10. Kapitel
Jasmine schrie auf und schlug die Hand vor den Mund, um das Geräusch zu dämpfen. Sie taumelte zurück, griff hinter sich und tastete nach der Tür des Schutzraums.
Ohne Zögern griff Solange den Jaguar an und feuerte gleich mehrere Schüsse ab, während sie auf ihn zulief. Ein zweiter Jaguar, der, den Jasmine als Sergio erkannt hatte, hatte sich jedoch unbemerkt von hinten an Solange herangeschlichen und schlug sie nieder. Als sie taumelte und stürzte, trat er ihr die Waffe auf der Hand. Mit einem ohrenbetäubenden Krachen landeten Möbel und Lampen auf dem Marmorboden.
Erbittert kämpfend, wälzten sich Sergio und Solange auf dem Boden, auch sie schon halb in Jaguargestalt, um die Kraft des Tieres ins Spiel zu bringen. Sie schlug ihre scharfen Krallen in Sergio, als dieser seinen weitaus kräftigeren Körperbau benutzte, um sie unter sich zu halten. Der Angriff war gut koordiniert, da die Gegner So-langes Fähigkeiten anscheinend eingehend studiert hatten. Der erste Jaguar schwankte, seine Flanken bebten, und sein Fell rötete sich schon von dem Blut aus seinen beiden Schussverletzungen. Trotzdem stürzte er sich auf Solange, um Sergio zu helfen, sie zu bändigen.
MaryAnn besprühte ihn mit ihrem Pfefferspray und traf ihn wiederholt in Augen, Mund und Nase. Jasmine, die ihr in das Kampfgetümmel gefolgt war, hieb ihm eine Lampe über den Kopf und trieb ihn so ein Stück zurück.
Dann brach der verletzte Jaguarmann zusammen und landete zwischen MaryAnn und Solange. Heulend schlug er sich mit seinen Pranken ins Gesicht, rollte sich hin und her und hinterließ blutverschmierte Flecken auf dem Marmorboden.
Solange setzte ihr ganzes Körpergewicht und ihre Raubtierkraft ein, um Sergio einen harten Schlag gegen die Kehle zu versetzen. Mit ihren scharfen Krallen fuhr sie über seine Schnauze und zerfetzte ihm den Bauch. Aber dann warf er sich mit seinem ganzen Gewicht auf sie und schlug ihr seine Fänge in die Kehle. Sie erstarrte unter ihm, und obwohl ihre Flanken vor Erregung bebten und ihre bernsteinfarbenen Augen wütend funkelten, blieb ihr Körper völlig starr und angespannt.
Jasmine flitzte durch die Halle zu der Waffe auf dem Boden. Bevor sie sie jedoch aufheben konnte, kam ihr der Magier zuvor, trat die Pistole außer Reichweite und stieß Jasmine so hart gegen die Wand, dass ihr die Sinne schwanden.
Im selben Moment, in dem Jasmine versucht hatte, die Waffe zu erreichen, war ein weiterer Jaguarmann hereingestürzt, nur dass dieser schon vollständig verwandelt war. Seine Augen glitzerten Unheil verkündend, als er um Jasmine herumging und Sergio von Solange herunterstieß. Die beiden Jaguare bäumten sich auf und prallten so hart zusammen, dass sie die Wände erschütterten.
Der verwundete Jaguar brüllte vor Wut und schlug mit seiner Pranke nach MaryAnns Bein. Sie schrie auf vor Schmerz, als seine messerscharfen Krallen ihre Wade trafen und ihr durch die Hose hindurch Haut und Muskeln aufrissen. MaryAnns Bein knickte ein, und sie stürzte auf den Marmorboden, wo sie jedoch sogleich auf Händen und Knien zurückkroch, um sich außer Reichweite dieser tödlichen Krallen zu bringen. Sie war jedoch nicht schnell genug: Die Krallen trafen noch ihren Knöchel, und der Jaguar zog sie mit einem triumphierenden Brüllen zu sich heran, um ihr seine Fänge in den Hals zu schlagen. MaryAnn stieß ihre Fäuste gegen den Hals der Katze, wobei die Spraydose, die sie noch immer fest umklammert hielt, ihre Schläge etwas härter machte, aber der Jaguar kam weiter unerbittlich näher. In einem Anfall wilder Mordlust schwenkte er seine Pranken, als er, durch das Pfefferspray geblendet, blindlings seine Beute suchte. Sein Gesicht war nass von Tränen, und auch seine Nase und Schnauze liefen, doch er war gefährlich, so wütend, wie er auf der Suche nach seinem Angreifer in dem Raum herumtobte.
Solange sprang ihn von hinten an, jetzt ganz Katze, wild und außer Rand und Band, und schlug ihre Zähne mit enormer Kraft in seinen Schädel. Der Jaguar vergaß MaryAnn und rollte sich auf den Rücken, um Solange abzuschütteln. Erbarmungslos zerfetzte sie dem Tier den Bauch, während sie mit ihren scharfen Reißzähnen seine Schnauze attackierte.
MaryAnn zog ihr Bein aus dem Getümmel zurück. Vier Jaguare wälzten sich auf dem Boden und kämpften, um einander umzubringen. Jasmines Aufschrei riss MaryAnn aus ihrem Dunst aus Furcht und Schmerz. Der Magier hatte Jasmine an ihrem langen Haar gepackt und zog sie rückwärts aus dem Haus.
Und da erfasste MaryAnn blinde Wut, Wut und etwas anderes, etwas Dunkles, Wildes und Gefährliches. Sie konnte nur zu deutlich spüren, wie es an ihr riss und zerrte und sie bedrängte, es herauszulassen. Ihre Knochen, ihr Mund und ihre Zähne schmerzten, ihre Hände ballten sich zu Fäusten, aber ihre Fingernägel hatten sich verlängert und bohrten sich in ihre Hand.
»Schluss jetzt!« Hört auf damit! MaryAnn rappelte sich auf. Das reicht!
