15. Kapitel

MaryAnn starrte Manolito mehrere Sekunden lang an, dann brach sie in schallendes Gelächter aus. »Du bist total verrückt.«

Manolito allerdings sah alles andere als belustigt aus. Wenn überhaupt, verhärtete sich sein Gesichtsausdruck sogar noch mehr. »Ich bin nicht verrückt. Ich rieche den Wolf in dir, und wenn du ehrlich zu dir bist, kannst du ihn auch an mir wahrnehmen.«

Sie schüttelte den Kopf, aber das Lachen war ihr vergangen. »Das ist doch kompletter Unsinn. Ich weiß, dass Karpatianer ihre Gestalt verändern können, doch ich kann das nicht. Ich bin mein Leben lang ein Mensch gewesen. Meine Eltern sind keine Werwölfe – und ich glaube auch nicht, dass es so etwas überhaupt gibt.«

»Wieso zweifelst du an ihrer Existenz, nachdem du Jaguarmenschen und Vampire gesehen hast und weißt, dass es uns Karpatianer gibt? Warum fällt es dir da so schwer, an Werwölfe zu glauben?«

Ein feiner Schweißfilm bedeckte seine Stirn. Karpatianer schwitzten Blut, bemerkte MaryAnn, als Manolito sich mit dem Handrücken darüberfuhr.

»Wo sind sie denn dann? Und falls es sie wirklich gibt und ich einer von ihnen bin, warum hast du das dann nicht früher schon erkannt?« Das mit dem Blutschwitzen war wirklich eklig, und sie würde ganz bestimmt nicht Karpatianerin werden. Da wäre sie ja lieber noch ein Wolf!

»Weil ich seit Jahrhunderten keine mehr gesehen habe.«

MaryAnn stützte die Hände in die Hüften. »Okay, mal sehen, ob ich dich richtig verstanden habe. Du warst total verliebt in mich und bereit, mich in eine Karpatianerin zu verwandeln, als du dachtest, ich sei ein Mensch. Aber das hat sich jetzt geändert, weil ich dich vielleicht in etwas anderes verwandeln könnte?« Sie hob herausfordernd das Kinn. »Was du meinst, ist, dass es für mich vollkommen in Ordnung ist aufzugeben, wer und was ich bin, aber nicht für dich.«

Er runzelte die Stirn. »Ich bin schon als Karpatianer auf die Welt gekommen. Es ist das, was ich bin.«

Sie legte eine Hand an ihren Magen, als eine Welle der Übelkeit in ihr hochstieg. »Du scheinheiliges Chauvinistenschwein, Neandertaler und unverbesserlicher Idiot! Ich muss vollkommen verrückt gewesen sein, als ich dachte, ich könnte mit jemandem wie dir zusammenleben.«

Er tat ihre Meinung über ihn mit einer Handbewegung ab. »Wir sind Gefährten des Lebens. Natürlich werde ich alles tun, um die Verwandlung zu vervollständigen und dich voll und ganz auf meine Seite zu bringen, aber ich muss dieses Problem aus allen Blickwinkeln betrachten. Ich habe noch nie von einer Verbindung zwischen einem Werwolf und einem Karpatianer gehört. Das Blut des Werwolfs ist genauso mächtig wie das des Karpatianers.«

»Ich kann nicht meine Gestalt verändern.«

»Der Wolf lebt in dir, ist ein Teil von dir. Die Verwandlung geht nicht auf die gleiche Weise vor sich wie bei mir. Der Wolf ist dein Beschützer und wird erscheinen, wenn er gebraucht wird. Du hast gefühlt, wie nahe er dir ist. Deshalb hast du diese Erinnerungsblitze. Und das ist auch der Grund, warum wir beide das frühe Sonnenlicht ertragen können. Es hat nur meinen Augen, nicht meinem ganzen Körper geschadet. Und du verbrennst nicht in der Sonne, obwohl mein Blut in deinen Adern fließt. Die Verwandlung müsste schon begonnen haben.«

»Und du denkst, ich hätte das die ganze Zeit gewusst und dich irgendwie hinters Licht geführt? Falls ich wirklich einen Wolf in mir haben sollte, wäre dies der richtige Moment für ihn hervorzukommen. Dann könnte ich dir nämlich wenigstens an die Kehle gehen.« Wütend stieß sie mit den Fäusten gegen seine Brust, um ihn dazu zu bringen, sie vorbeizulassen. »Du solltest dich mal selbst reden hören! Glaubst du wirklich, ich wollte den Rest meines Lebens mit einem Mann verbringen, der keinerlei Rücksicht auf meine Gefühle nimmt?«

»Du weißt, dass das nicht stimmt.«

»Oh, nein, natürlich nicht! Deshalb wirfst du mir ja auch vor, ich ›infizierte‹ dich«, fauchte sie ihn an. »Als wäre ich so etwas wie eine ansteckende Krankheit. Ein Virus. Weißt du, was, Manolito De La Cruz? Du verdienst es, in der Hölle zu verrecken. Und ich bin ein Idiot, weil ich gedacht habe, eine Beziehung mit dir könnte irgendetwas Sinnvolleres als nur heißer Sex sein!«

MaryAnn ging zum Rand der Plattform, umfasste das Geländer und blickte hinunter. Sie war vorher schon einmal gesprungen, doch jetzt kam es ihr sehr weit bis zum Boden vor. Das Ding in ihr, der Wolf, wie Manolito glaubte, regte sich, weil es ihre Wut erkannte. Sie schluckte die jähe Furcht hinunter, die in ihr aufstieg, und wandte sich ihm wieder zu. Ihr Herz klopfte so schnell und dumpf, dass er es hören musste, und der Kopf tat ihr weh von einem summenden Geräusch, als schwirrten Tausende von Insekten hinter ihrer Stirn und machten sie verrückt. Ihr Schädel fühlte sich zu eng an, und ihr Gehirn begann zu pochen, während das Blut wie wild durch ihre Adern rauschte.

»Du weißt es.« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. »Dir war voll und ganz bewusst, dass ich dein Blut nahm. Und du wolltest meines, wolltest den Geschmack von mir in deinem Mund spüren, heiß und süß und voller Leben. So verhält ein Mensch sich nicht.«

»Du hast mich dazu gebracht, das zu wollen«, flüsterte MaryAnn und drückte wieder ihre Hand an ihren aufgewühlten Magen. Sie hätte eine Art Balance zwischen Wut und Furcht finden müssen, fühlte sich aber nur völlig desorientiert und innerlich zerrissen.

