11. Kapitel
Du weißt nicht, was du da für ihn verlangst, MaryAnn. Langlebigkeit ist nicht immer etwas Gutes. Das Leben eines Karpatianers ist äußerst schwierig. Vielleicht verlangst du etwas, was Luiz gar nicht will.«
»Dann frag ihn. Lass ihn nicht einfach sterben, nur weil er ein Mann ist.«
Manolito seufzte. Sie hatte nicht ganz unrecht, aber andererseits hatte sie auch keine Ahnung, wie es für einen karpatianischen Mann war zu wissen, wie gering seine Chancen waren, eine Gefährtin zu finden. Sie hatte nicht Jahrhunderte allein gelebt.
»Ich werde vorher Nahrung aufnehmen müssen, MaryAnn. Seid ihr beide bereit, mich darin zu unterstützen ? Denn ohne Blut bin ich nicht mehr in der Lage, Luiz zu helfen.« Er kam um vor Hunger, und die Welt um ihn verblasste immer mehr. Er selbst verblasste. Als er auf seine Händen blickte, waren sie grau und schon fast durchsichtig.
MaryAnn schaute in Manolitos glitzernde Augen, sah die winzigen roten Flammen darin und spürte, wie ihr Herzschlag stockte. Sie vergaß immer wieder, dass er nicht menschlich war. Nach kurzem Zögern atmete sie tief ein und nickte.
Manolito wandte seine Aufmerksamkeit Jasmine zu. Das Mädchen saß auf dem Boden und streichelte das gefleckte Fell des Jaguarweibchens, mehr, um sich selbst zu trösten, als um Solange zu beruhigen. »Ich denke schon, dass ich das kann«, erklärte sie, ohne Manolito anzusehen. »Sag mir, was ich tun soll.«
»Gib mir deine Hand.«
Langsam streckte Jasmine den Arm aus, und Manolitos Finger schlossen sich wie eine Klammer um ihr Handgelenk. In seinem Kopf begann das Wispern. Leise. Heimtückisch. Dunkle, heiße Versuchung beschlich ihn.
Jasmine schnappte plötzlich nach Luft und versuchte, sich ihm zu entziehen. »Warte. Moment! Ich habe vergessen, dir zu sagen, dass ich schwanger bin. Wird das meinem Baby schaden?«
Manolito ließ ihre Hand fallen, als hätte er sich daran verbrannt. Seine Augen wurden schwarz wie Obsidian, seine Lippen pressten sich zu einer schmalen, unnachgiebigen Linie zusammen. »Du hast kein Recht, Blut zu spenden oder Jaguare zu bekämpfen. Ich werde dein Blut nicht nehmen. Du musst das Kind sehr gut behüten.«
Bevor Jasmine etwas erwidern konnte, entrang sich Luiz ein Röcheln, und seine Knochen knackten, und sein Körper verrenkte sich, als der Tod nach ihm griff und der Jaguarmann wieder seine menschliche Gestalt annahm.
Mit einem entsetzten Aufschrei kniete MaryAnn sich hin und legte ihr Ohr an seine breite Brust, um zu sehen, ob sein Herz noch schlug. Sie begann sogleich mit Wiederbelebungsversuchen. »Tu etwas, Manolito! Du kannst ihn nicht einfach sterben lassen.«
Sie hatte keine Ahnung, was sie da verlangte. Die andere Welt war schon so nah. Er war ausgehungert. Müde. Schatten bewegten sich überall durch den Raum. MaryAnn sah ihn mit ihren großen, dunklen Augen unverzagt an. Sie vertraute so sehr auf ihn. Mehr, als er sich selbst vertraute mit dem Gewisper im Hintergrund seines Bewusstseins und seinem eigenen, immer mehr dahinschwindenden Körper. Er blinzelte ein paarmal und zwang sich, sich auf seine Aufgabe zu konzentrieren.
Hör mir zu, Jaguarmann. Ich kann einen Karpatianer aus dir machen. Du wirst nie wieder ein Jaguar sein, doch du wirst leben und dich verwandeln können. Aber du sollst wissen, dass dieses Geschenk nicht unbedingt ein positives ist. Wenn du die andere Hälfte deiner Seele nicht findest, wirst du irgendwann deine Emotionen verlieren, keine Farben mehr sehen und nur noch von Erinnerungen leben. Du wirst Blut zum Leben brauchen. Du wirst dich nach den Gesetzen unseres Prinzen richten und ihm und unserem Volk deine Treue und Unterstützung, ja sogar dein Leben verpflichten müssen. Ich werde dein Leben in meinen Händen halten. Ich werde deinen Geist anrühren können, wann immer ich es will, und dich finden, wo immer du auch sein magst. Solltest du uns verraten, werde ich dich erbarmungslos und so schnell wie möglich töten. Du hast die Wahl, an einen anderen Ort zu gehen und Frieden zu suchen oder in dieser Welt zu bleiben und deinen Kampf fortzusetzen.
Das hier war keine Kleinigkeit. Manolito würde für immer für alles verantwortlich sein, was Luiz tat. Das war eine Verpflichtung, die nur wenige Karpatianer zu übernehmen bereit waren. Sie kannten die Gefahren und wussten, wie es war, frühere Freunde jagen und töten zu müssen. Er erlaubte Luiz einen Einblick in seine Erinnerungen, in diesen scheinbar endlos langen Korridor der Finsternis. Es gab keinen Weg, dem Jaguarmann zu beschreiben, wie es sein würde; er konnte ihm nur die dahinschwindenden Emotionen zeigen, die Jahrhunderte des Jagens und des Wartens, in denen ihn, Manolito, allein seine Ehre aufrechterhalten hatte, und schließlich die Erinnerungen an seine Ehre. Er war so aufrichtig, wie er nur konnte.
Ich habe meinen Kampf um die Rettung meiner Leute noch nicht beendet.
Luiz war weit entfernt, aber er klammerte sich ans Leben. Es war seltsam, doch je weiter sich Luiz' Geist zurückzog, desto klarer wurde die Schattenwelt um Manolito. Die Stimmen wurden lauter, und im Zimmer wurde es ganz still. Schatten mit pergamentartiger Haut und weit aufgerissenen Mündern voller scharfer Zähne schlitterten über die Wände und den Boden. Hunger brannte und tobte in Manolito und fraß an jeder Faser seines Körpers. Er fühlte sich seltsam dünn und schwach und unerträglich angespannt.