Zu ihrem Erstaunen verhielten alle vier Jaguare in der Bewegung, standen mit hängenden Köpfen, bebenden Flanken und hechelnd da und starrten sie nur an. Nur der Magier bewegte sich noch, obwohl er schwitzte und zitterte und MaryAnn nicht aus den Augen ließ, während er Jasmine aus dem Haus schleifte und die Tür hinter sich zutrat.
Das Geräusch der zuschlagenden Tür brachte die Jaguare wieder in Bewegung. Sofort biss Solange wieder zu und zerrte an der Kehle des anderen Jaguars. Die beiden männlichen Tiere stürzten sich zähnefletschend und mit ausgestreckten Krallen aufeinander. MaryAnn zog sich auf die Beine, ging um die kämpfenden Raubkatzen herum und verdrängte den Schmerz in ihrem Bein in einen fernen Winkel ihres Bewusstseins, als sie Jasmine und dem Magier hinterherlief.
Tief unter der Erde erwachte Manolito von einem jähen Auflodern von Schmerz und Furcht, das sein Herz zum Rasen brachte und seinen Puls in seinen Ohren dröhnen ließ. Mit dem den Karpatianern eigenen Instinkt wusste er, dass die Sonne noch nicht untergegangen war, sondern erst langsam tiefer sank. Aber er konnte nicht länger warten. MaryAnn steckte in furchtbaren Schwierigkeiten. Eine Hand über den Augen, fuhr er aus dem heilenden schwarzen Erdreich auf und verwandelte sich in Dunst, während er gleichzeitig die Wolken dazu aufrief, die Sonne zu verdecken. Das dichte Blätterdach über ihm half, und trotzdem geriet er für den Bruchteil von Sekunden in die Sonnenstrahlen. Ihre Helligkeit hätte ihm jetzt eigentlich die Haut versengen und schier unerträgliche Schmerzen verursachen müssen. Er hätte mit Brandblasen übersät sein müssen, und normalerweise hätte Rauch sich mit dem Dunst vermischt, der bei seiner Verwandlung entstand – doch erstaunlicherweise taten ihm nur die Augen weh.
Er verdrängte den Schmerz und begab sich schnell wie der Blitz durch das Blätterdach zum Haus hinüber. MaryAnn! Nimm sofort Verbindung mit mir auf! Obwohl er ihr Blut in sich aufgenommen hatte und daher wusste, wo sie sich befand, hatte sie ihren Geist mit starken Barrieren abgeschirmt. Und die waren jetzt an ihrem Platz, wie eine stählerne Mauer, die er nicht durchdringen konnte. Verdammt, dachte Manolito. Wenn er durch ihre Augen sehen könnte, könnte er ihr selbst aus der Ferne helfen!
Er hatte sie mit dem Befehl zurückgelassen, einzuschlafen, aber da war etwas gewesen ... eine kleine Blockade in ihrem Geist, die er nicht zu deuten vermochte, und vielleicht hatte seine Suggestion deshalb nicht so wie beabsichtigt gewirkt. Er musste einen Weg finden, die Barriere in ihrem Kopf zu umgehen, um in ihr Bewusstsein eindringen zu können. Sie schien ihn nicht absichtlich auszuschließen, doch er konnte einfach nicht in ihren Geist gelangen. MaryAnn. Ich kann dir helfen. Lass dir von mir helfen.
Sie waren miteinander verbunden, doch irgendwie auch wieder nicht. Ihr Geist müsste ihm offenstehen, wann immer er es wollte, doch egal, wie sehr er sich bemühte, er konnte die Sperre einfach nicht durchdringen. Er war einer der ältesten Karpatianer und durchaus imstande, mächtige Wesen unter seine Kontrolle zu bringen, aber nicht seine eigene Gefährtin.
Er konnte allerdings ihre Angst um Jasmine spüren, ihre grimmige Entschlossenheit. Sie hatte auch Schmerzen, die sie jedoch verdrängte, während sie fieberhaft überlegte, wie sie Jasmine aus den Händen des Magiers befreien konnte. Manolito spürte all das und noch mehr. Er spürte auch Jasmines Emotionen durch Mary-Ann, als wäre ihre Beziehung zu der jungen Frau genauso stark wie eine Blutsverbindung zwischen Karpatianern. Entsetzen, Bedauern, die bedingungslose Entschlossenheit, entweder zu entkommen oder zu sterben – Jasmine würde sich niemals unterwerfen. Mary-Ann war sich ihres Entschlusses nur allzu gut bewusst und verdoppelte ihre Bemühungen, eine Möglichkeit zu finden, die jüngere Frau zu retten.
Da Manolito an MaryAnns Geist rührte, spürte er die zunehmende Energie in ihr, das jähe Aufwallen wilden Zorns in ihrem Hirn. Die Luft um ihn veränderte sich; ein plötzlich aufkommender Wind schüttelte ihn und schleuderte Blätter und Zweige wie Fluggeschosse durch die Luft. Blitze durchzuckten die grauen Wolken. Die Luft war wie elektrisch aufgeladen. Unter ihm brach ein Ast ab und stürzte durch das Blätterdach zu Boden. Eine unkontrollierte, unberechenbare und sehr gefährliche Macht durchpulste die Umgebung.
MaryAnns Augen verengten sich, als der Magier zu ihr herumfuhr, die verängstigte Jasmine vor sich zog und seine Finger in ihre Kehle bohrte.
»Bleib stehen, sonst bringe ich sie um.«
MaryAnn verhielt den Schritt, doch innerlich war sie so aufgewühlt vor Zorn, dass ihr Magen wie ein einziger harter Knoten war. Sie war hierhergekommen, um diesem Mädchen zu helfen, und das würde sie auch tun. Jasmine hatte genug durchgemacht, und damit war jetzt auf der Stelle Schluss. MaryAnn wünschte sich, über die magischen Kräfte eines Karpatianers zu verfügen, sich von dem starken Wind in die Luft erheben und auf einem der höchsten Baumwipfel landen zu können. Ihre Wut durchlief sie wie eine Feuersbrunst, und das Mal über ihrer Brust pochte im gleichen wilden Rhythmus wie ihr Herz. Unwillkürlich presste sie ihre Hand auf diese Stelle. Manolito. Ich kann nichts tun.
