13. Kapitel
Manolito, der die jähe Anspannung in ihr spürte, legte zärtlich eine Hand unter ihr Kinn. »Warum sollte mich ängstigen, was in dir ist? Ich kann dein Licht so hell strahlen sehen, dass es niemals nötig sein wird, sich vor irgendeinem Teil von dir zu fürchten.«
Sie senkte den Kopf, sodass ihr langes Haar fast ihr Gesicht verdeckte. »Vielleicht durchschaust du mich nicht so gut, wie du glaubst.«
»Dann sag mir, was dich so belastet.«
»Ich weiß nicht, wie ich es dir beschreiben soll. Ich kann es nicht sehen, nur spüren, und es jagt mir eine Höllenangst ein.«
Er schwieg einen Moment und versuchte, einen Weg zu finden, wie er es ihr erleichtern konnte, sich ihm anzuvertrauen. Denn das wollte sie. Es war nicht so, dass sie ganz bewusst etwas vor ihm verbarg, aber sie rang mit sich, um mit irgendetwas zurechtzukommen, das sie nur vermutete, und war noch nicht so weit.
»Erzähl mir von deiner Kindheit«, sagte Manolito in sanftem Ton, ohne seine dunklen Augen von ihr abzuwenden.
Sie begann, sich sichtlich unbehaglich zu fühlen, und rückte ein Stückchen von ihm ab. »Meine Kindheit war normal. Du würdest sie wahrscheinlich langweilig finden, aber mir hat sie gefallen. Ich habe wunderbare Eltern. Mom ist Ärztin, und Dad gehört eine kleine Bäckerei. Als junges Mädchen habe ich dort mitgeholfen und mir den größten Teil des Geldes für das College selbst verdient. Als Einzelkind war ich ein bisschen einsam, doch dafür hatte ich jede Menge Freunde in der Schule.«
Manolitos Blick glitt über ihr Gesicht, über ihre Augen und den heftig pochenden Puls an ihrer Kehle. »Irgendetwas muss damals geschehen sein. Dinge, die dir unerklärlich waren. Erzähl mir davon.«
MaryAnns Herz begann, in ihren Ohren zu dröhnen, und sie spürte, wie ihr der Atem stockte. Sie wollte nicht an diese Dinge denken, denn es hatte jede Menge davon gegeben, Vorfälle, für die es keinerlei Erklärung gab. Sie entfernte sich noch ein bisschen mehr von Manolito, sodass ihre Körper sich nicht mehr berührten, für den Fall, dass er ihre Gedanken lesen konnte. Und da spürte sie, wie sich etwas in ihr regte; es bewegte sich und stieß sie schon beinahe fragend an. Brauchst du mich? Was ist?
Sie sog scharf den Atem ein, biss sich auf die Lippe und versuchte, die Wahrheit wieder in diesen tiefen Abgrund zu verdrängen, wo sie sich ihr niemals stellen musste. Hier draußen im Dschungel, wo alles so wild war, dass es »töten oder getötet werden« hieß, und sie sich völlig unbekannten Feinden gegenübersah, konnte sie dieses andere Wesen, das sich in ihr entfaltete, nicht länger zurückzuhalten.
Manolito verhielt sich ganz still; er bewegte keinen Muskel, als er spürte, wie sie sich plötzlich von ihm entfernte, nicht nur von ihm, sondern auch von etwas, das ihr nahe genug gewesen war, um es zu sehen. Sie hatte wieder diese unüberwindliche Barriere zwischen ihnen errichtet, um zu verhindern, dass auch er es sah. Und im selben Moment, als sie ihre geistige Verbindung unterbrach, wurde er sich wieder der anderen Welt bewusst, in der er immer noch verweilte.
Die Farben um ihn herum wurden sichtlich blasser, und die Geräusche des Regenwaldes verstummten, bis absolute Stille ihn umgab. Merkwürdigerweise war sein Geruchssinn jetzt sogar noch ausgeprägter, genau wie sein Gehör. Er konnte nicht nur die Tiere ringsum bestimmen, sondern auch ihren genauen Aufenthaltsort wahrnehmen. Er brauchte dafür nicht erst seine geistigen Fühler auszustrecken; seine Nase und seine Ohren übermittelten ihm die Information. Je länger er im Schattenreich verweilte, desto schärfer wurden seine Sinne. Nur seine Sicht war irgendwie anders, etwa so, als nähme er die Gestalt eines Tieres an, aber trotzdem konnte er noch immer sofort jede Bewegung sehen. Ihm gefiel nur nicht das Graue in den Farben, weil es ihn zu sehr an die Jahrhunderte der Dunkelheit erinnerte.