»Das ist nicht wahr. Ich habe dich zu nichts gezwungen. Das war der Ruf des Wolfes in dir.«

MaryAnn wandte sich mit wild pochendem Herzen von ihm ab. Plötzlich ergab alles einen Sinn, obwohl es nicht so sein dürfte. Sie konnte nicht akzeptieren, was er sagte. Sie wollte keinen Wolf in sich tragen. Sie wusste nicht einmal, was das bedeutete oder wie es möglich war. »Bring mich zurück.« MaryAnn sah ihn nicht an, weil sie ihm nicht in die Augen sehen konnte. Sie fühlte sich auf einmal sehr allein. »Ich will jetzt sofort wieder zurückgehen.« Sich allein zu fühlen, brachte sie erneut in Wut. Als Manolito seinen schlimmsten Moment hatte durchstehen müssen, hatte sie ihm beigestanden, aber er ließ sie nun im Stich. Ließ sie im Stich und zeigte ihr die kalte Schulter.

»Du hast dein Bewusstsein vollkommen vor mir verschlossen.«

»Du Idiot!« Am liebsten wäre sie über die kleine Terrasse gesprungen und hätte ihn geschlagen. War er wirklich so begriffsstutzig? Sie holte tief Luft und zwang sich, sich im Zaum zu halten. »Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe? Ich will, dass du mich zurückbringst.« Denn jetzt würde sie nach Hause fahren. So schnell sie konnte, würde sie nach Seattle zurückkehren, wo das Leben normal war und sie kein solch unbändiges Verlangen nach idiotischen Männern aus längst vergangenen Jahrhunderten empfand.

»MaryAnn, keiner von uns beiden hat eine Wahl. Wir müssen zusammen eine Lösung finden.«

Ihr Kinn fuhr hoch, ihre dunklen Augen funkelten ihn an. »Ich habe eine Wahl. Ich lasse mir mein Leben nicht einfach so aus den Händen nehmen. Du hast mich zurückgewiesen, als du dachtest, ich verwandelte dich aus einem großartigen Karpatianer in etwas anderes. Was mich angeht, so hast du dir jedes Recht auf mich als deine Gefährtin verspielt. Ich habe dich gebeten, mich nach Hause zu bringen. Und das sehr höflich, Manolito.« Aber jetzt war ihr gar nicht mehr nach Höflichkeit zumute. Ihre Fingernägel bohrten sich in ihre Handflächen. Das Summen in ihrem Kopf wurde lauter. Ihr Mund fühlte sich an, als wäre er mit Kupfer überzogen.

»Ich habe dich nicht zurückgewiesen.«

»Hast du nicht? Nun, was mich anbelangt, bist du ein Feigling, Manolito. Du willst, dass ich alles riskiere. Du willst, dass ich etwas für mich Unbekanntes und Beängstigendes werde, und ich muss das akzeptieren, weil das Schicksal irgendwie bestimmt hat, dass wir zusammen sein müssen. Aber weißt du, was ? Ich denke gar nicht daran, mit jemandem zusammen zu sein, der will, dass ich alles riskiere, selbst jedoch gar nichts riskieren mag. Bring mich jetzt sofort nach Hause.«

Es war ein Befehl, ein geistiger Zwang, und zum ersten Mal erkannte sie, dass sie es nicht nur gedacht oder gesagt hatte. Sie hatte ihm den Befehl regelrecht suggeriert, weil seine Doppelmoral sie furchtbar wütend machte. Außerdem war sie wütend auf sich selbst, weil sie zugelassen hatte, dass er sie so beherrschte. Und sie fühlte sich ängstlicher als je zuvor in ihrem Leben, denn sie argwöhnte, dass es kein Zurück mehr gab und dass das, was auch immer in ihr war, keine Ruhe mehr geben würde, selbst wenn sie es bis nach Hause schaffte.

Sie besaß übersinnliche Fähigkeiten, genau wie alle sagten. Und sie hatte diese Fähigkeiten die ganze Zeit benutzt, ohne sich dessen bewusst zu sein. MaryAnn erhob den Blick zu Manolito, und ihr stockte der Atem. Mit einem gefährlichen Glitzern in seinen schwarzen Augen blickte er auf sie herab. Er war genauso wütend wie sie selbst und sehr viel Furcht erregender.

»Ich habe Nein gesagt. Du wirst nirgendwohin gehen.«

Sie stürzte sich auf ihn, holte mit ihren langen Fingernägeln nach seinem Gesicht aus und verfehlte es nur um Millimeter, als er sie an den Armen packte und sie schüttelte. »Denkst du, du könntest mir etwas befehlen?« Wieder schüttelte er sie. »Mir? Deinem Gefährten des Lebens? Du wagst es, meinen Geist beeinflussen zu wollen? Mich anzugreifen?«

Mit wem hatte sie sich verschworen, um ihn in eine Falle zu locken und zu töten? Sie hatte ihn getäuscht. Aber noch während die Worte ihm entschlüpften, während er auf die Idee kam, sie könne ihm etwas antun wollen, verwarf er den Gedanken schon.

Was tat und dachte er? Hatte er tatsächlich den Verstand verloren ? War er ein Feigling, wie sie sagte? Er war ohne jede Furcht in den Kampf gegen den Vampir gezogen. Niemand hatte seinen Mut je angezweifelt, doch er schikanierte seine Gefährtin, wenn sie Liebe brauchte und beruhigt werden musste. Er unterstellte ihr Dinge, die die Unschuld in ihren Augen und in ihrem Bewusstsein Lügen straften.

War das sein wahrer Charakter? Oder war es irgendeine Manifestation des Wolfes, der sich mit seinem karpatianischen Blut vermischte? Beide Spezies waren dominant. Beide verlangten sofortigen Gehorsam, der Wolf vielleicht sogar noch mehr. Wer wusste schon, was für Geheimnisse sich diese scheue Gesellschaft bewahrt hatte? Es war offensichtlich, dass sie in den Untergrund gegangen waren und noch immer existierten, aber er hatte keine Chance zu verstehen, was geschah – die dichte Mähne, der verschärfte Geruchssinn, das ausgezeichnete Gehör, das brennende Bedürfnis, seine Gefährtin an seiner Seite zu behalten, sein Duft überall an ihr...