Meinte sie den Magier? Oder die Wildheit, die sich tief in ihrem Innersten entfesselte? Sie wusste es nicht. Ihre Hände und Füße schmerzten, ihre Knochen knackten, ihr Kiefer knirschte. Ihr verletztes Bein brannte wie Feuer, und ein stechender Schmerz durchlief ihren ganzen Körper, als würde er mit tausend winzigen Nadeln malträtiert. Der Wald um sie herum geriet ins Schwanken und verlor seine leuchtenden Farben, doch ihr Geruchssinn wurde geradezu unglaublich scharf. Sie konnte sogar die von dem Magier ausgehende Angst spüren. Er hielt Jasmine so unnachgiebig vor sich, als könnte ihr schlanker Körper ihn vor MaryAnn schützen.
Jasmine setzte sich heftig zur Wehr, doch die Finger des Magiers schlossen sich noch fester um ihren Hals und schnürten ihr die Luft ab. »Schluss jetzt, MaryAnn«, zischte er. »Du wirst kooperieren.« Er sprach leiernd, als belegte er sie mit einem Zauber, um sie davon abzuhalten, sich zu wehren.
MaryAnn empfand seine Worte wie einen unerträglichen Druck in ihrem Kopf. »Vergiss es!«, fauchte sie. Hör auf damit, verdammt noch mal! Sie war so wütend, dass sie ihre Hände ausstreckte und instinktiv versuchte, die von ihm ausgehende Kraft zu ihm zurückzustoßen. Denn wenn er sie mit seinem Geist angriff, konnte sie kaum etwas dagegen unternehmen. Sie wusste nichts über Magier und ihre Fähigkeiten, aber es machte sie wütend, dass er Jasmine ohne Rücksicht auf ihr Leben fast erstickte.
Der Magier stolperte, wich zurück und zog Jasmine mit, wobei er ein paarmal hustete, als hätte er irgendetwas in den Hals bekommen. Vielleicht hatten sie ja Glück, und sein dummer Zauberspruch ging nach hinten los, hinterließ einen riesigen Kloß in seiner Kehle und erschwerte ihm das Atmen.
Der Magier griff sich voller Entsetzen an den Hals, als könnte er MaryAnns Gedanken lesen. Aber wieso sollte er denken, sie könnte ihm etwas antun? Sie hatte noch ihr Pfefferspray, doch die Dose war fast leer. Und sie bezweifelte, dass die zweite voller war. Aber wenn er nicht endlich seine Hand von Jasmines Kehle nahm, würde sie ihm alle Glieder einzeln ausreißen. Bis nicht einmal mehr etwas für die Aasgeier übrig bleibt. Unwillkürlich blickte sie zum Himmel auf, und da waren sie auch schon, die Geier, zogen langsam ihre Kreise über ihnen und warteten.
Der Magier folgte ihrem Blick, sah die sich versammelnden Aasfresser und wurde sichtlich blass.
»Sie wissen, dass du ein toter Mann bist.« MaryAnn zitterte, jedoch nicht aus Furcht. Es lag vielmehr an dem Adrenalinausstoß in ihrem Körper, dem Jucken überall, dem Prickeln ihrer Kopfhaut und dem unangenehmen Gefühl ihrer Zehennägel, die plötzlich gegen die Spitzen ihrer Schuhe stießen, als wären sie ihr auf einmal viel zu klein.
Ihre Sicht verschwamm, bis sie den Magier wie durch einen gelben Dunst wahrnahm. Sie fixierte ihn mit einem scharfen Blick, damit er merkte, dass sie zu einem Kampf auf Leben und Tod bereit war, um Jasmine zu retten. »Lass sie auf der Stelle gehen!«
Und da begann sie, ihn zu spüren, den Sturm, der sich in ihr zusammenbraute und sich zu entfesseln drohte. Der Wind heulte, und grelle Blitze zuckten am Himmel auf; Donner grollte und erschütterte die Bäume. Die Luft knisterte vor Elektrizität. Winzige Funken flogen auf, und orangefarbene und gelbe Flammen flimmerten in der Luft um sie herum.
»Ihre Augen«, stieß der Magier entsetzt hervor. »Sieh dir ihre Augen an!«
Jasmine stieß ihm ihren Ellbogen in die Rippen und rief die Raubkatze in sich zu Hilfe, was sie nur sehr selten tat, aber das Tier reagierte augenblicklich und verlieh ihr ungeheure Kraft. Die Luft entwich pfeifend aus den Lungen ihres Angreifers, und er nahm die Hände von Jasmines Hals. Sie flüchtete zu MaryAnn, mit Tränen in den Augen, die ihre Sicht verschwimmen ließen. MaryAnn packte sie am Handgelenk, stieß sie hinter sich und bereitete sich auf einen Angriff vor.
Der Magier trat zwei Schritte zurück und hob wieder die Hände. Bevor er jedoch einen Zauber wirken konnte, stürzte aus den Bäumen ein dicker Ast auf ihn herab und trieb den Mann ganz tief in die weiche Erde. Jasmine schrie auf und drückte ihr Gesicht an MaryAnns Schulter.
