6. Kapitel
Geister und Schatten. Das hörte sich gar nicht gut an. MaryAnn rieb sich ihr Kinn, das sie auf ihre Knie gestützt hatte. Es gab auf alles eine Antwort; sie musste nur ihren Verstand benutzen.
Manolito beugte sich vor – nahe genug, um sie in seinen angenehmen maskulinen Duft zu hüllen und seine Körperwärme auf sie zu übertragen. MaryAnn fühlte sich gleich sehr weiblich und beschützt. Sie quittierte seine Bemühungen allerdings mit einem etwas irritierten Blick. Sie versuchte zu denken und konnte jetzt keine Ablenkung gebrauchen. Sein Lächeln verschärfte die elektrisierende Spannung zwischen ihnen und ließ sie auf jede Faser ihres Körpers übergreifen.
»Sag mir, welches Unrecht ich dir zugefügt habe. Um nichts in der Welt würde ich dir wehtun wollen. Ich weiß, dass ich dir nie untreu war. Sag es mir, päläfertiil, und ich werde tun, was immer nötig ist, um diese Verfehlung wiedergutzumachen, nicht, um selbst von hier fortzukommen, sondern weil ich meiner Gefährtin niemals und in keinster Weise bewusst etwas zuleide tun würde.«
MaryAnns Herz zog sich zusammen angesichts des Kummers und der Sorge, die in seiner Stimme lagen. »Manolito, ich weiß wirklich nicht, was hier vorgeht, doch du hattest gar keine Gelegenheit, mir irgendetwas anzutun. Ich kenne dich ja kaum. Ich bin keine Karpatianerin, sondern lebe normalerweise in Seattle und kümmere mich um misshandelte Frauen. So habe ich Destiny kennengelernt. Wir wurden Freundinnen, und ihretwegen reiste ich in die Karpaten.«
Manolito runzelte die Stirn. »Das kann nicht sein. Du sagst, du seiest ein Mensch, aber du tust Dinge, zu denen nur ein Karpatianer fähig ist. Du verfügst über große Macht, MaryAnn. Ich spüre sie in dir aufsteigen, wenn du mit mir sprichst. Du benutzt sie, um mich zu beruhigen, und ich fühle mich dann gleich besser.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin nur ein ganz normaler Mensch. Meine Familie ist menschlich. Alles an mir ist menschlich. Ich bin dir heute wirklich zum ersten Mal begegnet. Ich sah dich ...« Und fand, dass du so schön warst, dass es wehtat. Sie schloss die Augen und legte ihren Kopf an seine Schulter. »Du hast mir höllische Angst gemacht. Alles an dir ist Furcht einflößend, wenn auch einiges – oder das meiste davon – auf positive Art.«
Sein Kuss war nur ein Wispern seiner Lippen über ihrem Wangenknochen, aber sie konnte spüren, wie er sich in ihrem Herz festsetzte. »Warum sollte ich dir Furcht einjagen? Du bist die andere Hälfte meiner Seele«, fragte er verwirrt.
Am liebsten hätte sie mit der Fingerspitze die Furche zwischen seinen Brauen geglättet, doch sie widerstand dem Impuls und verschränkte ihre Hände. »Das würdest du nicht verstehen.« Weil sie sich nämlich gar nicht sehr zu Männern hingezogen fühlte, oder zumindest doch nicht so. Nicht so, dass sie alle seiner Bitten erfüllen wollte. Nicht so, dass sie in seiner Nähe nicht mehr atmen oder denken konnte. Sie mochte ihr ruhiges, geordnetes Leben. Und sie war überhaupt nicht abenteuerlustig, weder im Bett noch außerhalb. Besonders nicht darin. Und er war fremdartig und mysteriös und sehr gefährlich, wahrend sie ... nun ja, eine ganz normale Frau war, die mit beiden Beinen fest auf der Erde stand. Sie erlaubte sich keine wilden sexuellen Fantasien. Oder Obsessionen. Und Manolito konnte auf jeden Fall als eine Obsession charakterisiert werden.
Er legte seinen Arm um sie. »Du brauchst nur mit mir über deine Ängste zu sprechen, ainaak sivamet jutta, und ich werde einen Weg finden, dich zu beruhigen. Ich werde dich hier herausbringen.
Das müssen wir schnellstens tun, da schon bald die Sonne aufgehen wird. Wenn unsere Körper sich im Reich der Lebenden befinden und unsere Seelen in dem der Finsternis, ist es schwierig, uns im Freien innerhalb des Regenwaldes zu schützen.«
»Dann bring uns zu dir nach Hause. Wenn wir dort sind, brauchen wir uns keine Sorgen zu machen, dass irgendetwas unsere Körper angreift.«
»Wir müssen unter die Erde. Die reichhaltigste ist die terra prata. Es ist besser, dort zu bleiben, wo die Erde uns beleben und erneuern kann.«
MaryAnns Herz begann wie wild zu pochen. »Ich bin keine Kar-patianerin. Ich gehe nicht unter die Erde. Ich würde sterben, wenn die Erde mich bedeckt. Mein Herz hört nicht auf zu schlagen wie das deine. Bitte glaub mir, wenn ich dir sage, dass ich keine Karpatianerin bin.«
Manolito rieb sich seinen Nasenrücken und betrachtete sie unter halb gesenkten Lidern hervor. »Ich weiß, dass du unsere Verbindung spürst. Ich kann die meiste Zeit deine Gedanken lesen, nicht, weil ich indiskret bin, sondern weil du sie auf mich überträgst.« Er schenkte ihr ein schwaches Lächeln. »Du versuchst, mich zu beruhigen. Ich kann deine Energie wie warme Arme um mich spüren, die mich streicheln und mir das Gefühl geben, dass alles gut werden wird.«
Er war so nah, dass sie sich nur vorzubeugen brauchte, um seinen sündhaft schönen Mund zu küssen. Er war die fleischgewordene Versuchung, die ihr da inmitten von Gefahr und unerklärlichen Phänomenen gegenübersaß. Eine sündhafte Verlockung, der sie nicht mehr widerstehen konnte. MaryAnn beugte sich vor und überbrückte die wenigen Zentimeter zwischen ihnen, bis ihre Lippen Manolitos streiften. Nur ein Mal, um ihre wundervolle Sanftheit auszukosten. Denn wenn sie schon sterben oder in die Hölle kommen würde, wollte sie sich vorher wenigstens einen kleinen Vorgeschmack des Himmels gönnen.