Dennoch versuchte er mit aller Macht, sich ausschließlich auf Luiz zu konzentrieren. Die Jaguarmenschen werden nicht länger deine Leute sein, weil du karpatianisches Blut in deinen Adern haben wirst. Jaguare werden dir aus dem Weg gehen. Du musst dir ganz sicher sein, dass du verstehst, warauf du dich einlässt, bevor du deine Entscheidung triffst.
Ich kann nicht zulassen, dass die Vampire sich weiter meiner Leute bemächtigen, ob mein Blut nun karpatianisch, menschlich oder das eines Jaguarmannes ist. Letztendlich sind wir alle gleich. Wir versuchen, uns ein Leben aufzubauen und es gut zuführen. Ich entscheide mich für das Leben.
Es wird schmerzhaft sein. Sehr schmerzhaft.
Und MaryAnn würde Zeuge sein. Wie könnte es sie nicht zu Tode erschrecken, das mit anzusehen? Alles in Manolito drängte ihn, aufzugeben, seine Gefährtin zu nehmen und zu verschwinden, doch das war ihm nicht mehr möglich, nachdem er so tief in Luiz' Bewusstsein eingedrungen war und wusste, was für eine Art von Mann er war und wie hart er darum gekämpft hatte, seine Artgenossen zu retten und ihren Frauen ein besseres Leben zu ermöglichen. Manolito konnte ihn nicht lamti ból jüti, kinta, ja szelem, dem Reich der Finsternis, des Nebels und der Geister, überlassen, und er konnte auch nicht viel länger warten, oder der Mann würde ein Reisender zwischen zwei Welten sein, wie Manolito selbst einer zu sein schien.
Ich entscheide mich für das Leben.
Manolito legte eine Hand auf MaryAnns Schulter, um sie von ihren Wiederbelebungsversuchen abzuhalten. Dann übernahm er das selbst mit seinem Geist, hielt Luiz' Herz am Schlagen und sandte Luft in seine Lungen. »Ich schaffe das nicht ohne Blut«, sagte er leise.
MaryAnn konnte sehen, dass Manolito so schwach und blass geworden war, dass seine Haut fast grau aussah. Er schwankte vor Erschöpfung. Es war etwas Furchterregendes, ihren Arm auszustrecken und ihm ihr Handgelenk zu reichen, aber sie vertraute ihm; trotz der roten Flammen in den Tiefen seiner schwarzen Augen vertraute sie ihm bedenkenlos ihr Leben an.
Ohne ihre Hand zu beachten, schlang er einen Arm um sie und zog sie an sich. »Ich könnte dir niemals wehtun, sivamet.«
Die Art, wie er das letzte Wort aussprach, war ungeheuer sinnlich und verführerisch. Aber vor allem erkannte sie die Bedeutung dieses Worts in seinem Geist. Meine Liebste. War sie seine Liebste? Empfand er schon mehr für sie als sinnliches Verlangen? Da sie in seinem Geist gewesen war, erkannte sie, dass das Teilen von Erinnerungen und die Unfähigkeit, etwas voreinander zu verbergen, ihre Beziehung unendlich viel intimer machte, als sie es sich jemals hätte vorstellen können. Falls er sie umwarb, dann machte er das sehr gut, indem er einfach nur er selbst war.
Sie umarmte ihn zärtlich und drückte ihr Gesicht an seinen Hals. Er hob ihr Kinn ein wenig an, suchte ihren Blick und ließ ihn nicht mehr los, bis sie wie hypnotisiert war und verloren in den dunklen Tiefen seiner Augen. In der Verlockung unverhohlenen Verlangens und hemmungsloser sinnlicher Begierde.
Er versuchte nie, seine Gefühle für sie zu verschleiern oder herunterzuspielen. MaryAnn stockte der Atem, und ihr Herz schien förmlich zu zerfließen, als ihr Magen sich verkrampfte und ein fast schmerzhaftes Pulsieren zwischen ihren Schenkeln erwachte.
Dieser Mann könnte ihr gehören – er gehörte ihr, obwohl sie keinen Anspruch auf ihn erhoben hatte, so wie er auf sie. Sie wusste ja nicht einmal, ob sie damit leben könnte, was und wer er war, aber sie bewunderte und respektierte ihn. Doch sie konnte auch den Hunger in ihm spüren. Die Erschöpfung. Er schwankte zwischen zwei Welten, und in ihrer zu bleiben, zehrte an seinen Kräften. Sein Pflichtbewusstsein Solange und auch ihr selbst gegenüber hatte ihn nur noch zusätzlich belastet.
»Nimm dir, was du brauchst«, flüsterte sie an seinen Lippen.
Oh, süße Versuchung. Himmel, in was für eine Versuchung sie ihn brachte, ohne es zu wollen! Wie rauer Samt glitt seine Zunge über ihren aufgeregt pochenden Puls. Sie fühlte sich in seinen Armen wie warme, lebendig gewordene Seide an. Niemand hatte zartere Haut. Seine Emotionen waren so lange in ihm erstarrt gewesen, so tief in ihm vergraben, dass er gedacht hatte, es sei unmöglich, das Vergnügen mit allen Sinnen wahrzunehmen, das der Körper einer Frau dem eines Mannes schenken konnte. Doch ihre Berührung, der Klang ihrer Stimme, ja sogar ihr Atem hatten ihn erweckt. Sie hatte ihm das Leben zurückgegeben. Er wollte sie bis ans Ende aller Tage bei sich haben und dafür sorgen, dass sie jederzeit an seiner Seite war.
Oh, süße Versuchung. Jetzt wusste er, wie sie sich anfühlte und wie sie schmeckte. Und dass sie die personifizierte Versuchung war und er seine ganze Willenskraft aufbieten musste, um sie nicht schnellstens von hier weg an einen Ort zu bringen, wo er mit ihr allein sein konnte.
Seine Zähne gruben sich tief in ihre Haut, und ihr Geschmack und ihre Lebenskraft strömten aus ihr in ihn hinein und durchfluteten sein Herz und seinen Körper und erfüllten seinen Mund mit ihrem sinnlichen, so unverwechselbaren Geschmack. Er umarmte sie noch fester und schloss die Augen, um ihre Essenz noch besser auskosten zu können. Dabei ließ er langsam eine Hand über ihren wohlgeformten Körper zu ihrem Bein hinuntergleiten. Sie hatte sich in seine Arme gekuschelt, sodass ihre Beine auf seinem Schoß lagen und er mühelos die feuchte Hitze zwischen ihren Schenkeln finden konnte.