MaryAnn schloss die Arme um das Mädchen und hielt es fest an sich gedrückt. »Wir können Solange nicht allein gegen den Jaguar kämpfen lassen«, flüsterte sie. »Ich muss zurückgehen und ihr helfen.«
Jasmine nickte zustimmend, straffte ihre schmalen Schultern und trat von MaryAnn zurück. Sie warf einen Blick auf den mächtigen Ast, der herabgefallen war und dessen Blattwerk den Magier fast vollständig bedeckte. »Glaubst du, er ist wirklich tot?«
»Das ist mir im Moment ziemlich egal«, sagte MaryAnn, verblüfft, dass das die Wahrheit war. Aber sie ergriff Jasmines Hand und begann, mit ihr zum Haus zurückzulaufen, wobei sie fieberhaft überlegte, wie sie Jasmine vor den beiden Jaguarmännern beschützen konnte, die da drinnen warteten. Sie war ziemlich sicher, dass die Raubkatze, die Sergio angegriffen hatte, Luiz gewesen war, doch wenn sie sich irrte, kämpfte Solange ganz allein um ihr Leben.
Über den schmalen Pfad, der durch den Wald führte, rannten sie zum Haus zurück. Während sie über umgestürzte Stämme und Wurzelgeflechte sprangen, begannen über ihnen Affen warnend loszuschreien. Jasmine kam schlitternd zum Stehen, legte den Kopf zurück und blickte suchend in das Blattwerk über ihnen. Hunderte von aufgeregt herumspringenden Affen warfen mit Blättern und Zweigen um sich und starrten zähnefletschend zu einer kleinen Baumgruppe neben dem Haus hinüber.
»Da ist noch einer«, flüsterte Jasmine.
»Natürlich ist da noch einer. Es wäre ja auch zu leicht, nur drei von ihnen am Hals zu haben«, erwiderte MaryAnn seufzend. »Dieser da verfolgt uns, nicht?«
»Ja«, sagte Jasmine. »Er hockt dort in dem Baum, ich kann einen Teil des Fells erkennen. Sie wollen mich lebend, und wenn wir uns trennen, verfolgen sie vielleicht nur mich.«
»Das kannst du vergessen«, sagte MaryAnn. »Wir hatten Glück mit dem Magier, und vielleicht haben wir ja noch mal Glück, aber was immer wir auch tun, wir trennen uns nicht.«
Jasmines Augen weiteten sich. »So was nennst du Glück? Ich dachte, es wäre deine hervorragende Zielgenauigkeit gewesen.«
»Das war ich nicht, Jasmine. Der Blitz hat den Ast getroffen und abgetrennt, oder der Wind hat ihn herabgerissen. Auf jeden Fall hat es uns geholfen, und das ist das Einzige, was zählt.«
Die Luft war plötzlich so elektrisch aufgeladen, dass sich ihnen die Haare sträubten. Dunkle, von hellen Blitzstrahlen durchzogene Wolken brauten sich zusammen. MaryAnn packte Jasmine, warf sie zu Boden und bedeckte ihren Körper, so gut es ging, mit ihrem. Mit einem ohrenbetäubenden Krachen schlug der Blitz in den Baum ein und zersplitterte den Stamm. Der Jaguar brüllte auf, dann trat urplötzlich wieder Stille ein, und die Luft war erfüllt von dem Geruch nach verbranntem Fleisch und Fell.
Jasmine erschauderte, und MaryAnn hielt sie noch fester. »Das war Manolito«, flüsterte sie, um das Mädchen zu beruhigen.
»Ich wusste, dass es ein Karpatianer sein musste«, gab Jasmine zu. »Ich dachte nur, es wären Riordan und Juliette.«
»Gut, dass wir jetzt Hilfe haben. Solange ist in Gefahr, Jasmine, und wir müssen sie da rausholen. Manolito wird uns helfen.«
Jasmine schluckte sichtlich und richtete sich langsam auf, als der hochgewachsene Karpatianer auf sie zukam. Die dichte Wolkendecke war hilfreich, und die Sonne ging schon unter, was ihm weitaus mehr Bewegungsfreiheit ließ. Er sah aus wie ein Krieger aus alten Zeiten, der sich leichtfüßig durch Rauch und Trümmer eines Schlachtfeldes bewegte. Sein Gesicht war grimmig und wie aus Stein gemeißelt, sein Haar so lang, dass es ihm bis weit über die Schultern reichte. Ausgeprägte Muskeln spielten unter seiner goldbraunen Haut, und seine eiskalten Augen waren schwarz und düster und enthielten zu viele Geheimnisse.
Sein Blick glitt achtlos an Jasmine vorbei zu MaryAnn, und Wärme vertrieb das Eis aus seinen Augen, als sie sich umdrehte und setzte, um zu ihm aufzuschauen. Ohne auch nur den Schritt zu verhalten, bückte er sich, um sie aufzuheben, während er gleichzeitig Jasmines Arm ergriff und auch sie vom Boden hochzog. Seine Finger auf Jasmines Haut waren unpersönlich, er sah sie nicht einmal an, oder jedenfalls nur kurz, um sicherzugehen, dass ihr nichts geschehen war. Sein Blick registrierte die Würgemale an ihrem Hals, aber dann wandte er sich gleich wieder MaryAnn zu, um sie weitaus gründlicher in Augenschein zu nehmen.
Behutsam strich er mit den Fingerspitzen über ihre Haut, nahm deren Wärme und Weichheit in sich auf und konnte nun endlich wieder atmen, da er sie am Leben wusste. Jäher Zorn trat allerdings in seine Augen, als er die klaffenden Wunden an ihrem Bein bemerkte.
»MaryAnn«, sagte er leise und zärtlich. Es war nur ein einziger Laut, doch er machte ein Gedicht daraus, als wäre sie einfach alles für ihn.
Sie versuchte, nicht darauf zu reagieren. Aber er war einfach so gefühlsbetont, dass es schwierig war, seine absolute Konzentration auf sie zu ignorieren. Sie verdrängte den brennenden Schmerz in ihrem Bein und rang sich ein Lächeln ab. »Danke, dass du so schnell gekommen bist. Solange ist im Haus und kämpft mit zwei weiteren Jaguarmännern. Ich glaube, Luiz ist auch hier und versucht zu helfen.«
Manolito bückte sich, um die tiefen Kratzwunden an ihren Beinen zu untersuchen. Aber MaryAnn nahm seinen Arm und zog daran. »Du musst ihr helfen.«
»Ich kann dich in diesem Zustand nicht allein lassen.«
»Das brauchst du auch nicht, denn ich komme mit.« MaryAnn dachte nicht daran, mit ihm zu debattieren, als sie sah, wie er die Lippen zusammenpresste. Und deshalb ging sie einfach nur an ihm vorbei und begann, in Richtung Haus zu humpeln, überzeugt, dass er ihr folgen würde.