Er ergriff MaryAnns Hand und umklammerte sie ganz fest. Seit er Luiz unter die Erde gebracht hatte, war ihm undeutlich bewusst gewesen, dass das Reich der Finsternis und Schatten sich in seinen Geist und seine Sicht einschlich, doch es war so weit entfernt gewesen, als hätte er sich viel mehr der Welt genähert, in der sich Mary-Ann aufhielt. Jetzt, ohne die geistige Verbindung zwischen ihnen, verschlang das Grau wieder die Farbe.
Manolito drückte beruhigend ihre Hand, obwohl er sich gar nicht sicher war, wer hier eigentlich wen beruhigte. »Du bist hier bei mir sicher. Was immer du auch befürchtest, sag es mir. Geteilte Bürden sind leichter zu tragen, MaryAnn.«
Da er sich im Augenblick jeder noch so kleinen Einzelheit von ihr bewusst war, bemerkte er auch ihre große Angst, hörte ihr Herz und sah das wilde Pochen ihres Pulses. Sie hatte darauf bestanden, ihm beizustehen, und sich geweigert, ihn allein im Reich der Finsternis zurückzulassen, obwohl sie sich nicht einmal seiner sicher gewesen war. Er wollte ihr zeigen, dass er für sie nicht weniger tun würde.
Sie schüttelte den Kopf, als sie zu sprechen begann, als wollte sie sich nicht an den Zwischenfall erinnern oder darüber reden. Doch sie schien auch jemanden zu brauchen, der wusste, dass sie nicht verrückt war. »Es gab eine Zeit – ich war damals auf der High-school –, wo ich mit dem Laufen anfing. Meinen Eltern lag sehr viel daran, dass ich Sport betrieb, aber ich hatte kein Interesse. Ich war schon immer mehr ein Girlie-Typ, doch mein Dad dachte, wenn ich mit Sport anfinge, wären mir die neuesten Modetrends vielleicht nicht mehr so wichtig.«
Manolito schwieg, beobachtete die Schatten, die über ihr Gesicht glitten, und wartete darauf, dass sie sich entschloss, ihm die ganze Geschichte zu erzählen und nicht nur eine abgemilderte Version.
»Ich ging also zum Training und begann zu laufen. Zuerst konnte ich nur daran denken, dass ich stolpern, hinfallen oder mich total blamieren würde. Aber dann vergaß ich mich und wie unbequem das Laufen war, und plötzlich fühlte ich mich ...frei.« Sie atmete hörbar aus, als sie sich an das Gefühl erinnerte. »Mir war gar nicht bewusst, was ich tat, doch ich überholte alle und rannte und rannte, ohne nachzudenken. Ich verspürte überhaupt keinen Schmerz mehr, nur noch eine unglaubliche Euphorie.«
Manolito zog ihre Hand an seine Lippen und küsste ihre Fingerspitzen. »Sprich weiter, sivamet. Was hast du sonst noch empfunden? Denn das hat ja offensichtlich einen starken Eindruck bei dir hinterlassen.«
»Zuerst war es wunderbar, aber dann begann ich, ganz eigenartige Dinge zu bemerken.« Sie entzog ihm ihre Hand, als könnte sie ihm nicht ihr Herz ausschütten, solange sie ihn berührte. »Meine Knochen fingen an wehzutun, meine Gelenke knackten und knirschten, sogar meine Fingerknöchel schmerzten.« Sie rieb sie, als erinnerte sie sich noch gut an das Gefühl. »Mein Kiefer pochte, und mir war, als würde ich immer länger und dünner. Ich konnte Sehnen und Bänder schnappen hören. Ich rannte so schnell, dass ich alles um mich herum nur ganz verschwommen sah. Meine Sicht veränderte sich, mein Gehör- und Geruchssinn waren so geschärft, dass ich wusste, wo sich jeder einzelne Läufer hinter mir befand. Ich kannte die genaue Stelle, wo sie waren, und ohne hinzusehen. Ich konnte ihr Atmen hören, die Luft, die sie in ihre Lungen einsogen und wieder ausstießen. Und ich konnte auch ihren Schweiß riechen und ihre Herzen schlagen hören.«
Wie sollte sie ihm erklären, was an jenem Tag geschehen war? Wie sie gespürt hatte, dass sich in ihr etwas veränderte, das wuchs und wuchs und versuchte, aus ihr herauszukommen, um erkannt und akzeptiert zu werden. Es wollte aus ihr heraus. MaryAnn befeuchtete ihre Lippen und griff wieder nach Manolitos Hand.