Niemand, weder Frau noch Mann, sollten in der Lage sein können, den Schmerz beiseitezuschieben, um zu funktionieren und seine Pflicht zu tun. MaryAnn hatte dies sogar während des Laufens im Dschungel getan. Der Schmerz hätte ihr Denken trüben müssen und ihre Fähigkeit, ihre Energie zu steuern. Der Schmerz war auch jetzt in ihrem Kopf. Sie spürte ihn. Aber sie verschob ihn in einen Bereich ihres Gehirns, mit dem Manolito nicht vertraut war. Ein solches Muster hatte er noch nie gesehen. Er war viele Jahrhunderte alt und hatte Magier, Jaguare und Menschen zur Nahrungsaufnahme benutzt, und als die verschiedenen Spezies sich allmählich vermischt hatten, waren die Muster mit den Jahren undeutlicher geworden. In einer langsamen und zärtlichen Erforschung ließ er seine Hände über MaryAnns Schenkel gleiten. Sie erschauerte in seinen Armen und schmiegte sich noch fester an ihn.
Sie gehört dir.
Ja. Sie war seine Gefährtin. Seine andere Hälfte.
Sie ist für dich geschaffen.
Natürlich war sie das, mit ihrem weichen, sanft gerundeten Körper, ihrer zarten Haut, die wie heiße Seide in seinen Armen war, damit er wusste, wie es sein würde, sich in ihr verlockendes Fleisch zu versenken und sie beide auf ungeahnte Höhen der Ekstase zu führen.
Das ist dein gutes Recht.
Oh ja, er hatte jedes Recht auf ihren Körper. Er besaß sie, mit Leib und Seele, genauso wie sie ihn besaß. Er konnte sich sein Vergnügen nehmen, wann und wo er wollte. Seine Hand glitt an ihrem Bein entlang zu ihrer exquisiten Hitze – seiner Hitze, weil sie ihm gehörte. Er wusste ganz genau, was ihr gefiel, und würde sie mit seinen erotischen Liebkosungen schier zur Raserei bringen vor sinnlicher Begierde.
Warum dem Jaguarmann das Leben retten? Er wird sich bloß in einen Vampir verwandeln, und dann wirst du ihn jagen und töten müssen wie so viele andere.
Es war verrückt, einen anderen Mann in ihre Welt zu bringen, wo es doch ohnehin schon so wenige Gefährtinnen für Karpatianer gab. Vielleicht würde Luiz ja sogar versuchen, ihm MaryAnn zu stehlen.
Er war allein mit ihr. Nackt. Hat ihr seinen Körper gezeigt, um sie von dir wegzulocken. Er will sie. Er würde alles tun, um sie dir wegzunehmen.
Die Jaguarmänner hatten sich alle als Meister der Täuschung erwiesen. Sie lockten tatsächlich Frauen an, hielten sie dann gefangen und gingen sehr brutal mit ihnen um.
Er hat sie angefasst. Er hat deine Gefährtin berührt. Er hat dein Zeichen gesehen, deinen Geruch an ihr gewittert, und trotzdem hat er sie angefasst. Du hast ihn über sie gebeugt gesehen. Er war split-terfasernackt. Was glaubst du wohl, wozu er sie gerade zwingen wollte?
Sie hat ihn verteidigt. Sie hat gesagt, sie habe ihm ihr Leben zu verdanken.
Weil sie ihn begehrt. Mach sie zu der Deinen. Nimm sie jetzt. Nimm dir, was dir zusteht. Bring sie für alle Ewigkeit auf deine Seite.
Er konnte nicht aufhören. Er brauchte das. Er verhungerte. Verhungerte. Der Hunger machte ihn rasend. Niemand außer seiner Gefährtin konnte diesen Hunger stillen. Das frische, heiße Blut verbreitete sich in seinem Körper mit der Heftigkeit der stärksten Droge.
Er brauchte ihren Körper, ihre Hitze und ihr Feuer, um das Begehren zu befriedigen, das ihn so erregte und erhitzte, dass er an nichts anderes mehr denken konnte, als mit ihrem Körper zu verschmelzen. Er wollte sie in unbändigem Verlangen seinen Namen rufen hören. Er wollte sehen, wie ihre Augen vor Leidenschaft ganz glasig wurden; sie sollte ihn anflehen, mit ihr zusammen den Gipfel zu erklimmen. Er hatte eine Ewigkeit gewartet, in Dunkelheit und Qual, und jetzt war sie hier, in seinen Armen, ihr Körper reif und sehr bereit für ihn, und ihr Blut vermischte sich mit seinem.
Nimm sie. Du hast das Recht dazu. Sie kann es dir nicht verweigern. Alles, was du willst, muss sie dir geben. Sie gehört dir. Nimm sie jetzt, bevor der Jaguar sie für sich beansprucht. Du kannst nicht aufhören, wenn du schon so nahe dran bist. Nimm genug Blut von ihr, um sie zu verwandeln, dann kann sie dich nicht mehr verlassen. Koste sie. Das Gewisper wurde lauter, als andere Stimmen hinzukamen.
Für einen Moment verstärkten Manolitos Arme ihren Druck, und mit seinem Körper drängte er MaryAnn so weit zurück, dass er schon beinahe auf ihr lag. Wozu? Wollte er sie etwa gleich hier nehmen, während Luiz neben ihnen starb? Und mit Jasmine und Solange im Raum, damit sie Zeugen seines Wahnsinns wurden?
Ja, ja. Du nimmst sie jetzt, bevor es zu spät ist und du sie verlierst.
Angst erfasste ihn. Angst, dass er die Sucht nach MaryAnn nicht unter Kontrolle halten konnte, dass er nicht mehr würde aufhören können. Er verlor allmählich den Verstand, und er würde ausgerechnet dem Menschen etwas zuleide tun, den zu beschützen er geschworen hatte. Er dürfte nicht auf die Stimmen hören, doch sie waren heimtückisch, schlichen sich in sein Bewusstsein und machten sich seine größten Ängste und schlechtesten Charaktereigenschaften zunutze.