Manolito aber hob sie auf und rannte los, drückte sie an seine Brust, während er mit erstaunlicher Geschwindigkeit die Entfernung zum Haus überwand. Im letzten Moment setzte er sie ab, löste sich in Dunst auf und ließ MaryAnn vor der Tür stehen, als er darunter hindurchglitt.
Überall waren Blut und Fell, umgestürzte Möbel, zerbrochenes Glas und zersplitterte Stühle. Ein Jaguarweibchen lag auf der Seite, ihr Fell ganz dunkel von Blut und Speichel. Sie rang nach Atem, und bei jeder ihrer Bewegungen schoss ein Blutstrahl in die Luft. Trotzdem versuchte sie tapfer, einem männlichen Jaguar zu Hilfe zu kommen, der mit zwei anderen kämpfte. Er stand in einer Ecke, übersät mit Kratzspuren und Bisswunden, aber er war zu schnell, um niedergeworfen zu werden, und eins der anderen männlichen Tiere war fast blind von den Verätzungen in seinen Augen.
Als Manolito hereinkam, sprang Sergio vor, packte Luiz an der Kehle und schlug ihm seine starken Fänge in den Hals. Der andere Jaguar fiel Luiz von hinten an, doch bevor er landen konnte, hatte der Vampirjäger ihn schon um den Hals gepackt und zerrte ihn von Luiz weg. Manolitos Gesicht war hart und gnadenlos, seine Augen völlig ausdruckslos, als er dem Jaguarmann das Genick brach und das Tier zusammenbrach und leblos auf dem Boden liegen blieb.
Manolito hob den Kopf und sah Sergio an. Als der den Tod in den schwarzen Augen des Karpatianers sah, ließ er Luiz fallen, sprang mit einem Satz gegen die Tür, die unter seinem Gewicht zusammenkrachte, und flüchtete in den Dschungel.
Jasmine, die MaryAnn und Manolito blitzschnell gefolgt war, konnte gerade noch zur Seite springen, als er durch die Tür geflogen kam. Sie stand mit MaryAnn im Eingang und stützte sie nun mit einem Arm um ihre Taille, als sie das Haus betraten. Sie stieß jedoch einen Schrei aus, als sie Solange sah, und rannte zu ihr, ließ sich neben ihr auf die Knie fallen und drückte ihre Hand auf die heftig blutende Wunde. »Tut etwas! Sie stirbt!«
Manolito ging schon in Richtung Tür, um Sergio zu folgen, doch Jasmines Schrei hielt ihn zurück, und er drehte sich wieder um. Der Geruch von Blut war überall und löste nicht nur den unvermeidlichen Hunger, sondern auch sehr starke Aggressionen in ihm aus.
»MaryAnn, setz dich, bevor du hinfällst. Ich helfe dir gleich. Lass mich nur Solanges Wunden untersuchen und sehen, was ich tun kann.«
»Wo ist Juliette ?«, fragte Jasmine. »Ich dachte, sie würde kommen.«
»Ich weiß es nicht, aber sie werden uns schon zu Hilfe eilen«, sagte Manolito, als er sich neben das Jaguarweibchen kniete und vorsichtig die Hände über die zitternde Katze gleiten ließ.
Solange fletschte die Zähne und wandte ihren Kopf ab. Diese Anstrengung kostete sie ihre letzte Kraft, und ein Schwall von Blut ergoss sich aus der Wunde an ihrem Hals.
»Kannst du irgendetwas tun?«, fragte Jasmine besorgt.
»Ich müsste ihre Wunden verschließen und ihr mein Blut geben. Aber sie wehrt sich ja sogar gegen meine Berührung, von meinem Blut ganz zu schweigen.« Manolito schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, aber ich kann nichts für sie tun.«
»Solange!« Jasmine legte sich neben die große Katze. »Bitte. Lass mich nicht allein. Lass dir von ihm helfen.«
Manolito seufzte. »Sie denkt, sie hätte keinen Grund mehr zu leben, dass ihre Zeit im Regenwald vorüber ist. Sie kann sich nirgendwo anders anpassen, und sie will kein karpatianisches Blut.«
Es wurde kalt im Raum, und die Wände bebten förmlich von hereinfließender Macht. MaryAnn ließ sich neben Luiz auf den Boden sinken und versuchte, das austretende Blut mit ihren Händen aufzuhalten. Es war überall, und der Jaguar lag so reglos da, als wäre er schon tot.
Manolito. Hör mir jetzt gut zu.
MaryAnn konnte die Stimme deutlich hören. Sie war hart, befehlsgewohnt und duldete keinen Widerspruch. Heile sie und gib ihr Blut. Riordans Gefährtin ist außer sich. Wir können keine andere Entscheidung treffen.
MaryAnn spürte eine Aura von Gefahr, eine Kraft und Intelligenz, die ihr noch nie begegnet waren und die sie auch gar nicht kennenlernen wollte. Sie ertappte sich dabei, dass sie den Atem anhielt, als sie Manolito beobachtete. Er schien völlig unberührt von dieser ungeheuren Macht zu sein und zuckte nur die breiten Schultern.
Zacarias hat mir einen Befehl erteilt, und ich werde ihn ausführen. Er drang so jäh und unerwartet in Solanges Bewusstsein ein, dass ihr keine Zeit blieb, eine Barriere zu errichten.
Wer ist er? MaryAnn dachte die Frage eher, als sie Manolito zu übermitteln, doch zu ihrer Überraschung stellte sie eine Verbindung zu ihm her.