Er war wütend auf sich selbst, nicht auf sie. Er hätte die Wolfseigenschaften in ihr erkennen müssen, hätte besser darauf vorbereitet sein müssen, was geschehen könnte, wenn er ihr Blut zu sich nahm. Doch er war so besessen von ihr gewesen, dass sein Bedürfnis nach der körperlichen Vereinigung mit ihr beim Erwachen sogar noch größer gewesen war als das zwingende Bedürfnis, Nahrung aufzunehmen. In all den Jahrhunderten seiner Existenz hatte er so etwas noch nie erlebt. Sie war in jedem seiner Gedanken und hatte so gründlich Besitz von ihm ergriffen, dass er wusste, ohne sie würde er nicht überleben können. Schlimmer noch – als sie ihren Geist vor ihm verschlossen hatte, war die andere Welt wieder in sein Bewusstsein eingedrungen, und er war in den grauen Schatten umhergeirrt und hatte versucht, einen Weg zu finden, sich wieder mit Geist und Körper mit ihr zu verbinden.

Er konnte sie nicht zwingen, ihn zu akzeptieren. Er konnte nicht mehr in ihren Geist eindringen und mit ihm verschmolzen bleiben, und er konnte ihr auch nicht klarmachen, was es für Konsequenzen für ihn hatte, wenn sie ihm diese geistige Verbindung vorenthielt. Und da sie sich von ihm zurückgezogen hatte, konnte er auch nicht mehr die nötige Kraft aufbringen, geistig ganz und gar im Land der Lebenden zu bleiben. Um ihn herum verblassten schon die Farben, bis alles grau und düster war, und als er auf seine Hände herabblickte, konnte er durch sie hindurchsehen. Sein Gehirn fühlte sich an, als würde es jeden Moment seinen Schädel zum Zerbersten bringen, so heftig war der Schmerz, der in seinen Schläfen pochte. Normalerweise konnte er Schmerz aus seinem Bewusstsein ausschließen, aber das war jetzt unmöglich. Auch seine Zunge fühlte sich ganz seltsam an, dick und wie mit Kupfer überzogen.

MaryAnn wehrte sich gegen Manolitos harten Griff und öffnete den Mund, um ihn zurechtzuweisen, so verletzt, dass sie sich am liebsten in ein Mauseloch verkrochen hätte, und so wütend, dass sie versucht war, noch einmal mit ihren viel zu scharfen Fingernägeln nach ihm auszuholen. Aber irgendetwas an ihm erregte ihre Aufmerksamkeit, und deshalb unterdrückte sie ihre verletzten Gefühle und zwang sich zur Vernunft.

»Hast du Kopfschmerzen, Manolito?«

Er nickte und presste die Hände gegen seine Schläfen. »Ich dürfte keinen solchen Schmerz verspüren. Ich verstehe das nicht.« Es sei denn, es ist der Wolf. Oder diese Frau, die vorgibt, meine Gefährtin zu sein, obwohl sie in Wahrheit eine Marionette des Vampirs und auf meine Vernichtung aus ist.

MaryAnn schrak zusammen, als sie diese Gedanken auffing, und zog sich fast aus seinem Geist zurück, aus Angst, dass er sie mit seinen Unterstellungen noch mehr verletzen würde, aber dann vernahm sie plötzlich ein Geräusch. Ein Summen wie von Millionen von Insekten, nur viel schlimmer noch als das, was sich bereits in ihrem Kopf abspielte. Vor Schreck verschlug es ihr den Atem. Ihr Instinkt riet ihr, sich schnell zurückzuziehen, doch sie zwang sich, ruhig zu bleiben. Sie hatte übersinnliche Fähigkeiten. Sie konnte Gedanken lesen. Sie hatte es schon seit Jahren getan; ihr war es nur nicht bewusst gewesen. Es war nichts, wovor sie Angst zu haben brauchte. Sie musste nur herausfinden, wie sie es tat.

Sie atmete tief aus und konzentrierte sich auf Manolito, erfüllte ihre Gedanken mit ihm und wünschte ihm mit aller Kraft, dass er sich besser fühlte. Sie versuchte, ihm den Schmerz zu nehmen und zu sehen, was – oder wer – ihn quälte. Das Summen wurde stärker, lauter; es drängte sich in ihr Bewusstsein und verursachte ihr eine solche Übelkeit, dass sie zum Geländer lief und sich darüberbeugte, aber sie hielt durch, entschlossen, noch weiter vorzudringen. Nun hörte sie Stimmen, leise, doch beharrlich, die sich in Manolitos Bewusstsein einschlichen und ihm das Hirn zermarterten.

»Manolito.« Sie nahm seine Hand und drückte sie ganz fest. »Wir werden angegriffen. Du wirst angegriffen. Ich kann sie hören. Sie versuchen, dich dazu zu bringen, mich zu töten.«

Er zögerte nicht, ihre Hand mit seiner zu umfassen. »Das sind die Untoten. Maxim versucht, mich von der anderen Seite her in eine Falle zu locken.« Endlich ergab jetzt alles einen Sinn, und in gewisser Weise war es eine Erleichterung zu wissen, dass er nicht verrückt war. Er hatte seine Gefährtin nicht angegriffen. Ihm war gar nicht der Gedanke gekommen, wie angreifbar er in der Welt der Schatten sein würde, doch er hätte das bedenken müssen. Sein Körper lebte, und ein Teil seines Geistes war wieder zu dem eines Lebenden geworden, was bedeutete, dass den Toten bewusst sein würde, dass er nicht zu ihnen gehörte.

»Wie kann er das, da er doch tot ist?«

»Maxims Geist verweilt noch im Land der Schatten, und dort ist auch mein Geist. Er muss mich von innen heraus angreifen.« Manolito zog MaryAnn in seine Arme. »Ich will nicht, dass deine letzten Erinnerungen an deinen Gefährten Zurückweisung und Ärger sind. Ich kann nicht glauben, dass Maxim sich Zugang zu dem Geist eines so kampferprobten, ausgefuchsten Karpatianers, wie ich es angeblich bin, verschaffen konnte. Ich bin seinem Einfluss wie ein unerfahrener grüner Junge erlegen.« Manolito hob ihre Hand an seinen Mund und küsste ihre Fingerknöchel. »Verzeih mir, MaryAnn. Ich hätte dir um nichts auf der Welt wehgetan. Es ist mein Privileg, dich zu beschützen, und schon bei der ersten Prüfung habe ich versagt.«