Seine schlechtesten Charaktereigenschaften wie zum Beispiel seinen Hang zur Dominanz. Das schreckliche Bedürfnis, MaryAnn seinen Willen aufzuzwingen, sodass sie nicht nur alle seine Wünsche erfüllen wollte, sondern gar nicht anders konnte, als das zu tun. Er wollte sie zu seinen Bedingungen und wusste, dass er sie durch eine starke sexuelle Beziehung beherrschen konnte. Er kannte ihre erotischen Fantasien und Wünsche und wusste, wie er ihr die lustvollsten Reaktionen entlocken konnte. Nicht zum Vergnügen – ihrem oder seinem –, sondern der Kontrolle wegen.
Er würde nicht nur sich entehren und alles, wofür er stand, wenn er ihr Blut und ihren Körper nahm und sie ganz in seine Welt hinüberbrachte, sondern sich auch jede Chance verbauen, Mary-Anns Zuneigung zu gewinnen. Nein, das war es nicht, worum es bei Gefährten des Lebens ging. Und er war ihr Gefährte des Lebens und wollte es im wahrsten Sinne des Wortes sein.
Die Stimmen wurden lauter, eindringlicher; die Schatten um ihn verlängerten sich und nahmen zu. Er ergriff MaryAnns Arm, um sie von sich fortzuziehen, aber da regte sie sich in seinem Geist und erfüllte ihn mit einer beruhigenden Wärme und einem wundervollen Gefühl des Wohlbehagens.
Das ist nicht wahr, Manolito. Ich höre die Stimmen auch, und sie belügen dich. Natürlich denkst du, ich gehörte dir. Wenn ich deine Gefährtin bin, bin ich die andere Hälfte deiner Seele. MaryAnn war froh, dass Destiny sich die Zeit genommen hatte, ihr die Verbindung zwischen karpatianischen Gefährten zu erklären. Natürlich willst du mich ganz in deiner Welt haben. Sie spielen mit deinen Instinkten, aber du bist stärker als sie. Wir sind stärker als sie.
Du kannst sie hören ? Er wusste nicht, wie er ihr begreiflich machen sollte, dass er sich in zwei Welten bewegte. Für einen normalen Menschen hörte sich das völlig unglaubwürdig an. Und trotzdem fühlte er sich umzingelt von den Schatten, den Stimmen und der Eiseskälte, die er nicht abzuschütteln vermochte, obwohl ein Karpatianer seine Körpertemperatur steuern konnte.
Natürlich höre ich sie. Und sie würde nicht zulassen, dass sie von ihm Besitz ergriffen. Was immer auch geschah, war sehr real und keine Einbildung. Sie war eine Frau, die im Dschungel der Stadt gelebt hatte und mit allem fertig werden konnte, was dieser Abschaum ihr oder ihrem Mann um die Ohren schlug.
Da war es wieder, dieses eigenartige Flattern in ihrem Herzen. Nun nannte sie ihn bei sich schon ›ihren Mann‹. Und wenn schon! Sie würde ihn jedenfalls nicht im Stich lassen, bis er sich wieder wohlbehalten im Land der Lebenden befand, ohne Vampire und andere makabere Kreaturen überall in seiner Nähe.
Manolito versuchte, sein wild pochendes Herz und das heiße Blut zu beruhigen, das durch seinen Körper geradewegs in seine Lenden schoss. Das Gute war, dass MaryAnn mit ihrer Körperwärme, ihrer weichen Haut und absoluten Akzeptanz die Stimmen so weit gedämpft hatte, dass er den Dämon unterdrücken konnte, der ihn dazu drängte, sie zu nehmen, und er endlich wieder vernünftig denken konnte.
Sie war sich seiner Gedanken bewusst gewesen, aber sie hatte nicht dagegen angekämpft, und sie hatte sich ihm auch nicht entzogen. Sie hatte darauf gewartet, dass er mit sich ins Reine kam und während des gesamten Austauschs fest an ihn geglaubt. Ihr Vertrauen ängstigte ihn. Und wenn er sie nun enttäuschte? Was, wenn der Mann, für den sie ihn hielt, nicht existierte? Sie beschämte ihn mit ihrem Vertrauen in ihn.
Sanft strich er mit seiner Zunge über die kleine Bisswunde, diesmal sehr sorgfältig darauf bedacht, kein Mal zu hinterlassen. Eins war genug, und er vergewisserte sich, dass es noch da war, um sie in seiner Abwesenheit an die Verbundenheit ihrer Seelen zu erinnern. Mit klopfendem Herzen hielt er sie einen Moment umfangen. Waren die Stimmen mehr gewesen als eine Versuchung, ihr unrecht zu tun? Hatten die Kreaturen in der Schattenwelt gespürt, dass sie mit ihm verbunden war, und hatte Maxim versucht, sie in das Schattenreich hineinzuziehen, wo er sie töten konnte?
»Lass mich dein Bein versorgen.« Er ertrug es nicht, diese Kratzspuren an ihr zu sehen, und sie hatte lange genug gelitten, während er anderen geholfen hatte. Sanft strich er mit den Fingern über die Risse an ihrer Wade, das aufgerissene Fleisch und den freigelegten Muskel.
»Aber Luiz ...«
»Ich erhalte ihn am Leben. Erlaube mir, das für dich zu tun.«
MaryAnn presste die Lippen zusammen, um nicht zu protestieren, und blickte rasch zu Jasmine und Solange hinüber, in der Hoffnung, dass sie ihre Reaktion auf Manolitos Fürsorglichkeit nicht bemerkten. Denn die war ausgesprochen sinnlicher Natur. Inmitten von Blut und Chaos überfluteten Empfindungen ihren Körper, die in dieser Situation äußerst unangebracht waren. Aber Solange lag reglos mit geschlossenen Augen da und beanspruchte Jasmines volle Aufmerksamkeit.
»Dann tu es, doch beeil dich«, flüsterte MaryAnn erstickt. Sie konnte kaum denken, geschweige denn sprechen, wenn Manolitos Finger so verführerisch über ihren Schenkel wanderten.
Er beugte sich über ihre Wade und legte eine Hand um ihren Knöchel, um ihn stillzuhalten. Ihr stockte der Atem, als sie sein glänzendes Haar wie einen Wasserfall um seine Schultern fallen sah. Sie konnte sein Profil, seine langen Wimpern und die Konturen seiner Lippen sehen. Er war zu schön, um wahr zu sein. Unwillkürlich glitt ihre Hand zu ihrem eigenen Haar, das sich halb aus seinem Zopf gelöst hatte und in wirren Strähnen ihr Gesicht umrahmte. Bei der Bewegung fiel ihr Blick auf den Blutfleck auf ihrer Seidenbluse.