Nun sprichst du endlich mit mir wie eine Gefährtin. Du brauchst nicht Luiz' Fell zu streicheln. Er stirbt. Ein unüberhörbarer Vorwurf schwang in seiner Stimme mit.
MaryAnn hörte das tödliche Rasseln in der Kehle des Jaguars. »Er wird nicht sterben. Weil du ihn nämlich retten wirst.«
Absolute Überzeugung schwang in ihrer Stimme mit. Und Vertrauen. Als Manolito ihr einen raschen Blick zuwarf, schimmerten ihre Augen von einer Gefühlsregung, die sein Herz zerfließen ließ. Er konnte sich nicht erinnern, dass irgendjemand ihn jemals so angesehen hatte, nicht ein einziges Mal in all den langen Jahrhunderten seiner Existenz. Er wollte, dass sie stolz auf ihn war; dieser Blick sollte ihm bis in alle Ewigkeit in Erinnerung bleiben.
»Dann erhalte ihn am Leben«, sagte er. »Bring ihn mit deiner Willenskraft dazu zu leben. Du scheinst ja fast jeden dazu bringen zu können, sich deinem Willen zu unterwerfen.«
MaryAnn warf ihm ein entschlossenes kleines Lächeln zu. Ihr Bein schmerzte so sehr, dass es ihr verlockend erschien, in Ohnmacht zu fallen, doch als sie das Gemetzel um sich herum betrachtete, beschloss sie, dass ihre Wunden im Vergleich dazu beinahe bedeutungslos waren. Manolito musste Solange heilen und dann Luiz und schließlich auch ihr Bein. Aber er war gerade erst aufgestanden, und sie wusste, dass Karpatianer beim Erwachen hungrig waren. Sie benötigten Blut, um ihre Energie zum Heilen einzusetzen. »Ich schaffe das schon. Tu, was du tun musst.«
Manolito wandte sich wieder Solange zu. Sie kämpfte gegen seine Anwesenheit in ihrem Bewusstsein an und versuchte, ihn abzuschütteln, war aber viel zu schwach dazu. Er hielt sie auf der Erde fest und ließ ihren Geist nicht entschwinden, als er seinen eigenen Körper verließ und in den ihren eintrat. Er war einer der ältesten und mächtigsten Karpatianer, doch wenn sie nicht so schwer verwundet gewesen wäre, hätte er vielleicht zu einer gefährlichen und brutalen Methode greifen müssen, um ihren Geist mit seinem zu beherrschen. Sie hatte einen eisernen Willen und kämpfte verbissen, um ihn von sich fernzuhalten.
Zuerst dachte er, es sei ihr generelles Misstrauen gegenüber Männern, als er dann aber seinen Geist mit ihrem verschmolz, sah er, dass es Furcht davor war, Juliette und Jasmine könnten erkennen, dass Solange ein Killer war – einer, für den es weder Rettung noch Hoffnung gab. Sie sah für sich keine andere Art zu leben mehr. Sie glaubte nicht, damit aufhören zu können. Irgendwo, irgendwann hatte sie eine Grenze überschritten, von der es kein Zurück mehr gab.
Und dann spürte er auf einmal eine sanfte Wärme in Solanges Bewusstsein eindringen. Er erkannte sogleich MaryAnns Berührung, so federleicht, als wäre sie fast nicht da, aber ruhig und tröstlich; ein Gefühl des Friedens und der Hoffnung, das Solange in ihre Wärme einhüllte und ihr den Glauben vermittelte, dass das Leben gut und voller Schönheit, Abenteuer und Liebe war.
Er vergaß fast, wo er war und was er tat, so sehr bewunderte er diese Frau, die die Gefährtin seines Lebens war. Sie verschmolz so glatt, so nahtlos mit Solange, dass diese unmöglich wissen konnte, dass auch MaryAnn in ihr Bewusstsein eingedrungen war. Er hätte es selbst nicht gemerkt, wenn er nicht Blut mit ihr getauscht hätte, so leicht war ihre Berührung, aber sie erfüllte Solanges Geist mit Hoffnung und Vertrauen. Unter MaryAnns Einfluss wurde Solange entgegenkommender und entspannte sich in diesem beruhigenden Kokon aus Wärme. Es war nicht leicht, diese tröstlichen Schwingungen zu verlassen und Solanges zerfetzte, blutende Organe ausfindig zu machen, um sie von innen heraus zu heilen.
Nur widerstrebend ließ Manolito seinen Geist durch den Körper der großen Katze reisen. Sergio hatte Solange nicht töten wollen, doch sie hatte hart gekämpft, und als der zweite Jaguar sie angegriffen hatte, war dieser nicht so vorsichtig gewesen. Solanges Hauptschlagader war fast vollständig zerfetzt, der Körper des Jaguarweibchens schon voller Blut. Manolito wusste, was das bedeutete und was unternommen werden musste, um ihr Leben zu retten. Er löste sich von allem, was er war, und wurde zu heilender Energie, schloss jede Wunde so schnell wie möglich und verließ sich darauf, dass seine Gefährtin Solange ruhighielt.
MaryAnn hielt den Kopf des männlichen Jaguars in ihrem Schoß, streichelte sein blutbeflecktes Fell und flüsterte ihm sanfte Worte zu, um ihn bei sich zu behalten. Er rang nach Atem, und seine Lungen füllten sich mit Blut. MaryAnn sprach auch mit Solange, aus Angst, dass sie Manolito die Kehle herausreißen würde, falls sie die Verbindung zu ihr unterbrach. Es war eine beängstigende Situation, zwei Menschen am Rande des Todes und niemand außer Manolito da, um sie zu retten. Jasmine drückte Handtücher auf Solanges Wunden und flüsterte ihr unter Tränen liebevolle Worte zu, aus Angst, sie zu verlieren.