Seine Arme schlossen sich um sie, und ihr Herz sowie der Boden unter ihren Füßen machten einen Satz nach unten, als Manolito den Kuss vertiefte. Noch nie hatte sie jemanden gekannt, der so küsste. Es war ein Kuss, der süchtig machte und sie die Welt um sich herum vergessen ließ, der nach Hunger schmeckte und unverhohlenes sexuelles Begehren weckte. Einen schrecklichen – oder ekstatischen – Moment lang dachte sie, allein sein Kuss würde ihr einen Orgasmus bescheren.
»Ich kann nicht atmen.« Es war ihr egal, ob er merkte, wie sehr sie ihn begehrte. Alles in ihr schmerzte. Überall. Es gab nicht eine Zelle in ihrem Körper, die sich seiner und ihres überwältigenden Begehrens nach ihm nicht bewusst war. Und in diesem Augenblick erkannte sie, dass kein anderer Mann sie je befriedigen würde. Sie würde sich immer nach dem Geschmack, der Berührung dieses einen sehnen, nach seinem Gesicht und Körper, ja, sogar nach seinem frechen Grinsen. Sie würde von ihm träumen und nachts wach liegen und sich nach ihm verzehren. Es war eine beängstigende Erkenntnis, dass ihr Leben ihr zu entgleiten drohte und sie in seiner Nähe nur noch sehr wenig Kontrolle darüber hatte.
»Beruhige dich, sivamet, du bist in guten Händen.«
Seine Stimme war faszinierend und mindestens genauso sexy wie sein Mund. Seltsamerweise nutzte er das nicht aus, sondern zog sie nur noch näher an sich und hielt sie schützend in den Armen, als wüsste er, dass ihre hemmungslose, überwältigende Reaktion auf ihn sie schreckte.
»Du überforderst mich«, gestand ihm MaryAnn. Sie rang nach Atem, versuchte, nicht zu hyperventilieren, war jedoch außerstande, ihre Lungen zum Arbeiten zu bringen. Ihr war fast so, als hätte sie einen Panikanfall wegen eines Kusses, falls so etwas möglich war. Die kühle, durch nichts zu erschütternde MaryAnn verlor die Fassung wegen eines Mannes, und sie hatte nicht einmal eine Freundin in der Nähe, mit der sie reden konnte. Sie war hier so völlig außerhalb der ihr bekannten Welt.
»Nein, das bist du nicht«, sagte er mit einer Zärtlichkeit in seiner Stimme, die wie ein Streicheln war. Er küsste sie wieder und füllte ihre Lungen mit seinem warmen Atem. »Wir befinden uns beide in einer ungewohnten Situation.«
Das war eine solche Untertreibung, dass sie gelacht hätte, wenn sie den Tränen nicht so nahe gewesen wäre. Nicht wegen der Gefahr, sondern weil dieser Mann, der mit einem glamourösen Filmstar oder Model zusammen sein müsste, nur Augen für sie zu haben schien. Und deshalb traute sie sich auch nicht zu, das Thema weiterzuverfolgen.
Sie schob ein bisschen das Kinn vor, streifte noch einmal mit ihren Lippen seinen Mund und holte dann tief Luft. »Lass uns versuchen, zum Haus zurückzukehren. Dort müsste ich sicher sein. Riordan und Juliette müssen wie du die Erde aufsuchen, aber sie hat mir erzählt, dass ihre Schwester und Cousine sich tagsüber im Haus aufhalten, wenn niemand dort ist. Zu dritt müssten wir sicher sein. Vampire können sich tagsüber nicht zeigen, oder doch?«
»Nein, aber sie haben oft Lakaien, die die Drecksarbeit für sie erledigen. Die Jaguarmenschen sind angesteckt worden mit ihrem Übel.«
»Woher weißt du das?« MaryAnn warf einen vorsichtigen Blick um sich und merkte, dass auch Manolito die ganze Zeit nach Feinden Ausschau gehalten hatte, während er sie geküsst, gehalten, sie beruhigt und verrückt gemacht hatte. Sie würde seiner Werbung nicht widerstehen können, falls er jemals Ernst damit machte, aber sie wollte es wirklich versuchen.
»Ich bin einem von ihnen, Luiz, nicht weit von hier entfernt begegnet. Er hat mich angegriffen. Als ich an sein Bewusstsein rührte, um ihn zu beruhigen, wusste ich, dass er vom Vampir beeinflusst worden war. Er war im Grunde gar kein schlechter Mann. Unter anderen Umständen hätten wir vielleicht Freunde sein können.«
»Ich habe diesen Angriff auf dich gespürt und versucht, ihn aufzuhalten«, gab sie zu. »Wie schlimm hat er dich erwischt?« Sie runzelte die Stirn. »Er wollte dich töten.«
»Es war mutig von dir, eingreifen zu wollen, obwohl du dich niemals in Gefahr begeben solltest. Glaub mir einfach, dass ich dich und mich beschützen werde.« Er hatte sie gespürt, als sie für jenen kurzen Moment zwischen ihm und der angreifenden Raubkatze gestanden hatte, und sein Bewusstsein schnell vor ihr verschlossen, um sie vor Verletzungen zu schützen, doch er war stolz auf sie gewesen und hatte sich wie ein Teil von ihr gefühlt. »Mehr, als mir ein paar Kratzer zuzufügen, hat er nicht geschafft.«
Er zog sein Hemd hoch, um ihr seinen straffen, ungewöhnlich muskulösen Bauch zu zeigen. MaryAnn befeuchtete ihre Lippen. »Ich hätte nicht gedacht, dass es tatsächlich Männer gibt, die so wie du gebaut sind«, entfuhr es ihr, und beschämt bedeckte sie ihr Gesicht ganz schnell mit einer Hand. Hätte Manolito nicht ihre andere gehalten, hätte sie auch diese noch vor ihre Augen geschlagen.