Bestürzt blickte sie auf ihre einst so elegante schwarze Hose. Eine Seite war zerrissen, der hübsche Aufschlag vollkommen zerfetzt. Ihr Bein darunter wies so tiefe Kratzspuren auf, dass die Muskeln aus den Rissen drangen. Jäher Schmerz packte sie, und für einen Moment lang glaubte sie, sich übergeben zu müssen.
»Manolito«, keuchte sie entsetzt, als der Schmerz so unerträglich wurde, dass ihr die Tränen kamen. »Es tut weh.«
»Ich weiß, sivamet, aber ich kann ihn dir abnehmen.« Interessant war, dass sie im selben Moment, als sie sich der Verwundung bewusst geworden war, auch wieder von der vollen Wucht des Schmerzes überfallen worden war. Dass er nicht mehr in irgendeinem fernen Winkel ihres Gehirns vergraben, sondern wieder Teil ihres bewussten Ichs geworden war.
Manolito nahm ihren Schmerz auf sich und begann mit der Aufgabe, ihre Wunden von innen heraus zu heilen. Als die Verletzungen geschlossen und gereinigt waren, kehrte er zurück in seinen eigenen Körper und bückte sich, um ihr Bein zu untersuchen. MaryAnn schloss die Augen, als seine Zunge wie rauer Samt über ihre Wunde strich.
Sie wusste, dass sein Speichel ein heilendes Element enthielt und sie das Ganze eigentlich ein bisschen eklig finden müsste, aber so war es keineswegs. Es war sogar ein überaus erregendes Gefühl, das ein Flattern tief in ihrem Innern auslöste und sie mit einer prickelnden Hitze erfüllte. Weiter oben, an der Innenseite ihrer Schenkel, tat er irgendetwas mit seinen Fingerspitzen, das ihr den Verstand zu rauben drohte, doch bevor es so weit kommen konnte, hob er den Kopf und sah sie aus halb geschlossenen Augen an, die verschleiert waren vor Verlangen und Leidenschaft.
»Wir müssen uns um Luiz kümmern«, erklärte er mit vor Emotion ganz heiserer Stimme.
MaryAnn nickte. »Sag mir, wie ich dir helfen kann.«
Karpatianische Männer teilten ihre Frauen mit niemandem, und Manolito war eifersüchtiger als die meisten, doch Luiz tat ihm leid, als er sich über ihn beugte und seine Beklommenheit spürte.
Versuch, ihn festzuhalten, MaryAnn, um seine Verwandlung einfacher zu machen. Ich fürchte, dass das Raubtier in ihm stark ist und ihn nicht so einfach freigibt. Es war nicht leicht, sie darum zu bitten, doch er verschmolz bereits mit dem Jaguarmann, und der Geschmack von Angst war bitter für einen Mann, der so viele Kämpfe ausgefochten und solche Anstrengungen für seine Leute unternommen hatte. Manolito wollte nicht, dass Luiz ängstlich und verstört von einem Leben in das andere überwechselte. Manolito ließ sich ganz und gar mit Luiz verschmelzen, um ihn zu beruhigen, doch das Raubtier in ihm spürte, was geschehen würde, und begann zu toben.
Du wirst trotzdem weiter existieren, versuchte MaryAnn den Jaguar zu trösten. Wie könntest du auch nicht? Du bist so viele Jahre ein Teil von Luiz gewesen. Ihr seid ein und derselbe. Was Manolito tut, wird euch beiden ermöglichen zu leben. Er hat beschlossen, dich zu retten, damit du eure Leute retten kannst. MaryAnn streichelte dem Mann das Haar, beruhigend und zärtlich.
Sie berührt einen anderen Mann.
Denselben, der vorher schon mit ihr zusammen gewesen war.
Die Stimmen waren abscheuliche Dämonen, die Manolitos Vertrauen in sie unterminieren sollten. Deshalb hielt er es für klüger, einen Blick auf ihre Hand zu werfen, um ihre Absicht zu erkennen – ihr anstatt der Stimmen zu vertrauen. Ihre Finger waren geradezu hypnotisch, und Manolito spürte sie in seinem eigenen Haar – an seinem eigenen Kopf. Durch MaryAnn waren sie alle drei fest miteinander verschmolzen, doch er war sicher, dass sie keine Ahnung hatte, was sie tat.
Er begann allmählich zu verstehen, wie sie vorging. Ihre Fähigkeiten waren anders als alle, denen er je begegnet war. Sie bündelte Energie und benutzte sie so selbstverständlich, wie sie atmete. MaryAnn versuchte, jeden zu erreichen, der litt oder Trost benötigte, und »las« in ihnen, ohne sich dessen auch nur bewusst zu sein.
Sobald sie genug Informationen über die Person und ihr Problem gesammelt und verarbeitet hatte, benutzte sie die Energie, um ihr Hoffnung, Trost oder Mut zu geben.
Luiz gab sie ihr Mitgefühl, beschwichtigte und beruhigte ihn, aber Manolito gab sie etwas völlig anderes. Partnerschaft. Sie gehorchte ihm nicht, wie eine Frau es seiner Meinung nach tun sollte, sondern stand neben ihm und arbeitete mit ebenso viel Energie daran, ihn zu beschützen und vor der Schattenwelt zu retten, in der er weilte, wie er sich einsetzte, um sie zu beschützen. Ihre Energie war nur eine andere, und sie hatte auch eine andere Sichtweise.
Er sog Luiz' Leben, Blut und Geist aus ihm heraus und nahm alles in seine Obhut. Dann schlitzte er sein eigenes Handgelenk auf und gab Luiz den Befehl zu trinken, und Luiz, der so tief mit ihm verschmolzen war, leistete keinen Widerstand. Der Jaguar in ihm brüllte nur einmal protestierend auf und ließ sich dann wieder von MaryAnn beruhigen.
MaryAnn biss sich auf die Lippe und fuhr fort, Luiz' Haar zu streicheln, während sie überlegte, wie sie allen die Situation erleichtern konnte. Sie wusste nicht, was sie zu erwarten hatte, doch falls etwas Schlimmes geschehen sollte, wollte sie Jasmine nicht dabeihaben. »Kannst du Solange in ihr Schlafzimmer helfen?«, fragte sie, nicht sicher, ob der Jaguar bewusstlos war oder sich nur nicht bewegte.
