie bei jeder Spezies gibt es auch bei uns einige, die unter einem schlechten Stern geboren wurden. Niemand weiß, warum oder wie es dazu kommt, doch es hat auch Widernatürlichkeiten gegeben«, gab Riordan zu. »Manolito allerdings ist seiner Gefährtin äußerst zugetan. Er würde sie nie mit einer anderen Frau entehren. Wir haben länger auf unsere Frauen gewartet, als du je begreifen könntest, MaryAnn, und auch wenn du uns für autoritär und arrogant halten magst, lieben und verehren wir unsere Frauen und stellen sie über alles andere.«
Seine aufrichtig klingenden Worte sorgten dafür, dass sie sich ein bisschen besser fühlte. Und Juliette war keine Frau, die sich herumschubsen ließ. Es war nur so, dass MaryAnn all dieses Macho-gehabe ein bisschen lästig fand. Die Brüder De La Cruz würden verlangen, dass eine Frau sich ihnen in allem beugte. Sie konnte sie sich nicht als kompromissbereit vorstellen. Schon der Tonfall ihrer Stimmen irritierte sie. MaryAnn sah sich nicht als Frau eines solchen Mannes. Sie mochten zwar sehr gut aussehend sein, aber wahrscheinlich würde sie ein Magengeschwür bekommen, wenn sie mit einem von ihnen zusammen wäre.
»Das ist bewundernswert, Riordan, sehr sogar.« Sie konnte auch ganz ehrlich sein. »Doch ich bin nicht sicher, dass du recht hast, wenn du glaubst, ich sei die Richtige für deinen Bruder. Und wenn er mich gezeichnet hat«, sie kämpfte mit sich, um nicht zu erröten, als sie sich an die Hitze seines Mundes und ihre eigene körperliche Reaktion darauf erinnerte, »dann hat er es ohne meine Zustimmung getan. Ich weiß nicht, wieso ihr in eurer Gesellschaft glaubt, das sei in Ordnung. In meiner Welt ist es nicht nur falsch, sondern sogar illegal.«
»Du lebst aber nicht mehr in deiner Welt«, versetzte er ohne eine Spur von Reue. »Unsere Regeln sind Überlebensregeln. Wir haben nur noch eine Chance zu überleben, nachdem wir jahrhundertelang so ehrenhaft wie möglich gelebt haben. Und diese Chance liegt darin, unsere Gefährtinnen zu finden. Ohne unsere Frauen kann unsere Spezies nicht fortbestehen, und unsere Männer müssen sich entweder das Leben nehmen oder Vampire werden. Es gibt keine andere Wahl für uns.«
MaryAnn seufzte. Ohne den Kummer und die Verzweiflung, die an ihr nagten, hätte sie in der Lage sein müssen, klarer zu denken, doch nun war alles überlagert von Verwirrung. Waren ihre eigenen Emotionen dafür verantwortlich, oder war es Manolito? Und wenn er es war, wie konnte er dann im Dschungel überleben, ohne zu wissen, was mit ihm geschah?
»Wie kann ich ihn erreichen? Telepathisch, meine ich. Ich habe so etwas noch nie versucht.«
Riordan und Juliette wechselten einen langen, verdutzten Blick. Sie hatten noch nie erklären müssen, was bei ihnen eine ganz natürliche Begabung zu sein schien.
»Stell ihn dir im Geiste vor. In allen Einzelheiten, bis auf die kleinste Kleinigkeit, die dir von ihm in Erinnerung geblieben ist, einschließlich seines Duftes und deiner eigenen Gefühle«, riet ihr Riordan.
Na toll. Sie erinnerte sich, das Gefühl gehabt zu haben, dass er der sinnlichste Mann war, den sie je in ihrem Leben in ihren Träumen heraufbeschworen hatte. Hitze durchströmte sie. War sein Mund wirklich von ihrem Hals zum Ansatz ihrer Brust hinabgewandert? Hatten sich seine Zähne in ihre Haut gebohrt, um ihr Blut zu trinken? Der Gedanke hätte ihr zuwider sein müssen. Jede auch nur halbwegs vernünftige Frau hätte das ekelhaft gefunden. MaryAnn schloss die Augen und versuchte, sich Manolito vorzustellen.
Seine Schultern waren breit, seine Arme kräftig, seine Taille und Hüften schlank, seine Brust sehr muskulös. Das Spiel der Muskeln unter seiner Haut war wie das einer großen Raubkatze, wenn er sich bewegte. Und er bewegte sich mit absoluter Lautlosigkeit. Sein Gesicht... MaryAnn atmete tief ein. Seine Gesichtszüge waren außergewöhnlich. Er war der bestaussehende Mann, der ihr je begegnet war. Dunkle, geheimnisvolle Augen, glänzendes schwarzes Haar, das seine markanten Züge unterstrich, eine gerade Nase und hohe Wangenknochen, um die jedes Model ihn beneidet hätte, ein starkes Kinn mit einem Hauch von Bartstoppeln darauf. Aber es war sein Mund, den sie unaufhörlich hatte anstarren müssen. Sinnlich, mit einem Anflug von Gefahr – gerade genug, um eine Frau verrückt zu machen.
Sie streckte in Gedanken ihre Hände nach ihm aus, und zu ihrem Erstaunen fühlte sie, wie ihr Bewusstsein sich erweiterte, als hätte es nur darauf gewartet, als wäre der Weg zu Manolito schon etwas Vertrautes. Sie spürte ihn, für einen Moment nur fühlte sie, wie er sie berührte, nach ihr griff, aber dann ... Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen, und unwillkürlich streckte sie verteidigend die Hände aus. Eine riesige Dschungelkatze sprang mit mörderischer Absicht zwischen sie. Das Ziel ihrer gefletschten Zähne war Manolitos Kehle. MaryAnn schrie auf und warf sich vor ihn, sodass sie den heißen Atem der Raubkatze auf ihrem Gesicht zu spüren meinte. Es war ein Jaguar.