Wie oberflächlich sie war. Weil sie so auf seine Muskeln fixiert war ... aber wie hätte sie die beachtliche Wölbung vorn in seinen Jeans nicht registrieren können? Er versuchte nicht einmal, sie zu verbergen. Dabei hätte sie eigentlich an seine Wunden denken und voller Sorge sein müssen. Doch nein, sie konnte an nichts anderes mehr denken, als ihn auszuziehen und ihren Spaß mit ihm zu haben. Sie war nicht immer so gewesen, vielleicht lag es ja an diesem merkwürdigen Schattenreich, in dem sie sich zu befinden schienen. Aber wenn sie schon einmal dabei war, konnte sie es auch richtig machen. MaryAnn blickte auf ihre einst so hübschen Stiefel. Vielleicht brauchte sie ein Paar von diesen Domina-Stiefeln und eine schöne lange Peitsche, um die Kontrolle über sich zu haben – oder über ihn.
»Ich kann schon wieder deine Gedanken lesen«, sagte er mit typisch männlicher Belustigung in seiner Stimme.
»Sehr gut. Dann versuch, ein bisschen Sinn hineinzubringen, denn das will mir selbst nicht ganz gelingen. Geht es dir gut?« Na also. Die Frage war auf jeden Fall schon passender. Ein bisschen verspätet, aber immerhin.
Der Regenwald umgab sie, das Wasser floss noch immer aus den Felsen und vereinte sich mit Flüssen. Alles schien genauso wie zuvor zu sein ... und trotzdem anders. Böser, noch viel beängstigender und seltsam still. Vorher, als sie den Dschungel betreten hatte, war ihr aufgefallen, dass er stiller war, als sie sich ihn vorgestellt hatte, aber beim Gehen hatte sie angefangen, die Zikaden und andere Insekten zu hören, die Schreie der Vögel und den Wind und Regen in dem Blätterdach hoch über ihnen. Nach einer Weile war ihr der Wald sogar so laut und voller Bewohner erschienen, dass sie sich nicht mehr so allein gefühlt hatte. Doch jetzt wirkte er weniger lebhaft, viel trister und grauer, nicht mehr so belebt und geradezu unheimlich still.
Schlangen glitten über den Waldboden und wanden sich um grotesk verkrümmte Äste. Würmer, Blutegel und Zecken brachten das Unterholz in Bewegung, als wäre es selbst etwas Lebendiges. Die Käfer waren groß, mit dicken, harten Panzern, die Moskitos allgegenwärtig und immer auf der Suche nach Blut. Die Blumen strömten einen modrigen Geruch aus, und an allem schien der Geruch von Tod zu hängen. Aber manchmal, wenn sie sehr schnell blinzelte oder an Manolito dachte und daran, wie hinreißend er war, erstrahlte der Regenwald für einen Moment wieder in seinen gewohnten bunten Farben. Das machte keinen Sinn, gab ihr aber immerhin die Hoffnung, dass sie das Geheimnis vielleicht würde entschlüsseln können, sie beide aus diesem Schattenreich herauszubringen. Sie musste sich nur ein bisschen Zeit nehmen.
»Bring mich zu eurem Haus. Glaubst du, du findest den Weg zurück?«
»Ich will die anderen nicht in Gefahr bringen.«
»Falls ein Vampir in dieser Gegend hier herumschleicht, weiß er vermutlich ohnehin schon von den anderen. Zu mehreren sind wir sicherer, besonders, wenn du nicht bei uns sein wirst.« Der Gedanke, von ihm allein gelassen zu werden, versetzte sie sofort in Panik. Ihre Kehle wurde so eng, dass sie kaum noch atmen konnte, aber sie wehrte sich mit aller Kraft dagegen, ihren Ängsten zu erliegen. Er war Karpatianer und sie ein Mensch ...
MaryAnn versteifte sich plötzlich. »Warte mal. Moment mal!« Sie hob abwehrend die Hände, als könnte sie so die in sie eindringende Information abblocken. »Hast du mein Blut zu dir genommen?«
»Natürlich.«
Da war wieder dieses Erstaunen auf seinem Gesicht, als wäre sie vielleicht doch nicht ganz so wissend, wie er gedacht hatte. »Und du denkst, ich sei die andere Hälfte deiner Seele. Destiny hat mir gesagt, dass in eurer Gesellschaft ein Mann die Frau ohne ihre Zustimmung an sich binden kann. Ist das wahr? Hast du das mit uns getan?«
»Natürlich.«
MaryAnn fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und hatte plötzlich ein äußerst ungutes Gefühl in der Magengegend. »Wie viele Male braucht es, um jemanden in einen Karpatianer zu verwandeln?«
»Ein dreimaliger Blutaustausch ist nötig, wenn sie nicht schon Karpatianer sind.«
MaryAnn biss ganz fest auf ihren Daumen, als Erinnerungen in ihr erwachten. Sie starrte auf den Fingernagel, den sie sich erst ein paar Stunden zuvor im Dschungel abgebrochen hatte. Er war zu der Länge der anderen nachgewachsen und sogar noch etwas mehr. Alle ihre Fingernägel waren gewachsen. Manchmal war das ein Problem. Sie mussten oft geschnitten werden, aber nicht täglich. Vielleicht war es das karpatianische Blut, das ihr Wachstum so beschleunigte. »Wie oft hast du Blut mit mir getauscht?«
Ihre Hand glitt über das Mal an ihrer Brust. Es pochte und brannte, als läge noch immer Manolitos Mund darauf. Warum konnte sie sich das plötzlich so genau vorstellen? Und wieso war sie so sicher, dass Manolitos Mund an ihrer Brust gewesen war? Warum konnte sie seine Lippen dort fühlen, heiß wie ein Brandeisen auf ihrer Haut, obwohl sie doch eigentlich nie dort gewesen sein konnten? Nicht an ihrer nackten Haut. Er hatte sie geküsst, war mit seinen Lippen über ihre Brust geglitten; sie spürte noch immer, die feuchte Stelle an der feinen Spitze ihres BHs. So sexy das auch gewesen war, sein Mund war nicht direkt auf ihrer Haut gewesen -wieso war also die Erinnerung daran plötzlich so stark?