»Nein, das hast du nicht«, widersprach sie. »Sag mir einfach nur, wie wir ihn dazu bringen können aufzuhören.« Denn was immer auch Maxim ihm antat, quälte Manolito; das konnte sie in seinen Augen sehen und in seinem Bewusstsein spüren. »Sag mir, was es dazu braucht.«

»Ich muss ganz in jene andere Welt hinüberwechseln. Aber das bedeutet, dass mein Körper hierbleibt und schutzlos und leicht angreifbar sein wird. Falls sie dich umbringen oder meinen Körper zerstören, bin ich verloren. Sie müssen einen Plan haben.«

MaryAnn schob das Kinn vor. »Ich kann dich dorthin begleiten. Ich bin ziemlich sicher, dass ich weiß, wie.«

Manolito schüttelte den Kopf. »Nein. Das ist viel zu gefährlich. Ich kann mich durch die Schattenwelt bewegen, weil mein Geist dorthin gezogen wurde, aber du lebst und gehörst nicht in dieses Reich. Sie würden sofort auf dich aufmerksam werden, wenn du es betrittst. Ich glaube, dass sie dich dort töten können.«

»Und ich glaube, dass dieser Maxim bereits dabei ist, dich in jener anderen Welt zu töten.«

»Er wird mich nicht töten.« Manolito nahm ihr Kinn in seine Hand. »Hör mir zu, MaryAnn. Es ist wichtig. Ich war verärgert, als ich merkte, dass ich mich veränderte und zum Werwolf wurde, so wie du dich veränderst und Karpatianerin wirst, aber ich war nicht wütend aus den Gründen, die du mir unterstellst. Auch nicht aus denen, die ich dir genannt habe. Was auch immer für einen Einfluss Maxim auf mich haben mag, im Moment denke ich völlig klar. Andere Frauen mit übersinnlichen Fähigkeiten sind erfolgreich in Karpatianerinnen verwandelt worden. Es ist ein schmerzhafter Prozess, doch sie sind gesund und glücklich und scheinen sehr zufrieden zu sein mit ihrem Leben. Ich erwarte nicht weniger für dich.«

Er beugte sich vor, um einen Kuss auf ihren Oberkopf zu hauchen. »Die Entdeckung des Wolfes verändert allerdings die Situation. Es gibt keinen Präzedenzfall. Wir haben keine Ahnung, was dir widerfahren könnte, wenn ich dich verwandle. Und wir wissen auch nicht, wie sich der Wolf in mir auswirken würde. Ich kann spüren, dass ich aggressiver und dominanter bin, und du hast mir ja schon zu verstehen gegeben, dass du auf diesem Gebiet ein Problem mit mir hast. Ich will nicht dein Leben riskieren, MaryAnn. Bis wir mehr wissen, müssen wir auf der Hut sein. Ich könnte gefährlich werden, und du könntest getötet werden. So, wie die Dinge liegen, wissen wir das einfach nicht.«

MaryAnn schmiegte sich an ihn, weil sie ihn berühren musste und Panik in ihr hochstieg, denn mit seinem Blick stimmte etwas nicht. »Bleib bei mir«, flüsterte sie und klammerte sich an seine Hand. »Bleib bei mir, Manolito.«

»Ich muss dorthin zurück. Was auch immer Maxim tut, spielt sich dort in der Welt der Schatten und der Geister ab. Ich kann nicht an zwei Orten zugleich sein und Maxim bekämpfen.«

»Dann begleite ich dich.«

»Das kannst du nicht. Mein Körper wird hier bei dir bleiben und völlig schutzlos sein. Ich übermittle meinem Bruder eine Nachricht, sofort hierherzukommen und dich in Sicherheit zu bringen. Er wird wissen, wie er mit meinem Körper verfahren soll.« Manolito nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände und strich mit den Daumen über ihre seidig weiche Haut. »Du bist der wichtigste Mensch in meinem Leben, MaryAnn. Ich kann nicht riskieren, dich zu verlieren. Bitte tu, was ich dir sage, und warte hier, wo du geschützt bist, bis Riordan kommt. Ich kann mir nicht Sorgen um dich machen und gleichzeitig Maxim bekämpfen.«

Sie starrte zu seinen glitzernden schwarzen Augen auf und erkannte, dass sie ihn nicht aufhalten konnte. Er glaubte, sie beschützen zu müssen, und das würde er auch tun. Er würde für sie sterben. Für sie töten. Er würde alles für sie tun. Ungeachtet der Konsequenzen für ihn selbst würde er dorthin gehen, wo der Vampir ihm gegenüber sehr im Vorteil war.

Sein Lächeln war sanft und zärtlich, als er mit dem Daumen über ihre Unterlippe strich. »Wie kommst du darauf, dass er mir gegenüber im Vorteil ist, csitri

»Er ist gemeiner und viel gerissener als du. Und er hat Zeit gehabt zu planen.«

Manolitos Lächeln vertiefte sich, bis es ausgesprochen wölfisch wirkte.

»Ich glaube nicht, dass du dir Sorgen machen musst, wer gemeiner oder gerissener ist. Er hat Zeit gehabt zu planen, doch er verlässt sich darauf, dass ich versuche, in dieser Welt zu bleiben. Er wird andere herschicken. Und sie werden kommen, also bleib hier, bis Riordan dich abholt.«

Er verblasste schon, sein Geist entfernte sich, von ihr und von der Welt der Lebenden. MaryAnn versuchte, ihn zurückzuhalten, aber es war sinnlos. Er war fort, und nur sein Körper war geblieben, eine leere Hülle, verblasst und ohne Leben. Es war gerade noch genügend Willenskraft in ihm, um sich auf den Boden zu setzen, mit dem Rücken gegen das Geländer, und dann war auch dieser Rest von Leben verschwunden, und sie hörte seinen Ruf.

Riordan. Ich brauche dich ganz dringend. MaryAnn ist ohne Schutz, und der Vampir wird jeden schicken, den er hat, um sie zu töten. Du musst zu ihr gehen.

Die Stimme in seinem Kopf, die antwortete, klang undeutlich und dämonisch. Sie konnte gerade erkennen, dass er eine andere Sprache sprach, die sie nicht verstand. Verwirrt zog Manolito sich zurück. Die Stimme war so verzerrt, dass er nicht entscheiden konnte, ob er mit seinem Bruder kommunizierte oder nicht.

MaryAnn atmete tief ein und wieder aus. Sie konnte das. Sie hatte ihren Geist schon erfolgreich mit Manolitos verschmolzen, wenn sie es gewollt hatte; sie konnte das Gleiche auch bei Riordan versuchen. Sie musste nur dem ursprünglichen Pfad folgen, den Manolito benutzt hatte.