In diesem Moment sprang die Tür auf, und Riordan kam herein, dicht gefolgt von Juliette. Sie war offensichtlich völlig außer sich und stieß ihn ungeduldig an, um an ihm vorbei zu ihrer Schwester und Cousine zu gelangen. An Riordans Arm und seiner linken Wange waren Brandmale zu sehen, und eine blutende Schnittwunde verlief über sein Bein. Juliette schien unverletzt, aber zutiefst erschüttert zu sein. Ein leiser Schrei entrang sich ihr, als sie all das Blut auf dem Boden und an den Wänden sah, aber Riordans Körper beschirmte ihren vor jeder möglichen Gefahr, während er die Szenerie in sich aufnahm.
»Braucht Solange noch weitere Hilfe?«, fragte er Jasmine, als er beiseitetrat, damit seine Gefährtin zu ihrer Cousine laufen konnte.
»Wir müssen sie in ein Zimmer bringen und sie wieder menschliche Gestalt annehmen lassen«, sagte Jasmine. »Sie ist jetzt ruhig, aber sie hat Schmerzen.«
»Es tut mir so leid.« Juliette war den Tränen nahe. »Wir haben versucht herzukommen, doch unsere Feinde sind ganz in der Nähe. Sie müssen erraten haben, wo wir uns zur Ruhe legen, und als wir aufstehen wollten, griffen sie uns an.«
Manolito warf einen schnellen Blick auf seinen Bruder, um sicherzugehen, dass er keine Verletzungen hatte, die eine sofortige Behandlung nötig machten. Riordan schüttelte den Kopf, um ihn zu beruhigen.
»Jasmine und ich können Solange in ihr Zimmer bringen«, sagte Juliette zu MaryAnn, »während du Manolito unterstützt.«
»Was tust du da?«, fuhr Riordan seinen Bruder an, obwohl er es schon wusste. Er wollte es nur nicht wahrhaben. »Hast du den Verstand verloren? Wir können keinen männlichen Jaguar verwandeln!«
»Und wieso nicht?«, versetzte MaryAnn herausfordernd. »Ihr habt doch auch kein Problem damit, Frauen zu verwandeln. War Juliette nicht menschlich und hatte auch ein bisschen Jaguarblut in sich?«
Riordans Blick glitt zu ihrem Gesicht und dann zu ihrem verletzten Bein.
»Riordan?«, rief Jasmine, um seine Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken.
Sein Gesichtsausdruck wurde augenblicklich weicher. »Was ist denn, kleine Schwester?«
»Ich habe Manolito gebeten, den Jaguar zu retten. Wenn' er Solange nicht zu Hilfe gekommen wäre, wäre sie jetzt eine Gefangene der Jaguarmänner oder tot.«
»Ein Magier war bei ihnen«, ergänzte Manolito mit grimmiger Miene, als er seine Hand von Luiz' Mund zurückzog. »Er hat die Schutzzauber aufgehoben, um die Jaguare ins Haus zu lassen, und dann ist er hinter ihnen hereingekommen und hat Jasmine gepackt.«
Juliette fuhr herum und wurde kreidebleich. »Oh nein, dann war das ja doch eine Falle! Wir haben schon so etwas befürchtet, als wir einen Jaguar sahen, der den Kampf beobachtete. Jasmine, geht es dir gut?«
Das junge Mädchen nickte. »Aber der Magier war nicht hinter mir her. Er hielt mich für Solange. Er sprach mich sogar mit ihrem Namen an. Ich habe weder darauf reagiert noch widersprochen, doch er war definitiv hinter ihr her.«
Manolito zog sich von Luiz zurück und strich sich mit dem Handrücken über die Stirn, die blutverschmiert war, als er die Hand zurückzog. »Luiz war von einem Vampir korrumpiert worden. Die Brüder Malinov benutzen diese Strategie, um die Kontrolle zu gewinnen. Sie vernichten die Jaguarrasse von innen heraus, so wie wir es besprochen hatten, als wir jünger waren. Ich weiß, dass sie auf der Suche nach königlichem Blut sind, aber ich habe keine Ahnung, warum. Zuerst dachte ich an Juliette oder Jasmine, doch Luiz sagte mir, dass es Solange ist, die sie wollen. Ein Vampir hat den Männern der Jaguarspezies suggeriert, sie zu entführen und sie ihm zu übergeben.« Auf mentalem Wege gab er seinem Bruder einen kurzen Überblick über alles, was sich zugetragen hatte.
Juliette schüttelte den Kopf. »Solange ist reinrassig und von königlicher Abstammung.«
»Sie kann nicht auf der Insel bleiben«, erklärte Riordan. »Wir müssen sie auf die Ranch bringen, sobald sie reisefähig ist.«
»Sie wird nicht mitkommen«, sagte Juliette.
»Sie hat davon gesprochen«, wandte Jasmine ein. »Ich glaube, wir können sie dazu überreden.«
»Bringt sie auf ihr Zimmer«, befahl Riordan. »Ich werde hier aufräumen. Diesmal benutzen wir nur die Schutzzauber, die noch nie von Magiern angewandt wurden.«
»Verbrenn den Jaguar, den ich getötet habe. Er war von dem Vampir beherrscht und würde mit ziemlicher Sicherheit wieder benutzt werden«, riet Manolito. »Ich will nicht, dass er unseren Feinden noch einmal dienen kann.«
»Von welcher Strategie sprachst du vorhin?«, fragte MaryAnn und sah Manolito prüfend ins Gesicht.
Seine Miene ließ keine Regung erkennen, aber er warf seinem Bruder einen Blick zu.
Und so war es Riordan, der antwortete. »Wir waren noch sehr jung und betrachteten uns als Intellektuelle. Wir glaubten, wir könnten die Welt verbessern.«
»Wir dachten, wir seien allen anderen überlegen«, ergänzte Manolito. »Wir waren alle kluge Köpfe und hatten sehr schnelle Reflexe. Nur wenige Jäger waren besser als wir. Wenn wir im Ratskreis saßen, war es immer Zacarias, der die Strategien für unseren Kampf vorschlug. Es war stets einer von uns, der die richtigen Ideen hatte, wie wir unser Volk daran hindern könnten, seinem Untergang entgegenzugehen.«
»Und was geschah?«, beharrte MaryAnn.