»Viele Male, könnte ich mir vorstellen.«
MaryAnn sog scharf den Atem ein. »Du weißt es eigentlich gar nicht, oder? Manolito, wenn du es nicht weißt und ich es nicht weiß, könnten wir beide in echten Schwierigkeiten stecken. Ich bin keine Karpatianerin. Ich bin in Seattle geboren, bin dort zur Schule gegangen und später dann zur Universität in Berkeley, Kalifornien. Falls es stimmt, dass du Blut mit mir getauscht hast, bin ich mir sicher, dass die Umwandlung bei mir nicht stattgefunden hat. Ich würde es wissen, wenn ich in der Erde ruhen müsste. Ich bin immer noch ich.«
»Das kann nicht sein. Ich erinnere mich, dein Blut genommen und dich an mich gebunden zu haben. Du bist ein Teil von mir. Das kann kein Irrtum sein.«
Sie öffnete ihm ihr Bewusstsein und ihre Erinnerungen. »Es stimmt, wenn ich sage, ich hätte dich vorher nicht gekannt. Es stimmt, dass ich dich auf einer Weihnachtsparty in den Karpaten gesehen habe, wir aber nie offiziell miteinander bekannt gemacht worden sind. Ich fühle mich körperlich zu dir hingezogen, doch ich kenne dich überhaupt nicht.« Okay, stark hingezogen, aber hier ging es um etwas Ernsteres, und deshalb konnte sie darüber hinwegsehen – hoffte sie. Alles wurde klar. Was Riordan und Juliette ihr erzählt hatten, begann nun, einen Sinn zu ergeben. Und ihr Herz fing an, wie wild zu schlagen.
Manolito schwieg, versuchte, ihre Erinnerungen einzuschätzen, und verweilte etwas zu lange bei der an einem Mann, der in ihr Haus eingebrochen war und sie angegriffen hatte. Sogleich spürte er, wie sich seine scharfen Zähne verlängerten und der Dämon in ihm an seinen Fesseln zerrte. Aber er verbarg seine Reaktion sehr sorgfältig vor MaryAnn. Sie hatte schon genug zu bewältigen.
»Wenn es wahr ist, was du sagst, MaryAnn, wie kommt es dann, dass wir Gefährten des Lebens sind? Das Aussprechen der rituellen Worte kann zwei Menschen nicht verbinden, die nicht ohnehin schon aneinander gebunden sind. Ich könnte sie zu jeder Frau sagen, die mir begegnet, doch das würde überhaupt nichts nützen.«
»Vielleicht hast du ja einen Fehler gemacht, und wir sind gar nicht wirklich aneinander gebunden«, meinte sie.
»Ich sehe wieder Farben. Ich habe wieder Gefühle. Ich kann an keine andere Frau als dich denken. Ich begehre keine andere. Ich kann in deine Seele blicken. Wir sind Gefährten des Lebens«, erklärte er in einem Ton, der keinen Widerspruch erlaubte.
MaryAnn wusste nicht, was sie dem entgegensetzen sollte. Obwohl sie nicht alles über das Leben der Karpatianer wusste, so wusste sie doch genug, um sich darüber klar zu sein, dass die Möglichkeit sehr groß war, seine Gefährtin zu sein. Allein schon ihre Reaktion auf ihn ließ darauf schließen, dass es sehr wahrscheinlich war. »Okay. Nehmen wir mal an, wir sind Gefährten des Lebens, Manolito. Du sagst, du hättest mir in irgendeiner Weise ein Unrecht zugefügt, und deshalb säßest du hier fest. Warum denkst du das?«
Sein Daumen glitt über ihren Handrücken und streichelte die zarte Haut. Dann begann er an einem ihrer Finger zu knabbern, während er nachdachte, und zwar in einer solch instinktiven, verführerischen Geste, dass ein wohliges Erschauern MaryAnn durchlief. »Ich hatte das Gefühl, für etwas bestraft zu werden, das ich dir angetan hatte. Aber ich müsste es doch wissen, wenn ich dir unrecht getan hätte.«
»Und ich auch«, räumte sie ein und versuchte, nicht auf das erotische Gefühl seiner Zähne an ihrem Finger zu reagieren. Wie konnte eine so kleine Spielerei solch merkwürdige Dinge mit ihrem Magen anstellen? Oder ihre Brüste so schwer und empfindsam werden lassen? Wie konnte sie jemals zulassen, dass dieser Mann sie in einem Schlafzimmer berührte? Darüber würde sie nie hinwegkommen.
»Ich lese wieder deine Gedanken.«
»Das tust du dauernd.« Sie dachte nicht daran, sich zu entschuldigen. »Hör auf, so sexy zu sein. Ich bemühe mich, klar zu denken. Einer von uns muss uns hier herausbringen.« Sie warf ihm unter halb gesenkten Lidern einen vernichtenden Blick zu, doch er grinste sie nur an, und sein Lächeln brachte ihren Körper ebenso mühelos zum Prickeln, wie es seine Zärtlichkeiten vermochten. Sie steckte in Schwierigkeiten. Großen Schwierigkeiten. Mit einem leisen Schnauben löste sie ihren Blick von ihm, entschlossen, einen Weg zu finden, sie von hier wegzubringen.