»Ich war anders in dem Moment, völlig anders, und trotzdem dieselbe. Ich konnte Hindernisse überspringen, ohne auch nur mein Tempo zu verlangsamen. Jeder meiner Sinne war hellwach. Mein Körper... sang, als erwachte er zum ersten Mal richtig zum Leben. Ich kann nicht erklären, wie es sich anfühlte, mit all diesen geschärften Sinnen, die unablässig Informationen sammelten. Und dann begann ich, im Geiste Dinge zu sehen, ich hatte Visionen, die ich weder aus meinem Kopf verbannen noch verstehen konnte.«
Manolito zog tröstend ihre Hand an seine Brust. Sie schien gar nicht zu bemerken, wie aufgeregt sie inzwischen war und dass ihre geistige Verfassung sich auf die Affen in den umstehenden Bäumen übertrug. Die Luft über ihnen kam in Bewegung, als sich auch die Vögel erhoben und ängstlich tschilpend mit den Flügeln schlugen. Manolito strich mit dem Daumen über MaryAnns Handrücken und spürte harte Knötchen unter ihrer Haut, als ihre Anspannung sich noch erhöhte. »Was hast du gesehen?« Was immer es auch war, es musste sie zutiefst beängstigt haben.
»Einen Mann, der einer Frau zurief, das Baby zu nehmen und zu fliehen. Das Baby war ... ich. Ich lag in einer Wiege, und die Frau wickelte mich in eine Decke, küsste den Mann und klammerte sich verzweifelt an ihn. Draußen konnte ich Stimmen hören und sah Lichter vor den Fenstern tanzen. Der Mann küsste sie und mich ein letztes Mal und riss dann eine Falltür im Boden auf. Ich war voller Angst und Schrecken. Ich wollte ihn nicht verlassen, und sie wollte es auch nicht. Ich glaube, wir wussten beide, dass wir ihn nie wiedersehen würden.«
MaryAnn strich mit der Zungenspitze über ihre trockenen Lippen. »Das Kind war umgeben von Wald, während ich über die Bahn rannte, mein Herz und meine Schritte hörte und die anderen roch, und ich erinnere mich, dass Sterne um mich herum explodierten. Aber das geschah nicht wirklich an der Schule; die Lichter umflackerten die Frau und mich, das Kind, im Wald. Ich konnte etwas durch die Luft pfeifen hören, und dann zuckte die Frau zusammen und strauchelte. Als Nächstes war ich wieder auf der Bahn, aber zur selben Zeit rannte die Frau mit mir – dem Baby -durch den Wald.«
»War die Frau deine Mutter?«
»Nein!«, schrie MaryAnn und hätte fast noch heftiger protestiert. Aber sie nahm sich zusammen und rang nach Atem, während sie den Schock über die mögliche Bedeutung seiner Worte zu verarbeiten versuchte. »Nein, ich weiß nicht, wer sie war, aber sie war nicht meine Mutter.«
Manolito zog sie sanft zu sich heran, bis ihr Kopf an seiner Schulter lag. »Reg dich nicht so auf, sivamet.« Seine Stimme war weich wie Samt. »Beruhige dich. Die Nacht ist wunderschön, und wir unterhalten uns nur und lernen uns besser kennen. Ich bin sehr interessiert an deinem Erlebnis. Glaubst du, dass es wirklich so geschah? Wie alt warst du deiner Schätzung nach bei dieser Flucht durch den Wald? Und wo war das? In Amerika? Europa? Welche Sprache wurde dort gesprochen?«
MaryAnn atmete tief ein und blieb ganz still liegen, um seine Kraft und Wärme in sich aufzunehmen. Sie konnte fühlen, wie sie in sie hineinströmten. Manolito rührte nicht an ihren Geist, aber er übermittelte ihr Verständnis und Akzeptanz. Er akzeptierte etwas in ihr, das sie selbst ganz offenbar nicht als Teil ihrer selbst akzeptieren konnte.