Bleib bei uns, Solange. MaryAnn betete im Stillen und versuchte, die andere Frau zu erreichen, um ihr zu vermitteln, dass ihr Leben besser werden konnte – besser werden würde –, ganz gleich, wie düster ihr im Moment alles erschien. MaryAnn würde es sich zu ihrer Lebensaufgabe machen, Solange und Jasmin zu helfen, nach all den Opfern, die die beiden gebracht hatten, um Frauen zu retten und sie an einen sicheren Ort zu bringen.
Luiz starb. Sie konnte sein Leben entweichen und das Licht in seinen Augen erlöschen sehen, und sie konnte nichts anderes tun, als hilflos zuzusehen. MaryAnn versuchte mit all ihrer Willenskraft, ihn zum Leben zu bewegen, so wie sie Solange dazu brachte, Hoffnung zu fassen und eine Zukunft für sich zu sehen, aber sie war außerstande, wie Manolito Verletzungen von innen heraus zu heilen. Wie löste man sich von allem, was man war, und wurde zu einem Instrument der Heilung? MaryAnn hatte Manolito sein Leben für eine Frau und ihr ungeborenes Kind aufgeben sehen. Sie hatte gehört, dass er eine Narbe um den Hals hatte – obwohl Karpatianer nur selten Narben zurückbehielten –, weil er seinen Prinzen gerettet hatte. Und jetzt schaffte er es wieder, alles loszulassen, was er war, um ein Leben zu retten.
Nur wenige konnten eine Ahnung davon haben, was das wirklich hieß, doch sie war bei ihm, war eng mit ihm verbunden und erkannte daher ganz genau, was aufgegeben werden musste, um nur noch Geist zu sein. Der Körper war dann verwundbar für alle Angriffe, das ja, aber darüber hinaus hatte Manolito auch seine Persönlichkeit abgelegt, sein Ich, seine Hoffnungen und Träume, seine eigenen Bedürfnisse, alles. Und er hatte es aus freien Stücken und ohne lange zu überlegen getan.
Sie war in seinem Geist gewesen, als er bedenkenlos sein ganzes Wesen abgelegt hatte, um Solange zu retten. MaryAnn konnte nicht umhin, ihn zu bewundern. Manolito war eine starke Persönlichkeit mit festen Vorstellungen davon, wie Frauen zu sein hatten, und dennoch hatte er sie – und sich selbst – zurückgestellt, um zu helfen. Was für einen wunderbaren Charakter verbarg er hinter seiner Arroganz! Und hatte seine dominante Art Frauen gegenüber vielleicht wirklich etwas mit Beschützerinstinkt zu tun? Auf jeden Fall achteten und schätzten die Karpatianer ihre Frauen und Kinder. Ausnahmslos. Dass Shea Jacques' Gefährtin war, hatte keine Rolle gespielt, als Manolito sich zwischen sie und den tödlichen Messerstich geworfen und ihn selbst abbekommen hatte.
Stirb nicht, Luiz. Halte aus, bis er dir helfen kann. Manolito wird dir das Leben retten. MaryAnn war sich dessen völlig sicher. Sie war in seinem Kopf und konnte seine Entschlossenheit sehen, Solange am Leben zu erhalten. Er war so konzentriert, so vollkommen in seine Arbeit versunken, dass er an nichts anderes mehr dachte. Sie sah die Güte in ihm, die ihr vielleicht entgangen wäre, wenn sie nicht durch den Blutaustausch mit ihm verbunden wäre, und erlaubte sich zum ersten Mal, diesen Austausch als etwas Positives zu betrachten. Sie hätte den herrischen Karpatianer abgelehnt, wenn sie nicht seine andere, viel weichere Seite kennen würde.
Mit sanften, langsamen Bewegungen streichelte sie Luiz' Fell, während sie Manolitos Gesicht betrachtete. Die Zeit schien stillzustehen, und alles um sie herum verblasste, bis es nur noch Manolito gab und seine dunklen Augen, die von bemerkenswert langen Wimpern beschattet wurden. Sie hätten die Augen einer Frau sein können, wenn sein Gesicht nicht viel zu maskulin gewesen wäre mit seinem starken Kinn und der geraden Nase. Sie spürte jeden seiner Atemzüge in ihrem eigenen Körper, genau wie seinen Herzschlag, der stark und ruhig war. Ihr Herz und Manolitos, Luiz' und Solanges, sie alle waren durch einen einzigen Mann verbunden. Durch einen einzigartigen, bewundernswerten Mann.
Schwankend vor Erschöpfung, zog Manolito sich aus Solanges Körper zurück und suchte den Blick seiner Gefährtin. Sie hatte sie alle miteinander verbunden gehalten und ihre Kraft und ihren unerschütterlichen Glauben an das Leben mit ihnen geteilt. Den Glauben an Liebe und Zusammengehörigkeit. Solange lebte nur, weil MaryAnn ihr einen Grund gegeben hatte, nicht aufzugeben. Luiz lebte noch, weil sie ihn auf der Erde festhielt und nicht einmal daran dachte, ihn gehen zu lassen.
Und sie glaubte, all das sei nur sein Werk! Manolito wusste nicht, ob er lachen oder vor Rührung weinen sollte. Er musste Solange Blut geben, und es würde Kraft erfordern, sie dazu zu zwingen, es anzunehmen. Er war jetzt schon völlig ausgehungert, und die Farben um ihn herum verblassten zu viel dumpferen Tönen, als könnte er seinen Geist nicht daran hindern, ins Reich der Schatten zurückzukehren.
MaryAnns Blick suchte seinen, und für einen Moment vermochte er sich weder zu bewegen noch zu atmen. Sie durfte niemals aufhören, ihn so anzusehen. Das Vertrauen und der Glaube, die absolute Zuversicht in ihren Augen waren ein Geschenk, das er nie vergessen würde. Die Schatten zogen sich zurück. »Ich muss Solange mit Blut versorgen. Versuch mal, ob du sie dazu bringen kannst, es anzunehmen. Es wird ihre Heilung beschleunigen und sie stärken. Ich werde kein Blut mit ihr austauschen, sondern ihr nur genug zum Überleben geben.«
Er klang so müde. Tiefe Furchen hatten sich in sein Gesicht gegraben. MaryAnn wollte ihn in die Arme schließen und ihn halten, trösten und ihm geben, was immer er auch brauchte, um in seinem Tun fortfahren zu können. Sie spürte die grimmige Entschlossenheit in ihm.