»Könnte das nicht das Unrecht sein, uns ohne meine Zustimmung aneinander zu binden und ohne mein Wissen mein Blut zu nehmen? Denn das dürfte wohl nach niemandes Maßstäben in Ordnung sein. Vielleicht musst du Reue verspüren, um uns hier herauszubekommen?«
»Ich kann sagen, es täte mir leid, meine Gefährtin beansprucht zu haben, aber das wäre nicht die Wahrheit.«
Sie seufzte. »Du nimmst das hier nicht ernst genug. Wenn wir dieser Schattenwelt entkommen wollen und du mir irgendwie ein Unrecht angetan hast, sollten wir dann nicht überlegen, was es war?«
»Das vermeintliche Unrecht kann es nicht sein. Das ist eine natürliche Handlungsweise für einen Karpatianer. Es wäre falsch von mir, unsere Seelen nicht miteinander zu verbinden. Ich würde zu einem Vampir werden, und du würdest irgendwann an gebrochenem Herzen sterben.«
Wieder schnaubte MaryAnn. »An gebrochenem Herzen? Ich kenne dich doch nicht einmal.« Aber sie hatte schon um ihn getrauert. Um ihn geweint. War ernsthaft deprimiert gewesen, und nun war sie ganz heiß und unruhig und voller Euphorie, obwohl sie umgeben war von Gespenstern, Insekten und Spinnen, die so groß waren wie Essteller. Sie versuchte noch einmal, es ihm verständlich zu machen. »Und wenn ich nun verheiratet wäre? Du hast nicht einmal abgewartet, um es herauszufinden. Ich hätte eine verheiratete Frau sein können.« Denn eine ganze Menge Männer interessierten sich für sie.
Manolitos Finger schlossen sich fester um ihre, und winzige Flammen züngelten in seinen Augen auf. »Es gibt nur einen Mann für dich.«
»Na, dann bist du ja vielleicht zu spät gekommen. Der Punkt ist doch der, dass ich hätte verheiratet sein können. Ich hatte ein Leben, bevor du aufgetaucht bist, und mir gefiel dieses Leben.
Niemand hat das Recht, das Leben eines anderen auf den Kopf zu stellen, ohne die Zustimmung dieser Person.« Sie zwang sich, ihm in die Augen zu sehen. »Ich liebe dich nicht, Manolito.«
Seine schwarzen Augen, die sich sogar noch verdunkelten vor glutvoller Begierde, raubten ihr den Verstand und die Fähigkeit zu atmen. »Das mag ja sein, ainaak enyem, aber es ändert nichts daran, dass du meine Gefährtin und die andere Hälfte meiner Seele bist, so wie ich dein Gefährte bin. Wir sind füreinander bestimmt. Ich muss nur einen Weg finden, dich in mich verliebt zu machen.« Er beugte sich zu ihr vor, so nahe, dass sie seinen warmen Atem auf ihrer Haut spürte und seine Lippen, die die ihren streiften, als er flüsterte: »Du kannst dir sicher sein, päläfertiil, dass ich meine gesamte Aufmerksamkeit darauf konzentrieren werde.«
Ihr Herz kam völlig aus dem Takt, pochte und hämmerte so hart, dass sie einen Herzanfall zu bekommen glaubte. »Du bist sehr attraktiv. Und das weißt du auch, nicht wahr? Gab es andere Frauen? Vielleicht war das dein großes Unrecht.« Und tatsächlich machte der Gedanke sie nervös, auch wenn das lächerlich war. Er hatte sie nicht gekannt, kannte sie noch immer nicht, doch für Vernunft war offenbar kein Platz in ihren Emotionen. Dieses seltsame, wilde ... Ding, das sich tief in ihr verbarg, begann, sich zu regen und mit seinen scharfen Krallen an der Innenseite ihres Bauches zu kratzen.
Entsetzt sprang MaryAnn auf und entzog Manolito ihre Hand. Sie fing schon an, das alles für bare Münze zu nehmen. Die nicht vorhandene Schattenwelt. Die Gefährtin eines Mannes, den sie nicht mal kannte. Eine Spezies, die mit Vampiren und Magiern umging. Nichts machte Sinn in dieser Welt, und sie wollte weg von hier. Sie wollte in ihr Seattle zurückkehren, wo der Regen fiel, um die Atmosphäre zu reinigen, und wo die Welt in Ordnung war.
Sie spürte Manolitos Finger um ihr Handgelenk, aber als sie auf seine Hand herabblickte, war sie grau. MaryAnn blinzelte. Überall um sie herum war der Regenwald wieder voller Leben und Farben, die so strahlend waren, dass sie ihr fast in den Augen wehtaten.
Und sie hörte auch wieder die Geräusche, das Summen von Insekten, das Rascheln in den Blättern und die Bewegungen von Tieren, die durch das Unterholz und das Blätterdach hoch über ihnen schlichen. Sie schluckte schwer und sah sich um. Das Wasser war rein und klar und stürzte mit einer solchen Kraft zur Erde, dass es sich wie Donner anhörte.
Sie griff nach Manolito und zog ihn an sich, aus Angst, ihn zu verlieren. Sein Körper wirkte kräftig genug, aber an seiner Reaktion stimmte etwas nicht, als wäre ein Teil von ihm mit etwas anderem beschäftigt. »Ich glaube, ich habe gerade etwas bewirkt.«
»Du bist wieder dort, wo du hingehörst«, stellte Manolito erleichtert fest. »Wir müssen dich in Sicherheit bringen, bevor die Sonne aufgeht. Du magst zwar keine Karpatianerin sein, MaryAnn, aber spätestens nach einem zweiten Blutaustausch wirst du das Sonnenlicht nicht mehr gut ertragen können.«
»Sag mir, was geschieht.« Sie hatte die andere Welt nicht gemocht, doch in dieser hier allein zu sein war sehr beängstigend. »Ich will nicht, dass du mich allein lässt.«
Manolitos Herz verkrampfte sich angesichts der Furcht in ihrer Stimme. »Ich würde dich nie allein lassen, schon gar nicht umgeben von Gefahren. Ich kann dich voll und ganz beschützen, selbst wenn mein Geist an diese Welt gefesselt ist.«
»Und wenn ich dich nicht beschützen kann?«, fragte sie mit einem bangen Blick.