»Es war kein Englisch. Ich weiß nicht. Ich hatte Angst. Große Angst.« Und jedes Mal, wenn sie einen Wald betrat, erstickte diese Angst sie fast. »Sie wollten uns töten. Ich wusste das, sogar als Baby schon. Wer auch immer das Haus in Brand steckte, wollte, dass wir alle starben, sogar ich.«
Sie konnte kaum noch atmen, so eng war ihre Brust, und ihr Herz hämmerte gegen ihre Rippen. »Die Frau rannte und rannte, aber ich wusste, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Sie war völlig aus dem Rhythmus und keuchte und rang nach Atem. Wir beide wussten genau, in welchem Moment der Mann, der in dem Haus zurückgeblieben war, gestorben war. Ich hörte ihren stummen Aufschrei, der ein Echo meines eigenen war. Trauer übermannte sie und mich, fast so, als empfänden wir genau das Gleiche. Ich wusste, dass sie verzweifelt bemüht war, durch den Wald zu einem benachbarten Haus zu gelangen. Das Haus stand für gewöhnlich leer, doch diesmal waren die Besitzer da und machten Ferien.«
Ein Erschaudern durchlief sie, und Manolito zog sie noch fester an sich. Ihre Haut war eisig kalt, und er drehte sich mit ihr um und deckte sie mit seinem Körper zu. »Du brauchst mir nicht mehr zu erzählen, MaryAnn, wenn es zu schmerzlich für dich ist«, sagte er, weil er nämlich ziemlich sicher war, dass er den Rest ihrer Geschichte kannte. Er wollte, dass sie ihm genug vertraute, um ihm alle Einzelheiten zu erzählen, doch ihre Verzweiflung steigerte sich, und mit ihr verschärfte sich auch die Unruhe der Tiere in den Bäumen um sie herum.
MaryAnn hatte noch nie mit jemandem darüber gesprochen und wollte es Manolito unbedingt erzählen. Aber die Enge in ihrer Brust nahm zu; das Gefühl, wie sie sich immer mehr zusammenzog, war grauenvoll, fast so, als würde ihr eigenes Ich an einen kleinen, dunklen Ort gezogen, um dort für immer gefangen gehalten zu werden. Sie wollte mit Armen und Beinen um sich schlagen, um sich selbst zu beweisen, dass sie sich überhaupt noch in ihrem eigenen Körper befand.
»Ich versuchte, es meiner Mutter zu erzählen, und sie sagte, es wäre ein Traum gewesen – ein böser Traum, an den ich mich beim Laufen vielleicht wieder erinnert hätte. Sie wollte nicht, dass ich weiter lief, und ich auch nicht. Ich habe es nie wieder getan. Und ich bin danach auch niemals mehr in einen Wald gegangen.« Es hatte ihren ganzen Mut erfordert, hier an diesen Ort zu kommen, um Solange und Jasmine zu helfen, um Manolito zu finden und zu versuchen, ihn zu befreien. Aber ihr Mut schwand, und jetzt wollte sie die Sicherheit ihres Zuhauses.
»Weil Wälder die Erinnerung daran auslösen?«
»Das Gefühl des Entsetzens und der Atemlosigkeit. Die Angst, eingesperrt zu werden und nie wieder herauszukönnen.« MaryAnn befeuchtete ihre trockenen Lippen und legte eine Hand um Mano-litos Nacken. Sie musste jetzt die Kraft seines viel größeren Körpers spüren, seine Hitze und das gleichmäßige Schlagen seines Herzens.
Manolito schwieg und hielt sie nur ganz fest in den Armen, während sie zu den Sternen aufschaute und die Tiere auf den Bäumen ringsum ignorierte. Erstaunlicherweise verspürte sie keinerlei Bedrohung von ihnen ausgehen, nur eine Art Verwandtschaft, eine Welle des Mitgefühls und große Besorgnis um sie. MaryAnn atmete tief ein und wieder aus. Sie würde Manolito nichts von dieser Erinnerung verschweigen, weil sie absolut sicher war, dass all das tatsächlich geschehen war, und weil es ihre einzige Möglichkeit war, endlich damit fertig zu werden.