Riordan. Ihr erster Versuch war zögerlich, aber sie spürte, wie er sich regte und sogleich die Verbindung zu ihr aufnahm.

MaryAnn. Was ist mit Manolito? Juliette und ich sind unterwegs, um Solange und Jasmine zu der Ranch zu bringen. Niemand ist hier sicher. Ich kann spüren, dass er in Schwierigkeiten steckt, doch ich kann ihn nicht erreichen.

Sie schluckte die Furcht hinunter, die in ihr aufstieg. Wie lange werdet ihr brauchen, um hierher zurückzukommen? Ihr drehte sich fast der Magen um, aber sie bohrte ihre Fingernägel in das Geländer und wartete.

Wir machen uns sofort auf den Rückweg. Wenn wir Jasmine und Solange nach Hause zu den anderen bringen, können wir dir nicht rechtzeitig zu Hilfe kommen. Wir kehren um, also halte durch. Kannst du Manolito erreichen und ihn in dieser Welt zurückhalten ?

MaryAnn warf einen Blick auf Manolitos Körper. Wenn sie versuchte, ihn in dem Schattenreich zu finden, würde sein Körper völlig schutzlos sein. Ich kann zu ihm, wenn ihr hier seid, und ich weiß, dass ich ihn zurückholen kann. Sie legte weit mehr Zuversicht in ihre Stimme, als sie tatsächlich verspürte. Zu akzeptieren, dass sie übersinnliche Fähigkeiten hatte und sich telepathisch verständigen konnte, fiel ihr nicht leicht. Ihr Verstand sagte ihr immer noch, dass sie verrückt war. Beeilt euch, Riordan. Ich glaube nicht, dass uns viel Zeit bleibt.

Die Affen in den Bäumen kreischten warnend. Vögel flogen auf und brachten mit ihrem Flattern Bewegung in die Luft, sodass MaryAnn die Eindringlinge riechen konnte. Ein Jaguar. Ein Mensch, den sie für einen Magier hielt. Er hatte den Geruch an sich, den sie mit Vampiren in Verbindung brachte. Und noch ein anderer. Ihr Herz raste, als sie angewidert die Nase rümpfte. Der Wind trug den Geruch von Fäulnis zu ihr herüber. Ein Vampir? Sie war nicht gerüstet für eine Begegnung mit einem Untoten.

MaryAnn lief zu dem Geländer und warf einen Blick hinunter. Oh ja. Sie steckte bis zum Hals in Schwierigkeiten. Der Jaguar trat gerade aus den hohen Farnen am Ufer hervor. Sein Fell war dunkel vor Nässe, und während sie noch zu ihm hinunterblickte, hob er den Kopf und sah sie an. Ihre Blicke begegneten sich, und er fletschte die Zähne.

Unwillkürlich strich sie mit der Hand über ihren Schenkel. Zum Glück hatte Manolito sie mit einem Paar Designer-Jeans versorgt, von einem ihrer liebsten, sodass sie also zumindest gut aussehen würde, wenn sie starb. Sie atmete tief durch und überdachte ihre Möglichkeiten. Wenn sie losrannte, würden sie ihr vielleicht folgen, aber sie bezweifelte, dass alle drei sich an ihre Fersen heften würden, und das würde Manolitos Körper in Gefahr bringen. Sie würden ihn auf jeden Fall zerstören – und mit seinem Körper auch ihn selbst.

Du musst von dort verschwinden, MaryAnn. Der Magier wird die Schutzzauber aufheben, und du kannst dich nicht einem Jaguar, einem Magier und einem Vampir stellen. Geh jetzt.

Manolitos Stimme war weit entfernt und schwach, sein Geist in einer völlig anderen Welt.

Ich lasse deinen Körper nicht für sie zurück. Riordan ist schon auf dem Weg hierher.

Du darfst nicht zu lange warten. Du kannst dich nicht allein einem Vampir entgegenstellen.

Das wollte sie auch ganz bestimmt nicht, weder allein noch mit einer ganzen Armee im Rücken. Ich denke, du brauchst dir keine Sorgen zu machen, dass ich ihnen zu nahe komme.

Er schien so weit entfernt zu sein, dass sie die aufsteigende Panik niederkämpfen musste.

Wie war er ihr so schnell so wichtig geworden? Sie hatte gedacht, es sei nur körperliche Anziehung und nichts weiter. Er war so unglaublich gut aussehend. Und kein Mann hatte sie je so angeschaut wie er. Sie war intelligent genug, um sich darüber im Klaren zu sein, dass Frauen sich von der Aura der Gefahr, die ihn umgab, und seiner ausgeprägten Männlichkeit angezogen fühlten, doch sie selbst war zu vernünftig, um sich deswegen für einen Mann zu interessieren. Vielleicht hatte sie die ganze Zeit gewollt, dass es nur der sexuelle Reiz zwischen ihnen war, weil sie sich dann sicher wähnte.

Manolito De La Cruz zu lieben wäre ungefähr genauso gefährlich, wie von einem Kliff zu springen.

MaryAnn atmete tief aus. Irgendwann war sie bereits gesprungen, ohne es zu merken. Es spielte keine Rolle, dass er ein Karpati-aner war und sie ... was auch immer. Manolito war ihre andere Hälfte, und sie würde ihn am Leben erhalten. Sie würde alles in ihrer Macht Stehende tun, um ihn aus jener anderen Welt zurückzubringen, zurück ins Land der Lebenden, zurück zu ihr.

Sie stand auf, damit der Jaguar sie besser sehen und die Herausforderung spüren konnte. Er sollte sehen, dass er sich auf einen Kampf gefasst machen musste. Denn Manolitos Körper würden sie nicht bekommen. Sie würde einen Weg finden und sich all ihre Fähigkeiten zunutze zu machen, um Manolito zu beschützen, bis Riordan kam und das für sie übernehmen konnte. Und dann würde sie ins Land der Nebel und Geister marschieren – oder wie auch immer Manolito es nannte – und ihn dort herausholen.

Unter ihr fauchte der Jaguar antwortend und entblößte dabei Furcht erregend lange Zähne. Er gab es auf, seine Absichten noch länger zu verbergen, und sprang auf den Stamm eines hohen Baumes. Mit seinen scharfen Krallen zog er sich auf den niedrigsten Ast hinauf und begann, über den Pfad aus dicken, sich überlappenden Zweigen zu laufen. Die Augen der Katze glühten bösartig, als sie auf sie zurannte.