Manolito zog sie an sich, um sie zu beruhigen, und währenddessen öffnete sich der Boden unter ihm, und eine mächtige Pflanze brach durch die Erde neben seinen Füßen. Fangarme glitten suchend über den Boden, während sich die Blumenzwiebel öffnete wie ein Mund und den Blick auf dicke Fanghaare mit klebrigen, giftigen Knötchen freigab, die in Manolitos Richtung wogten und versuchten, an seine Haut heranzukommen.
»Pass auf den Boden auf, MaryAnn!«, warnte er, während er die Arme um sie schlang, und machte einen Satz zurück. Er landete etwa vier Meter von der Pflanze und blickte sich schnell nach Anzeichen eines Feindes um. Seine Sinne gehorchten ihm nicht so gut in der Schattenwelt, aber er befürchtete, dass das, was hier geschah, durchaus widerspiegeln könnte, was auch in der anderen Welt geschah.
»Was ist?« Mit scharfen Augen suchte MaryAnn den Boden ab. Ihre Sicht schien sich so weit geklärt zu haben, dass sie beinahe das Gefühl hatte, eine völlig andere Welt zu erblicken. Sie konnte Mano-lito sehen, aber was immer ihn in dieser Welt bedrohte, konnte sie nicht klar erkennen. Sie sah nur verschwommene Schatten, wie aus einem Albtraum, unwirklich und unheimlich. Seine Arme verblassten, als würde er mehr und mehr in diese andere Welt hineingezogen.
»Lass mich nicht los !« Sie versuchte, nach seinem Hemd zu greifen, doch sie spürte, wie er sich von ihrem Bewusstsein löste. Sie hatte nicht einmal gewusst, dass er darin gewesen war, aber jetzt, da er nicht mehr dort war, begann seine Gestalt fast durchsichtig zu werden.
»Ich kann dich nicht in dieser Gefahr hierlassen. Wir wissen nicht, was hier geschieht. Du bist in der anderen Welt sicherer, während ich mich mit all dem befasse.«
»Was meinst du mit ›all dem‹?«, schrie sie, aber egal, wie flehend sie ihn auch rief, er war schon nicht mehr da, nichts als ein durch das Gebüsch wabernder Schatten, bis selbst der nicht mehr zu sehen und sie allein war.
Mit vor Furcht ganz trockenem Mund und wild pochendem Herzen blickte MaryAnn sich um. Gleichgültig, wie sehr sie auch wünschte, er möge verschwinden, der Regenwald umgab sie immer noch. Sie schluckte schwer, trat ein paar Schritte zurück und spürte, wie ihre hohen Absätze in schlammigem Wasser versanken. Laub und Wasserpflanzen verbargen den flachen Wasserlauf, in den sie versehentlich getreten war. Wasser und Schlamm waren einfach überall.
Es goss in Strömen, sodass der Regen sogar durch das dichte Blätterdach über ihr drang. Sie sah, dass eine Schlange durch das Blattwerk auf sie herabschaute, und hätte schwören können, dass das Blut in ihren Adern stockte. Für einen Moment war sie wie gelähmt und konnte nur wie hypnotisiert zu dem Ding hinaufstarren. Ein harter Ruck an ihrem Knöchel brachte sie unsanft in die Wirklichkeit zurück. Zähne bohrten sich durch ihren Stiefel und in ihre Haut. Sie schnappte entsetzt nach Luft, versuchte instinktiv, ihren Fuß aus dem Wasser herauszuziehen, doch eine Schlange mit einem sehr breiten Kopf hielt sie gepackt, während ihr langer, dicker Körper sich an ihrem Bein heraufwand und jede Flucht verhinderte.
MaryAnn schrie. Es war pures Entsetzen, ein Reflex, den sie einfach nicht verhindern konnte. Nicht einmal in ihren schlimmsten Albträumen war sie je von einer hundert Pfund schweren Anakonda angegriffen worden. Fieberhaft versuchte sie, den Kopf der Schlange zu erreichen, in der Hoffnung, mit dem Pfefferspray vielleicht noch eine Chance zu haben, doch die Schlange schien endlos zu sein, ohne einen Kopf und Schwanz. Schon jetzt konnte MaryAnn ihre Knochen knacken fühlen. Sie war der Panik nahe, und tief in ihrem Innersten begann sich wieder die Wildheit zu entfesseln, die sie sonst immer so sorgfältig unter Kontrolle hielt.
»Halten Sie still! Wehren Sie sich nicht!«, ertönte ein scharfer Befehl von einer ihr fremden Stimme.
MaryAnn umklammerte das Pfefferspray und zwang sich, den Kampf aufzugeben. Eine Hand mit einem gefährlich aussehenden Messer kam in Sicht. Schmerz durchzuckte sie, als sich die Zähne der Schlange noch tiefer in ihren Knöchel bohrten. Anakondas zerfetzten das Fleisch ihrer Opfer nicht, aber sie hielten sie fest und zermalmten sie mit ihrem muskulösen Körper, und diese hier gab nicht leicht auf.
MaryAnn sah die Hand vor- und zurückschnellen. Die Schlange erschlaffte, und MaryAnn krabbelte aus dem Wasser, wobei ihr Fuß umschlug und ihr Absatz abbrach, als sie vor der Schlange davon-rannte. Schließlich hielt sie sich an einem Baum fest, schlang keuchend die Arme um seinen dicken Stamm und rang nach Atem, um ihre Panik zu bekämpfen.