»Die Frau kroch auf allen vieren mit mir durchs Unterholz. Wir wurden verfolgt, und sie weinte leise. Ich wusste, dass sie verletzt war, aber sie hielt mich fest und zwang sich, meilenweit zu laufen, bis wir zu einem anderen Haus kamen, dem Ferienhaus einer Dame und ihres Ehemanns, die mit der Frau befreundet waren, die mich trug. Die Dame kam heraus. Ich erinnere mich, wie entsetzt, besorgt und schockiert sie war, als sie das viele Blut sah. Die Frau übergab mich ihr und sagte, sie würden mich umbringen, wenn ich ihnen in die Hände fiele. Sie flehte die Dame an, mich zu retten.«
Wieder musste MaryAnn sich unterbrechen, weil ihre Kehle sich erneut zusammenzog und da wieder diese schreckliche Enge in ihrer Brust war, die sie jetzt immer öfter überfiel. Sie drückte ihr Gesicht an Manolitos Schulter, als sie heftig erschauderte.
»MaryAnn.« Er strich ihr übers Haar und streichelte beruhigend ihren Rücken. »Hast du die Dame erkannt? Die Nachbarin? Kam sie dir bekannt vor?«
Sie wusste es nicht. Woher denn auch? Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und sie rang nach Atem wie eine Erstickende. Aber dann, ohne ihr eigenes Zutun oder Wollen, brach etwas aus ihr heraus, das selbst für sie eine zutiefst schockierende Enthüllung war.
»Sie war meine Großmutter«, sagte sie, nach Atem ringend, und ihre Fingernägel gruben sich in Manolitos Haut. »Die Dame, die mich aufnahm, war – ist – meine Großmutter!«
Er schloss MaryAnn in die Arme und hielt sie beschützend an seine breite Brust gedrückt, während er sanft mit einer Hand ihren Nacken massierte, um sie zu beruhigen. Er war nicht auf die Gefühle gefasst, die ihn übermannten, sondern fühlte sich bis ins Mark erschüttert von der Intensität dieser Empfindungen, die seinen Körper, sein Herz und seinen Verstand durchfluteten. Beruhigend murmelte er ein paar sanfte Worte in karpatianischer und portugiesischer Sprache, während MaryAnn in seinen Armen lag und haltlos weinte.
Sie fühlte sich klein, verloren und viel zu verletzlich an. Mary-Ann war eine selbstbewusste Frau, nicht dieses gebrochene kleine Geschöpf, das sich in seine Arme kuschelte, als wollte es in ihn hineinkriechen, ohne sich dessen auch nur bewusst zu sein. Ihre Verzweiflung war so groß, dass ihn Wellen davon überfluteten, sich im ganzen Regenwald verbreiteten und sämtliche Geschöpfe dort in große Unruhe versetzten.
»Wie konnten sie mir das antun?«
Manolito wartete. Sie erhielt die Barriere vor ihren Gedanken noch immer aufrecht und ließ ihm keinen Zugang zu ihrem Schmerz – oder auch nur zu ihren Erinnerungen. Und er ging davon aus, dass sie noch mehr hatte.
»Meine Eltern hätten es mir sagen sollen. Diese Frau ... ich kenne sie. Ich fühle sie hier«, sagte MaryAnn und presste eine zitternde Hand auf ihr Herz. »Es tut mir weh, an sie zu denken. Sie hat ihr Leben geopfert, um mich zu retten, genau wie der Mann es tat.«
»Die meisten Eltern würden bereitwillig ihr Leben für ihre Kinder opfern, MaryAnn. Es gibt keine größere Liebe als die der Eltern zu ihren Kindern.« Er sprach mit leiser, hypnotischer Stimme, achtete aber darauf, sie nicht zu bedrängen oder geistig zu beeinflussen. Er vermittelte ihr Wärme und Sicherheit, so gut er konnte, obwohl er geneigt war, seine Suggestionskraft anzuwenden, um MaryAnn zu beruhigen, zu trösten und alles wiedergutzumachen. Es fiel ihm schwer, seinen Instinkt zu unterdrücken, die Kontrolle über sie zu übernehmen. Aber sie war keine Frau, die sich beherrschen ließ.