Manolito seufzte und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Heute weiß ich, dass unser aller Gedanken zusammenflossen und uns mit Informationen überschwemmten. Unsere Gaben befähigten unsere Gehirne, besonders schnell zu arbeiten, um die Lösungen zu entwickeln, die wir brauchten. Das war es, was wir zu den Ratsversammlungen beitrugen, so wie auch alle anderen etwas Wertvolles beizutragen hatten. Doch damals glaubten wir zu wissen, welche Richtung unser Volk einschlagen müsste, und es war nicht die gleiche Richtung, die Vlad Dubrinskry eingeschlagen hatte. Er war damals unser Prinz, und es gab nur noch sehr wenige karpatianische Frauen.«
Riordan schüttelte den Kopf. »Damals bestand kaum Hoffnung für einen karpatianischen Mann, eine Gefährtin zu finden. Nur wenige Kinder überlebten, und wenn, dann immer nur die Jungen. Wir konnten alle sehen, dass unser Volk vom Aussterben bedroht war. Es war nur noch eine Frage der Zeit. Viele ärgerten sich darüber, auf das Geschwätz alter Männer und alter Völker reduziert zu werden. Wir waren dabei, zu einem Mythos zu werden wie die anderen – die Magier, Werwölfe und Jaguare. Es gab viele verwandlungsfähige Spezies, doch die meisten waren schon ausgestorben, und das Gleiche geschah überall, wohin wir blickten.«
»Wir sollten unsere Leute retten, deshalb saßen wir mit unseren Freunden herum und schmiedeten Pläne, um die Herrschaft zu übernehmen. Wir wollten die vom Aussterben bedrohten Karpati-aner aus ihrem Schattendasein heraus- und wieder in die Welt zurückführen. Jeder, der den Dubrinskys folgen und an ihrer Seite kämpfen würde, musste weg, dachten wir. Und so spielten wir mit Ideen, wie das zu schaffen wäre.«
»Es waren anregende intellektuelle Debatten, die jedoch von keinem von uns wirklich ernst gemeint waren«, fügte Riordan hinzu und blickte auf seine gespreizten Hände, als könnte er das Blut seiner eigenen Leute daran sehen.
»Doch ungeachtet dessen, was wir damals dachten«, wandte Manolito ein, »gehen die Malinov-Brüder heute genau nach diesem Plan vor.«
»Wer sind die Malinov-Brüder?«, fragte MaryAnn.
Luiz regte sich, schlug die Augen auf und atmete tief aus. Sein Körper wand sich wie unter großen Qualen, seine Muskeln verkrampften und verzerrten sich.
MaryAnn beugte sich mit einem besorgten kleinen Ausruf über ihn. »Es funktioniert nicht, Manolito.«
Manolito nahm MaryAnn am Arm und zog sie von dem Jaguarmann fort. »Das wird hart für ihn, ainaak enyem. Er wird nicht wollen, dass du seine Verwandlung mit ansiehst.«
Sie schob das Kinn vor und blickte von einem Bruder zu dem anderen. »Du willst nicht, dass ich sie mit ansehe, weil du nicht willst, dass ich weiß, was aus ihm wird«, erklärte sie.
»Das auch«, gab Manolito zu. »Aber sein Körper wird sich von Giften befreien müssen, während das Raubtier um die Vorherrschaft über ihn kämpft.«
»Juliettes Verwandlung war äußerst schwierig«, fügte Riordan hinzu.
MaryAnn ließ Manolitos Blick nicht los. »Ich bin sicher, dass ich ihm bei der Verwandlung helfen kann.«
Riordan schüttelte den Kopf. »Dabei kann ihm niemand helfen. Wenn es so wäre, würden wir den größten Teil des Schmerzes selbst tragen, aber das können wir nicht, nicht einmal für unsere avio päläfertiil, die andere Hälfte unserer Seele.«
MaryAnn streckte ihre Hand nach Manolito aus. Er ergriff sie sofort und verschränkte seine Finger mit ihren. »Ich kann ihm helfen, Manolito. Ich beruhige Menschen. Das ist mein Job.«
»Tut mir leid, Liebste«, sagte er, so sanft er konnte. »Das wäre ein zu großes Risiko. Du bist dir deiner Fähigkeiten nicht bewusst und verschmilzt mit Leuten, ohne es auch nur zu merken. Ich kann nicht das Risiko eingehen, dass du womöglich in ihm festsitzt und sein Körper aufgibt, bevor der Kampf beendet ist. Das werde ich nicht riskieren.«
»Es ist nicht dein Risiko.«
Etwas Dunkles, Gefährliches flackerte in seinen schwarzen Augen auf. Ein Muskel zuckte an seinem Kinn, aber sein Gesicht blieb völlig ausdruckslos. »Ich sagte Nein.«
MaryAnn funkelte ihn verärgert an. »Manolito, du kannst mir nicht diktieren, was ich tun darf und was nicht.«
Schneller als erwartet war er bei ihr und hob sie auf seine Arme, die so stark waren, dass sie nicht die geringste Chance hatte, sich zu wehren. Bevor sie daran denken konnte, auch nur verbal zu protestieren, trug er sie schon mit großen Schritten durch das Haus. Noch nie in ihrem Leben war MaryAnn auf diese erniedrigende Weise von jemandem gefügig gemacht worden. In jäher Wut trat sie nach ihm, aber seine Kraft war enorm, und er hatte einen solch eisernen Willen, dass er nicht aufzuhalten war.
»Tut mir leid, ainaak sivamet jutta.«
Die für immer mit meinem Herz Verbundene. Das las sie in seinem Geist, als er mit ihr durch das Haus zu ihrem Zimmer eilte und sie dort aufs Bett legte. Seine Lippen berührten einmal kurz ihr Haar, dann ging er auch schon wieder und zog die Tür hinter sich zu.
Einen Moment lang blieb er draußen stehen und murmelte einen Zauber, der die Tür verschlossen halten würde, falls Mary-Ann auf die Idee kommen sollte, die Angeln zu entfernen. Wenn irgendeine Frau zu so etwas imstande war, dann sie. Sie würde zwar furchtbar wütend auf ihn sein, aber sowohl Luiz als auch ihr selbst zuliebe war es besser, dass sie nicht mitbekam, was gleich geschehen würde. Ein Schuh krachte gegen die Tür, dann ein zweiter. Ja, und ob sie wütend war!