»Was tun Sie hier? Haben Sie sich verirrt?«
Sie drehte sich um und sah einen Mann, der in aller Ruhe eine Jeans aus einem kleinen Päckchen um seinen Nacken zog. Er war splitterfasernackt. Sein Körper war kräftig, muskulös, mit Narben hier und dort. MaryAnn biss sich auf die Lippe und wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. »Das könnte man sagen.« Als Mann war er sehr gut gebaut. Er hatte ein markantes Gesicht, und obwohl er inzwischen in seine Jeans geschlüpft war, konnte sie sehen, dass er von der Natur gut ausgestattet war. »Laufen Sie immer nackt im Regenwald herum?«
»Manchmal«, gab er zu, während er sie und das Pfefferspray in ihrer Hand mit ernstem Blick betrachtete. »Ich rate Ihnen, sich von Flüssen und Wasserläufen fernzuhalten. Anakondas, Jaguare und andere Raubtiere streifen dort herum.«
»Danke für den Tipp. Das muss ich wohl irgendwie übersehen haben. Diese Schlangen sind aber nicht giftig, oder? Weil sie mich gebissen hat, verstehen Sie?«
»Nein, die Gefahr ist nur, dass sich die Wunde infiziert. Lassen Sie mich mal sehen.«
MaryAnn sog scharf den Atem ein, weil sich alles in ihr dagegen auflehnte, sich von diesem Mann berühren zu lassen. Deshalb schüttelte sie den Kopf und trat zurück. »Danke, aber das ist nicht nötig. Ich habe eine antibiotische Creme, mit der ich das behandeln kann.«
Er sah ihr lange prüfend ins Gesicht, genauso misstrauisch, wie sie es war. »Diese Insel ist Privatbesitz. Wer hat Sie hierhergebracht?«
»Ich wohne bei den De La Cruz'. Manolito ist irgendwo ganz in der Nähe.« Er sollte nicht glauben, sie sei allein.
Seine Brauen fuhren in die Höhe. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass er Sie hier allein gelassen hat – und wenn auch nur für eine Minute.«
Der besorgte Tonfall seiner Stimme beruhigte sie ein wenig. »Sie kennen Manolito?«
»Ich bin ihm heute Nachmittag begegnet. Die Abenddämmerung nähert sich, und viele Tiere jagen um diese Zeit an den Flüssen und Wasserläufen. Erlauben Sie mir, Sie zum Haus zurückzubringen. Manolito wird nachkommen, sobald er kann.«
MaryAnn suchte die Schatten nach dem Karpatianer ab. Sie konnte weder an sein Bewusstsein rühren noch ihn fühlen, geschweige denn ihn sehen. Wo bist du? Ich will dich nicht allein lassen. Sie suchte die telepathische Verbindung zu ihm, fand jedoch nur eine schwarze Leere.
Wenn ihr Retter nackt im Dschungel herumlief und Manolito vorher schon begegnet war, war es sehr gut möglich, dass er ein Jaguarmensch war. Juliettes jüngere Schwester war von Männern der Jaguar-Spezies gefangen genommen und brutal misshandelt worden. MaryAnn umklammerte die Pfefferspraydose noch fester. Sie würde nie allein aus dem Dschungel herausfinden, und sie hatte furchtbare Angst davor, allein zu sein, aber sie konnte Manolito nicht verlassen, schon gar nicht, seit sie wusste, dass irgendetwas mit ihm war, und sie hatte Angst, diesem Fremden zu vertrauen.
»Ich bin Luiz«, sagte er, da er ihr Unbehagen zu durchschauen schien. »Manolito hat mir heute einen großen Dienst erwiesen. Ich revanchiere mich nur dafür.«
»Er soll nicht zurückkommen und feststellen müssen, dass ich nicht mehr da bin. Er würde sich Sorgen machen.« Die einzige Person hier – ob menschlich oder nicht – sollte sie nicht allein lassen, das wollte sie nicht. MaryAnn ertrug es nicht, die tote Schlange anzusehen. Sie hatte ihr nichts Böses gewünscht, doch sie wollte natürlich auch nicht in diesem Urwald sterben. Und von einer Anakonda verschlungen zu werden, stand ganz unten auf der Liste der von ihr bevorzugten Todesarten.
»Karpatianische Männer machen sich um sehr wenig Sorgen«, sagte Luiz. »Also kommen Sie mit mir. Sie können hier nicht allein zurückbleiben. Wenn Sie wollen, können Sie das Messer halten.«
MaryAnn seufzte. Um das Messer zu halten, musste sie nahe genug an ihn herantreten, damit er es ihr übergeben konnte. Aber es bedeutete auch, dass sie ihn vielleicht wirklich damit verletzen würde, falls er eine falsche Bewegung machte, und dieser Gedanke war ihr mehr als nur zuwider. »Behalten Sie es.« Sie hatte ihr Pfefferspray, bei dem sie keinerlei Bedenken haben würde, es zu benutzen.
Er lächelte sie an. »Sie sind eine sehr tapfere Frau.«
Es gelang ihr, sich ein kurzes Lachen abzuringen. »Ich zittere bis in meine Lieblingsstiefel. Tapfer ist nicht das Wort, das ich benutzen würde. Ich würde eher sagen: dumm. Ich wäre in meinem sicheren Zuhause in Seattle, wenn ich nicht wieder so ein Idiot gewesen wäre, der glaubt, die Welt retten zu müssen.«
Er schickte sich an, einen fast nicht erkennbaren Pfad hinabzugehen. MaryAnn konnte sehen, dass der Weg von einem Tier benutzt worden war. Nach einem tiefen Atemzug folgte sie Luiz und schickte ein stummes Stoßgebet zum Himmel, dass Manolito sie bald finden möge. Wenn sie Riordan und Juliette erreichte, würden sie Manolito vielleicht wiederfinden und ihm helfen können.
Luiz sah sich nach ihr um. »Können Sie mit Ihrem abgebrochenen Stiefelabsatz laufen? Ich kann die Absätze auch entfernen, wenn Sie wollen.«
Oh Gott, was für ein Sakrileg! Er hatte sie zwar vor der Schlange gerettet, doch allein für die Idee, die Absätze ihrer Lieblingsstiefel abzutrennen, hätte er eine Dosis Pfefferspray verdient. »Nein, danke.« Sie blieb höflich, weil der Mann ein bisschen verrückt sein musste, um eine solche Möglichkeit auch nur in Betracht zu ziehen.