MaryAnn sah den Jaguar kommen, und ihr Puls pochte buchstäblich im Rhythmus seiner Pfoten auf den Zweigen, von denen viele kleinere abbrachen, als die große Raubkatze immer näher kam. MaryAnns Brust wurde schmerzhaft eng, zu eng, und ihr Kopf tat weh, als wäre ihr Gehirn angeschwollen und passte nicht mehr in ihren Schädel hinein. Ihre Zähne und ihr Kiefer schmerzten; ihre Muskeln zogen sich zusammen. Ihre Haut kräuselte sich, als lebte irgendetwas darunter. Ihre Fingerspitzen begannen sich zu spalten, während sie sich krümmten und nach innen bogen. Ihr war, als würde sie in ein enges, winziges Fach gezwängt, in einen Bereich, aus dem es kein Entkommen gab.

Panik schränkte ihr Sichtfeld ein, sodass sie an seinen Rändern nur noch Schwärze sah. Sie konnte spüren, wie ihr eigenes Ich und alles, was sie ausmachte, in einen Strudel hineingezogen wurde, wie sie herumwirbelte und schrumpfte, bis sie immer kleiner wurde.

Von wilder Furcht gepackt, streckte sie die Hände nach dem Geländer aus, um sich festzuhalten – und fuhr mit einem entsetzten Schrei wieder zurück. Scharfe Krallen bohrten sich in das hölzerne Geländer und hinterließen Rillen darin, während sie tief durchatmete, um den Eindruck zu verdrängen, bei lebendigem Leib verschluckt zu werden. Mit ausgestreckten Pranken griff der Jaguar sie an, und sie sprang zurück, wobei sie über Manolitos Beine stolperte und hart auf ihrem Po aufkam.

Der Jaguar prallte gegen eine unsichtbare Wand, stürzte ab und schlug verzweifelt mit seinen Pranken um sich, um an den Ästen und Zweigen, durch die er hinunterkrachte, Halt zu finden.

MaryAnn stand langsam auf und blickte vorsichtig hinunter. Der Jaguar war auf einem der größeren Äste aufgeschlagen und hatte es geschafft, sich daran festzuklammern, und nun lag er hechelnd und mit zitternden Flanken da und rang nach Atem. Unterhalb der Raubkatze trat ein Mann aus dem dichteren Laubwerk und hob die Hände. Ein Magier. Und einer, der etwas von seinem Handwerk zu verstehen schien. Im Gegensatz zu dem anderen Magier, der unentschlossener vorgegangen war, begann dieser Mann, mit flinken, entschiedenen Bewegungen Manolitos Schutzzauber außer Kraft zu setzen. Die unsichtbaren, aber sehr fest miteinander verwobenen Fäden fingen an, sich so schnell aufzulösen, dass MaryAnn sie beinahe fallen hören konnte.

Sie kniff die Lippen zusammen und zwang sich, die Panik aus ihrem Bewusstsein zu verdrängen. Sobald der Magier die Schutzzauber entfernt hatte, würde der Jaguar sie wieder angreifen. Möglicherweise gelang es ihr, die Raubkatze zu töten, doch sie wusste überhaupt nichts darüber, wie man Vampire bekämpfte. Und der Magier war auch gefährlich. Was hatte sie beim letzten Mal getan, um den Magier zu töten? Sie konnte sich nicht erinnern. Sie hatte ihn nicht absichtlich getötet, sondern nur gewollt, dass er das Feld räumte und sie in Ruhe ließ.

Die Affen kreischten den Jaguar an und bewarfen ihn mit Zweigen. Die große Katze fauchte und sprang eins der kleineren Tiere in den niedrigeren Ästen an. Sofort begann die gesamte Affengemeinde vor Wut zu rasen und veranstaltete einen ohrenbetäubenden Lärm. MaryAnn merkte, dass der Magier die von Manolito errichtete Geräuschbarriere schon beseitigt hatte.

Riordan. Komm schnell, flehte sie und versuchte, ihm einen Eindruck von dem Magier, dem Vampir und Jaguar zu übermitteln.

Sie konnte seine jähe Angespanntheit spüren. Kannst du von dort verschwinden?

Ich kann Manolitos Körper nicht schutzlos hier zurücklassen. Ich glaube nicht, dass mir viel Zeit bleibt, bevor der Magier die Sicherheitsvorkehrungen durchbricht. Er scheint zu wissen, was er tut.

Manolito wird ein paar Überraschungen mit eingewoben haben, doch wahrscheinlich wollte er vor allem ungestört mit dir sein und rechnete nicht mit einem direkten Angriff auf euch zwei.

»Beeil dich einfach nur.« Die letzten Worte sprach sie laut aus.

Es musste einen Weg geben, den Magier abzulenken. MaryAnn konzentrierte sich auf ihn, auf sein Gesicht, seinen Ausdruck, die Bewegungen seiner Lippen, als er die von Manolito erzeugten Schutzzauber aufhob. Wie konnte sie ihn daran hindern? Oder ihn zumindest aufhalten? Das Beste wäre, wenn sie die Erde unter seinen Füßen irgendwie dazu bringen könnte, sich zu einem schönen großen Spalt zu öffnen, der jedem seiner Schritte folgen würde, falls er versuchen sollte, ihm zu entkommen.

Der Baum schwankte, der Erdboden unten erbebte und riss den Magier von den Füßen. Er funkelte MaryAnn böse an, als er auf allen vieren zurückkrabbelte und versuchte, dem immer breiter werdenden Spalt im Boden auszuweichen. Ihr stockte der Atem, und sie erstarrte. Bewirkte sie all das? War das möglich? Konnte sie tatsächlich einen Ast über dem ersten Magier abgebrochen und auf ihn herabgeschleudert haben? Der Gedanke widerstrebte ihr, aber er stimmte sie auch zuversichtlicher. Doch wie bewirkte sie das alles ? Was hatte sie sonst noch verursacht? Wozu war sie sonst noch fähig?

Zum ersten Mal keimte wieder Hoffnung in ihr auf. Die aufgeregt umherspringenden Affen erregten ihre Aufmerksamkeit. Sie bewarfen nicht nur den Jaguar mit Blättern und Zweigen, sondern auch den Magier, als wären sie ihre, MaryAnns, Verbündete. Sie holte tief Luft und ließ sie langsam wieder entweichen. Waren die Tiere ihr gefolgt? Hatten sie ihr gehorcht, als sie ihnen befohlen hatte zu verschwinden? Und die Jaguare, selbst die verwandlungsfähigen, hatten innegehalten, als sie den Befehl gegeben hatte. Sie hatte sie nicht lange zurückgehalten, doch ein paar Sekunden lang hatten auch sie gehorcht.