»Beeil dich, Manolito«, rief Riordan. »Das wird schlimm hier.«
MaryAnn, die Riordans Schrei gehört hatte, schnappte sich ein Kissen und drückte es an ihren Bauch, weil ihr plötzlich furchtbar übel war. Sie war es gewesen, die Manolito überredet hatte, Luiz zu retten, und jetzt hatte sie sie alle im Stich gelassen. Luiz war allein und sah sich einer furchtbaren Strapaze gegenüber. Sie wusste nicht, was es war, doch sie spürte, dass es ein traumatisches Erlebnis für ihn und auch für die beiden Karpatianer war.
Hatten sie schon einmal ein männliches Wesen verwandelt? Denn falls das noch nie geschehen war, gab es vielleicht einen Grund dafür. Einen guten Grund. Möglicherweise war sie in ihren Bemühungen zu voreilig gewesen. Entsetzt drückte sie ihr erhitztes Gesicht ins Kissen und spürte Tränen hinter ihren Lidern brennen. Luiz würde leiden, und irgendwie wusste sie, dass Manolito mit ihm leiden würde. Sie wollte an ihrer Wut darüber festhalten, wie selbstherrlich er sie in ihr Zimmer gesperrt hatte. Als wäre sie ein kleines Kind, hatte er ihr verboten, bei Luiz' Verwandlung anwesend zu sein, aber da ein Teil von ihr noch immer dort war, bei Luiz und Manolito, und sie ihre Qual spürte, konnte sie ihre Wut nicht lange aufrechterhalten.
Sie ging ins Bad und ließ heißes Wasser in die Wanne laufen, um ihre verspannten Muskeln zu entspannen. Auch ihr Magen war vollkommen verkrampft. Sie empfing Eindrücke von Krämpfen, die Luiz Körper quälten. Er wurde in die Luft gerissen und fiel wieder hart zu Boden. Die Eindrücke waren aber nur sehr flüchtig, woran sie gleich erkannte, dass Manolito seinen Geist vor ihr verschloss. Es hatte eine Weile gedauert, bis sie gelernt hatte, wie sie es anstellen musste, sich geistig mit ihm zu verbinden, und wenn sie es versuchte, war sie immer noch nicht besonders gut darin. Doch jetzt schien es unmöglich.
MaryAnn schöpfte tief Luft und ließ sie wieder entweichen. Sie würde Luiz nicht im Stich lassen, nicht in diesem Stadium, in dem er sie am meisten brauchte. Manolito versuchte, sie abzuschirmen und zu beschützen, aber ob er es nun wusste oder nicht, er brauchte sie genauso sehr. Und so schloss sie die Augen und konzentrierte sich auf ihn. Darauf, wie er sich anfühlte. Auf die Intimität dieser ganz privaten geistigen Verbindung zwischen ihnen – die so ein unerwartetes Geschenk gewesen war. Denn obwohl sie ihn nach wie vor für arrogant hielt, kannte sie ihn jetzt besser und wusste auch um die Sanftheit, die er vor dem Rest der Welt verbarg. Sie sah, mit welchem Mitgefühl er Luiz hielt, und spürte, wie er sich bemühte, das Raubtier in ihm zu beruhigen.
Sie fühlte auch, wie dieses Raubtier mit seinen Pranken um sich schlug und ums Überleben kämpfte – doch dann waren die Bilder schlagartig verschwunden. Langsam ließ MaryAnn den Atem entweichen und fuhr fort, sich Manolito vorzustellen, wie er den Jaguar in Luiz' zu bändigen versuchte. Sie empfing eine kleine Welle des Mitgefühls von Manolito und auch von Riordan, und dann spürte sie die Katze wieder, deren Unruhe sich zu Panik steigerte und die um sich schlug und biss, um sich gegen den Ansturm des karpatianischen Blutes zu wehren.
MaryAnn wurde so übel, dass sie auf die Knie fiel. Auf allen vieren kniete sie auf dem Badezimmerboden und rang nach Atem, als Schmerzen sie durchfluteten. Sie empfing Manolitos Überraschung darüber, dass sie bei ihm war, und dann, wie er sie wieder ganz entschieden von sich schob.
Es war die reinste Qual, allein zu sein, zu wissen, dass Luiz litt und Manolito sie bei sich brauchte. Sie verspürte den Wunsch, das dringende Bedürfnis, konnte aber absolut nichts tun, um ihnen beizustehen. Manolito war unnachgiebig geblieben. Wusste er nicht, dass er von ihr verlangte, wider ihre Natur zu handeln? Wieder schob sie ihre Angst beiseite und konzentrierte sich auf Manolito, weil sie im selben Moment, als sie seinen Geist berührte, seinen Kampf mit der Schattenwelt spüren konnte. Luiz mochte sie nicht erreichen können, aber Manolito schon. Die Verbindung zwischen ihnen war unglaublich stark.
Und dann war sie ganz und gar in seinem Geist, in seinem und in Luiz', und sah mit eigenen Augen die wahren Schrecken der Verwandlung. Die Qual, die den Jaguarmann zerriss, als der Tod ihn zu sich rief und die Katze in ihm kämpfte. Manolito nahm viel zu viel auf sich, er nahm Luiz so viel von seinen Schmerzen ab, wie die Natur es ihm erlaubte. Beide Männer waren gefasst und sich des anderen voll bewusst, und Luiz versuchte, alles mit großer Würde zu ertragen. Manolito bemühte sich, mitfühlend und ermutigend zu sein, ohne dem Jaguarmann seine Selbstachtung zu nehmen. In diesem Moment, während Tränen über ihr Gesicht liefen und ihr Körper sich unter der geteilten Qual der beiden Männer krümmte, wusste MaryAnn, dass sie Manolito wirklich lieben konnte, von ganzem Herzen und mit jeder Faser ihres Körpers.
Die starke Anziehung zwischen ihnen mochte mit einem uralten Ritual begonnen haben, und sie mochte körperlich geradezu besessen von ihm gewesen sein, doch letztendlich sah sie nun endlich seinen wirklichen Charakter. Er war wie ein offenes Buch für sie, als er unermüdlich daran arbeitete, Luiz in seine Welt herüberzuhelfen, und ihr Herz reagierte auf die einzige Art und Weise, die sie kannte – mit grenzenloser Liebe und völlig ohne Vorbehalte.