»Beeil dich, Manolito. Ich weiß, dass du müde bist, aber Luiz hält nicht mehr lange durch.«
Manolitos Blick glitt zu ihrer Hand, die Luiz' Kopf streichelte, und für einen Moment lang wurde er von wilder Eifersucht erfasst. Die Schatten rückten wieder näher. Wie aus weiter Ferne hörte er Stimmen nach ihm rufen. Komm zu uns. Komm zu uns. Erschüttert rührte Manolito an MaryAnns Geist und stellte augenblicklich fest, dass ihre Finger seinen Kopf streichelten; nur er war es, dem ihre Gedanken galten. Er schenkte ihr ein schnelles, kleines Lächeln, bevor er sein Handgelenk aufschlitzte und Solange zwang, sein Blut zu trinken.
Jasmine stieß einen erschrockenen kleinen Seufzer aus und wandte den Kopf ab.
»Schon gut, kleine Schwester. Sie wird nichts anders werden. Sobald sie genug von meinem Blut in ihrem hat, wird sie überleben und wieder stark wie immer sein«, beruhigte Manolito sie mit sanfter Stimme.
»Das weiß ich, Manolito. Mir ist nur ein bisschen schlecht. Danke, dass du das für sie tust. Es ist bestimmt nicht leicht. Sie mag dir vielleicht keine Anerkennung zeigen, doch das einzig Wichtige ist, dass du ihr hilfst«, erwiderte Jasmine.
»Ich brauche ihre Anerkennung nicht. Sie steht unter dem Schutz der Familie, genau wie du, kleine Schwester, und wir würden sie niemals sterben lassen, solange wir sie retten können.«
Manolito blieb völlig ruhig und sachlich, ohne auch nur daran zu denken, was ihn das alles kosten würde. Das Einzige, was ihn beunruhigte, war der Preis, den seine Gefährtin zahlen würde. Sie würde ihn mit Blut versorgen müssen, und das kindliche Vertrauen, das er in ihren Augen las, würde dann vielleicht für alle Zeit verblassen. Doch er durfte nicht zögern, seine Pflicht zu tun, nur um sein eigenes Leben einfacher zu machen.
Solange war ein Familienmitglied, das es zu behüten und zu beschützen galt, ob sie das nun wollte oder nicht. Nach diesem Fiasko würde Zacarias verfügen, dass die Frauen immer und unter allen Umständen zu gehorchen hatten. Manolito wollte sie alle in der Nähe haben, wo die Brüder De La Cruz und ihre Leute sie beschützen konnten.
Er schloss selbst die Wunde an seinem Handgelenk und wandte seine Aufmerksamkeit Luiz zu. Diesmal war es ein bisschen mühsamer, seinen Körper zu verlassen, da sein Hunger sich zu einem beängstigenden Grad gesteigert hatte. Er konnte seine Zähne kaum noch unter Kontrolle halten, und der allgegenwärtige Geruch von Blut war eine beständige Qual für ihn. Der Körper des Jaguarmannes war zerfetzt bis auf die Knochen. Seine Lungen füllten sich mit Blut, sodass er langsam, aber sicher starb. Selbst wenn Manolito die Schäden reparierte und Luiz Blut gab, würde er ihn nicht retten können.
Er kehrte in seinen eigenen Körper zurück und schüttelte bedauernd den Kopf. Er mochte und respektierte Luiz. »Tut mir leid, päläfertiil, ich kann ihn nicht mehr retten. Das ist ein großer Verlust für die Jaguarmenschen.«
»Natürlich kannst du ihn retten! Ich habe lange mit Gabrielle gesprochen, als ich in den Karpaten war. Erinnerst du dich an sie? Sie arbeitete für den Prinzen, um eine Lösung für so viele Totgeburten zu finden. Sie war ein Mensch. Als ihre Verletzungen einmal so ernsthaft waren, dass sie daran gestorben wäre, rettete einer der Männer ihr das Leben, indem er sie verwandelte. Du hättest Solange verwandelt, wenn es nötig gewesen wäre. Das konnte ich in deinem Bewusstsein lesen.«
»Das war etwas anderes.« Manolito war so schwach, dass er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Er blinzelte ein paarmal, um sich zu sammeln, doch seine Sicht verschwamm, und auch die Farben wurden wieder trüber.
»Wieso ist das etwas anderes? Wenn Luiz ein Jaguarmensch ist, muss er übersinnliche Kräfte haben. Ist die Jaguar-Spezies nicht die Quelle vieler übersinnlicher Begabungen?«
»Du verstehst das nicht.«
»Was ich verstehe, ist, dass du Himmel und Erde in Bewegung setzen würdest, um sein Leben zu retten, wenn Luiz eine Frau mit übersinnlichen Fähigkeiten wäre. Aber da er ein Mann ist, ist er dir nichts wert.«
Der Jaguar drückte seine Schnauze an MaryAnns Hand. Es ist schon gut. Ich bin müde.
»Nein«, sagte Jasmine plötzlich. »Hilf ihm. Er hat Solange gerettet. Wenn er nicht gekommen wäre, wäre sie jetzt tot, oder diese schrecklichen Männer hätten sie in ihrer Gewalt. Bitte. Wenn du mein Bruder bist, wie du sagst, musst du mir diesen Gefallen tun.«
Manolito schloss für einen Moment die Augen. »Du kennst das Herz dieses Mannes nicht.«
»Aber du«, sagte MaryAnn. »Du hast den Vampir aus seinem Kopf vertrieben. Du hast seine Erinnerungen gesehen und weißt, wie er früher war. Ist er es wert, gerettet zu werden?«