Schweigend gingen sie ein paar Minuten weiter, in denen sich MaryAnn bemühte, ihre Gedanken nicht immer wieder zu Manolito abschweifen zu lassen. Aber das war schwierig. Ein Teil von ihr wollte zurücklaufen zu der Stelle, an der sie ihn verlassen hatte, und dort warten, bis er wiederkam. Ein anderer Teil von ihr war wütend, dass er sie verlassen hatte, und wieder ein anderer Teil – der größte –, hatte wahnsinnige Angst um ihn.
»Warum verfolgen uns die Laubfrösche?«, fragte Luiz.
»Laubfrösche?« MaryAnn biss sich auf die Lippe und hoffte, dass der Jaguarmann sich irrte, als sie sich verstohlen umsah. »Ich weiß es nicht.« Aber er hatte recht. Kleine grüne Frösche sprangen hinter ihnen von Ast zu Ast, von Baum zu Baum.
»Sie scheinen Ihnen zu folgen.«
»Glauben Sie?« Sie versuchte, ihrer Stimme selbst dann noch einen unschuldigen Klang zu verleihen, als sie die Frösche anzischte und ihre Arme schwenkte, um sie zu vertreiben. »Sie müssen sich irren. Wahrscheinlich ziehen sie bloß in die gleiche Richtung ab wie wir.« Wanderten Frösche überhaupt? Regenwaldgeschöpfe waren kompliziert. MaryAnn warf den schillernd grünen Amphibien einen ärgerlichen Blick zu, aber sie hüpften munter weiter neben ihr.
»Sie ziehen sie in Scharen an.« Er klang amüsiert, als er das Unterholz zur Seite schob, um sie ungehindert hindurchtreten zu lassen. MaryAnn entging nicht, dass er immer wieder witternd seinen Kopf hob.
»Vielleicht lockt mein Parfum sie an.« Versteht ihr nicht, was ›Verschwindet!‹ heißt? Ihr lasst mich ganz schön dumm dastehen, versuchte sie, den Fröschen telepathisch zu übermitteln, in der Hoffnung, dass einige von Juliettes und Riordans übersinnlichen Fähigkeiten tatsächlich auf sie abgefärbt hatten. Doch die Frösche ignorierten ihren Protest.
»Können Sie schneller gehen?«, fragte Luiz.
Er wirkte nicht nervös, sondern eigentlich ganz gelassen, aber MaryAnn hatte trotzdem das Gefühl, dass er ständig nach Gefahren vor und hinter ihnen Ausschau hielt. Die Affen begannen, zu kreischen und Blätter und Zweige hinabzuwerfen, und Luiz hob die Hand und bedeutete ihr, sich still zu verhalten.
Moskitos umschwirrten MaryAnns Gesicht, und sie zog vorsichtig ihr Insektenspray aus dem Gürtel und sprühte reichlich davon in die Luft um sich herum.
Luiz fuhr herum, und sie sah, wie seine Nasenflügel zuckten. »Tun Sie das nicht!«
»Die Moskitos stechen mich.«
»Dieser widerliche Gestank beeinträchtigt meine Fähigkeit, Witterung aufzunehmen. Ich muss wissen, worauf wir uns gefasst machen müssen.«
Okay. Das ließ Schlimmes ahnen, und sie war es, ehrlich gesagt, leid, sich immer wieder neu zu ängstigen. Man konnte nur ein gewisses Maß an Angst ertragen ohne einen Freund, der einem den Rücken stärkte. Seufzend steckte sie das Insektenspray wieder ein und beschränkte sich darauf, mit einer Hand die Mücken zu vertreiben, während sie mit der anderen fest das Pfefferspray umklammert hielt.
Sie würde auf dem schnellsten Weg von hier verschwinden, sobald sie ein Telefon erreichte. Manolito hatte recht gehabt. Ihr wurde schon ganz schlecht vor Sorge um ihn, und das machte sie nur noch wütender auf ihn. Das Mal an ihrer Brust pochte und brannte, und sie verzehrte sich nach ihm. Tränen ließen ihre Sicht verschwimmen, und sie stolperte über eine verdrehte, schlangenähnliche Wurzel, wobei sie fast gefallen wäre. Doch sie streckte gerade noch beide Arme aus, um sich zu fangen, bevor sie kopfüber im Matsch landete – und das rettete ihr das Leben.
Der große Jaguar verfehlte sie und landete, nur Zentimeter von ihrem Kopf entfernt, auf seinen Füßen. Fauchend fuhr die Raubkatze herum und hieb mit ihren Pranken nach MaryAnns Gesicht, doch Luiz sprang dazwischen, schon halb verwandelt, und Mary-Ann konnte sehen, wie sich sein Gesicht verbreiterte und sein Kinn verlängerte, um seinen beeindruckenden Fängen Platz zu bieten. Ein Höllenlärm brach im Dschungel aus, als die beiden großen Katzen sich fauchend und brüllend aufeinanderstürzten.
Außerstande, all das nur eine Sekunde länger zu ertragen, sprang MaryAnn auf, war mit zwei großen Schritten bei der angreifenden Raubkatze und sprühte ihr das Pfefferspray in Augen und Nase. Als sie noch ein paarmal auf den Auslöser drückte, zitterte ihre Hand vor Wut, was ihre Zielgenauigkeit jedoch nicht beein-trächtigte.
»Schluss damit, Herrgott noch mal! Mir reicht's – ich habe die Nase gestrichen voll von diesem Dschungel-Quatsch. Ich bin ein Stadtmensch, aber ich kann mit allem fertig werden, was dieser grässliche Ort mir zumutet! Also mach, dass du von hier verschwindest!«, brüllte sie, so laut sie konnte, während sie dem Jaguar sicherheitshalber noch eine weitere Dosis ihres Sprays verpasste.
Die Raubkatze stürzte davon, als hätte MaryAnn sie gebissen. Luiz, dessen Jeans schon halb zerfetzt waren, ließ sich auf den Boden fallen. »Was zum Teufel war das?«
»Pfefferspray«, sagte sie, als sie sich neben ihn setzte, und brach in Tränen aus.