Sie rieb sich den Kopf, der pochte, als würde er jeden Moment auseinanderbrechen. Ihre Brust fühlte sich so eng an; alles in ihr schien sich zu erweitern, während sie selbst sich zusammenzog und immer kleiner wurde. Ihr Körper schien ihr nicht mehr zu passen, und harte Knoten bildeten sich an jedem Muskel unter ihrer Haut. Es war einfach zum Verrücktwerden und verstörte sie zutiefst. Für einen Moment war sie so erschüttert, dass sie nur noch fliehen wollte, aber dann fiel ihr Blick auf Manolito, der reglos und mit leeren Augen dasaß, obwohl sein Körper noch genauso lebendig, stark und männlich schien wie immer. Er schreckte nicht davor zurück, sie zu beschützen, und sie hatte nicht vor, ihn hier allein zurückzulassen.

MaryAnn straffte ihre Schultern und blickte zu den Tieren in dem Blätterdach empor. Es waren so viele. Allein schon ihre Anzahl war beruhigend. Wir mögen diesen bösen Mann nicht, was? Er versucht, mir wehzutun. Werft etwas nach ihm. Schöne, dicke Äste. Jagt ihn fort. Lasst nicht zu, dass er seine Arme so erhebt.

Die Affen gerieten völlig außer sich, sprangen auf und nieder und schüttelten die Äste der Bäume, rannten hin und her und fletschten ihre Zähne und schlugen sich an die Brust, als ihre Erregung zunahm und sie immer aggressiver wurden. Und MaryAnn entwickelte allmählich ein Gefühl für die Steuerung ihrer Energie. Zuerst war es noch nicht sehr ausgeprägt, aber als die Tiere reagierten und sich die Energie um sie herum erhöhte, wurde sie sich ihrer nur zu gut bewusst. Und so holte sie tief Luft und begann, ihre Macht gezielter einzusetzen, diesmal bei dem zähnefletschenden Jaguar.

Dieser Mann gehört nicht in euer Reich. Sie haben versucht, euch zu versklaven. Sie haben euch alles genommen und eure Spezies beinahe ausgelöscht. Seht sie als das, was sie tatsächlich sind. Der Vampir hat dich gezeichnet. Du warst einst ein stolzer Mann; jetzt tust du das, was andere dir befehlen. Sie gehören nicht hierher.

Der Jaguar wirkte sehr verwirrt und schüttelte immer wieder seinen breiten Kopf. Er machte ein paar Schritte auf den Baum zu, als wollte er sie wieder angreifen, aber dann blieb er stehen und fing an, am ganzen Leib zu zittern.

Der Magier rief ihm einen Befehl zu und zeigte auf MaryAnn.

Warum darf dieser Mann dir sagen, was du zu tun hast? Ist er dein Herr? Gehörst du ihm? Du bist ein Jaguar. Dir gehört der Regenwald. Wer sich darin aufhält, sollte es mit deiner Erlaubnis tun und nicht umgekehrt.

Der Jaguar fauchte und drehte sich mit wild funkelnden Augen nach dem Magier um. Dann kauerte er sich wie zum Angriff nieder. Der Magier erschrak zunächst, aber dann begann er, leise vor sich hin zu reden und zu skandieren, während seine Hände in rascher Folge Muster vor ihm in der Luft beschrieben.

Pass auf! Er versucht, seine Macht gegen dich einzusetzen. Sieh ihn an. Er belegt dich mit einem Zauber. Greif ihn an, bevor er fertig ist. MaryAnn legte aufrichtige Besorgnis und großen Nachdruck in ihre Gedanken.

Der Jaguar fauchte den Magier an und zeigte ihm seine Zähne, während er ein paar Schritte auf den Mann zutat. Der Magier wich zurück, und diesmal streckte er eine Hand aus, um die große, bedrohliche Raubkatze zurückzuhalten.

Die dichte Hecke aus Farnen welkte und färbte sich braun, fächerartige Wedel knickten kraftlos ein, als ein dritter Mann aus dem Gebüsch heraustrat. Er war schön und grotesk zugleich. MaryAnn blinzelte ein paarmal, um seine wahre Gestalt klarer zu erkennen. Mit einer beiläufigen Handbewegung brachte er die Affen zum Verstummen. Dann sagte er etwas zu dem Jaguar, und auch die Raubkatze hielt inne.

MaryAnn befeuchtete ihre Lippen, die plötzlich trocken geworden waren. Sie hatte einen Vampir vor sich – den Inbegriff des Bösen. Er blickte zu ihr auf und lächelte. Seine spitzen Zähne waren blutbefleckt, die Haut umspannte seinen Schädel viel zu straff. Im nächsten Moment jedoch war er ein gut aussehender Mann mit einem breiten, einnehmenden Lächeln.

»Komm zu uns herunter und leiste uns Gesellschaft«, forderte er MaryAnn mit sanfter Stimme auf.

Sie spürte das Summen in ihrem Kopf und erkannte darin den unterschwelligen Zwang in seiner Stimme. MaryAnn rang sich ein Lächeln ab und wartete dann ein paar Herzschläge lang, um genügend Energie in ihrer Stimme und ihrem Geist zu sammeln, damit sie seine eigene Suggestivkraft gegen ihn selbst verwenden konnte. »Mir geht es eigentlich ganz gut hier oben. Bemüh dich also nicht und geh ruhig wieder.«

Der Vampir blinzelte und runzelte die Stirn. Dann schüttelte er den Kopf, als könnte er sich nicht erinnern, was er vorgehabt hatte.

»Nur zu, du willst doch gehen. Also geh auch ruhig.« Sie legte ihre ganze Macht in ihre Stimme.

Für einen Moment gehorchte er, wandte sich von ihr ab und ging wieder auf die Farne zu.

MaryAnn stockte der Atem, und sie beeilte sich, den anderen Tieren ihren Befehl zu übermitteln. Los jetzt! Greift ihn an. Ihr alle. Beeilt euch. Vernichtet sie, bevor sie euch vernichten.

Der Jaguar sprang den Vampir von hinten an und schlug ihm tief die Fänge in den Schädel. Gleichzeitig stürzten sich die Affen auf den Magier, bissen und schlugen ihn und attackierten ihn wie eine ganze Heerschar von Soldaten. Selbst die Vögel flogen auf und flatterten dann um die Kämpfenden herum, um die Angreifer mit ihren scharfen Krallen zu unterstützen.

Der Magier stürzte unter dem Ansturm solcher Mengen von Affen. MaryAnn wollte sich abwenden, weil ihr ganz übel wurde von dem Anblick, als der Jaguar erneut zubiss und Blut aus der Wunde herausschoss und in Strömen über den Kopf des Vampirs lief. Er brüllte auf vor Wut und packte den Jaguar mit beiden Händen, zog die Raubkatze mit seiner enormen Kraft von sich herunter und verdrehte ihr das Genick. Selbst inmitten des Geschreis der Affen und der Vögel konnte MaryAnn das Knacken hören.

Der Vampir blickte zu dem Magier hinüber, der unter einem Berg von Affen begraben war, und drehte sich langsam wieder zu MaryAnn um. Sein Kopf war zerbissen, der Schädel gebrochen von dem starken Biss des Jaguars, aber das schien dem Untoten nichts auszumachen. Seine Augen glühten wie rötliche Flammen, sein Mund war weit geöffnet und sein Gesicht nur noch eine hassverzerrte Fratze.

Einen Moment lang stand er da und starrte MaryAnn an. Dann krümmte er die Finger und ließ seine Nägel zu langen, scharfen Krallen wachsen. Ohne den Blick von ihr abzuwenden, flog er durch die Luft, landete auf dem Baum neben ihrem und begann, sich an dem Stamm hinaufzuschlängeln. Er sah furchtbar aus. Abscheulich. Wie einer der Vampire aus den Filmen, eine dunkle, unnatürliche, durch und durch böse Erscheinung, die darauf aus war, sie zu töten – und Manolito zu vernichten.

Im ersten Moment war MaryAnn zu Tode erschrocken. Der Schutzzauber würde nicht mehr lange halten. Er war eigentlich nicht so sehr zu ihrem Schutz, sondern mehr als Geräuschbarriere gedacht gewesen. Und Riordan war nicht hier, um sie zu retten. Um zu überleben und Manolitos Körper zu beschützen, musste sie schnellstens etwas unternehmen.

Schon spürte sie wieder die Macht in sich aufsteigen. Ihr Kopf dröhnte erneut, und dieses Mal sogar noch stärker. Als würde ihr Körper den Weg schon kennen und wartete nur noch auf ihre Erlaubnis. Die Vorstellung, ihr eigenes Ich loszulassen und das, was in ihr war, herauszulassen, war fast noch beängstigender als der Vampir, der den Baum hinaufstieg.

Ihr Kiefer schmerzte und pochte, ihre Bänder und Sehnen dehnten sich, während die Muskeln in ihrem Körper sich zusammenzogen und zu schmerzhaften Knoten verhärteten, die sie unschwer unter ihrer Haut erkennen konnte. Ihr drehte sich der Magen um, und wieder kämpfte sie ihre Panik nieder. Selbst wenn sie das hier nicht für sich tun wollte, musste sie es für Manolito tun.

Bilder schossen ihr so blitzartig durch den Kopf, dass ihr ganz übel davon wurde. Sie zogen so schnell vorüber, dass sie sie weder unterscheiden noch richtig sehen konnte, aber es waren Bilder von Wölfen, die auf zwei Beinen gingen. Eine kollektive Erinnerung. Ihre Haut spannte sich und wurde viel zu straff. Ihre Sicht umwölkte sich, bis sie nur noch Bot und Schwarz wahrnahm. Wieder krümmten ihre Finger sich zu Klauen, ohne dass sie etwas dagegen unternehmen konnte. Ein wahnsinniger Schmerz durchzuckte sie.

Sie versuchte, zu atmen und sich zu zwingen loszulassen, aber ihr Verstand weigerte sich nachzugeben. Ihr Kopf ließ es nicht zu. Was, wenn sie für immer gefangen blieb in diesem Zustand?

Der Baum schwankte, der Vampir kreischte, und der schrille Laut ging ihr durch Mark und Bein und krampfte ihr vor Furcht das Herz zusammen. Er war auf den Rand der Plattform gesprungen, stand direkt vor dem Geländer und beeilte sich, den Schutzzauber außer Kraft zu setzen. Ihr blieben nur noch Sekunden, um sich zu entscheiden.

MaryAnn legte ihre Hand auf Manolitos Schulter und berührte sein Gesicht. Er war woanders und kämpfte für sie. Er verließ sich darauf, dass sein Bruder kam und seinen Körper beschützte, doch sie war alles, was er hatte. Sie atmete tief ein und wieder aus.

Sogleich spürte sie, wie ihr eigenes Ich in einen Strudel hineingerissen wurde und innerlich schrumpfte. Sie war sich dessen voll bewusst, aber ihre Herrschaft über ihren eigenen Körper ließ rapide nach. Alles in ihr bestürmte sie zu widerstehen, aber sie hielt ihren Blick auf Manolito gerichtet, und sein Anblick gab ihr den Mut, sich dem Unvermeidlichen zu beugen.

Während das, was MaryAnn ausmachte, sich immer mehr zurückzog, sprudelte die Wut des Wolfes aus ihr heraus, und sie konnte die unabwendbare Macht des Tieres spüren, seine immense körperliche Kraft und Willenskraft. Es war ihr Wächter, ihr Beschützer, der jetzt ihren Platz einnahm und ihre Muskeln, Knochen und Gelenke streckte und dehnte, um sie seinem kraftstrotzenden Körper anzupassen.

MaryAnn merkte, wie ihre Haut aufriss, verspürte aber keinen Schmerz dabei. Sie fühlte auch nicht, wie ihre Knochen und ihr Körper sich verformten oder ihre Organe sich verlagerten; da war nur tief in ihr das Gefühl, beschützt und sicher zu sein.

In diesem Moment durchbrach der Vampir die Barriere und stürzte sich mit einem hasserfüllten Zischen auf Manolitos Körper. Die Wölfin warf sich dazwischen, und noch im Sprung vollzog sich die Verwandlung ihren Körpers. Sie prallten zusammen, die Wölfin knurrend, der Vampir mit einem schrillen Kreischen. Überall im Wald brach ein wahnwitziges Geschrei aus, als die Affen und Vögel auf den schrecklichen Lärm des Kampfes reagierten.