Deshalb beschränkte er sich darauf, sein Kinn auf ihren Kopf zu legen und Dutzende kleiner Küsse in ihr Haar zu hauchen. Die unterschiedlichsten Emotionen strahlten von ihr aus. Trauer. Zorn. Das Gefühl, verraten worden zu sein. Gewissensbisse, auch nur für einen Moment gedacht zu haben, jemand anders könnte sie zur Welt gebracht haben.
»Ich liebe meine Eltern. Wir sind eine ganz normale Familie.«
MaryAnn öffnete ihm wieder ihr Bewusstsein und ließ ihn Bilder ihrer Kindheit sehen. Sie versuchte, ihm – und sich selbst – zu beweisen, dass ihre Erinnerungen an das Aufwachsen in ihrer Familie real und wahr waren und alles andere nur eine Illusion, ein schlechter Traum. Er konnte ihre Eltern sehen, die sie hielten und küssten, sie in die Luft warfen und lachten und mit ihr glücklich waren. Sie war ihr ganzes Leben lang von Glück und Liebe umgeben gewesen.
»Sie lieben mich.«
In ihrer Stimme schwang Genugtuung mit, aber ihre Hand umklammerte Manolitos, und ihre Nägel gruben sich in sein Fleisch. Er blickte auf ihre miteinander verschränkten Hände herab und konnte die harten Knötchen unter MaryAnns Haut sehen, die Form ihrer Nägel, einer davon ohne Nagellack.
»Es ist nur zu offensichtlich, dass sie dich lieben«, stimmte er zu und brachte ihre Hand an die Wärme seines Mundes, drückte seine Lippen auf die Knötchen, strich sie glatt und zupfte mit seinen Zähnen daran, bis sich ihre Hand entkrampfte und sie sich ein bisschen mehr entspannte.
»Ich weiß nicht, was ich denken soll«, sagte sie und klang zutiefst verletzlich und verloren.
Sein Herz griff instinktiv nach ihrem. »Egal, wie deine Vergangenheit aussah, MaryAnn, du bist immer noch du selbst. Deine Eltern haben dich geliebt und dich von dieser Liebe umgeben aufgezogen. Falls sie nicht deine leiblichen Eltern sind, ändert das in keinster Weise diese Tatsache.«
»Du weißt, dass mehr dahintersteckt als das.« Sie entzog ihm ihre Hand und setzte sich mit abgewandtem Gesicht auf, um zu den Baumwipfeln hinaufzuschauen. Sie konnte die Tiere im Blätterdach der Bäume sehen, die sich berührenden Äste, die ihnen als Brücke von Baum zu Baum dienten und auf denen sogar die größeren Tiere schnell vorankamen.
Dann schluckte sie, weil der Kloß in ihrer Kehle sie zu ersticken drohte. »Mein ganzes Leben ist auf einer Lüge aufgebaut, Manolito. Die Geschichte, die meine Eltern mir gegeben haben, ist nicht meine. Ich habe nicht die Stabilität der festen Strukturen, auf denen ich mein Leben aufgebaut zu haben glaubte. Ich weiß nicht, wer ich bin. Oder was ich bin. Als ich aufwuchs, hatte ich manchmal unerwartete Gedächtnisblitze, und jedes Mal taten meine Eltern sie als belanglos ab, obwohl sie doch in Wirklichkeit sehr wichtig waren.«
»Vielleicht hatten sie ihre Gründe, sivamet. Geh nicht zu hart mit ihnen ins Gericht, solange du nicht alle Fakten kennst.«
»Du hast gut reden. Es ist ja nicht dein ganzes Leben, das aus den Fugen geraten ist«, sagte sie mit einem bösen Blick über die Schulter, bevor sie sich wieder abwandte. »Und dann kommst du daher und machst alles nur noch schlimmer, indem du mich beanspruchst und uns mit einem Ritual aneinanderbindest, ohne mich vorher auch nur gefragt zu haben. Und nun verwandele ich mich in etwas anderes. Wie würdest du dich fühlen, wenn dir so etwas geschähe?«
»Das weiß ich nicht. Aber ist es so schlimm, Karpatianerin zu werden?« Er fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und wünschte, er hätte seine gesamte Erinnerung zurück. »Du wirst so viele Dinge tun können, zu denen du jetzt nicht in der Lage bist. Mit der Zeit wirst du schon sehen, dass du keinen Grund zur Sorge hast.« Ihr Leben als seine Gefährtin würde perfekt sein, dafür würde er schon sorgen. »Es erscheint mir doch sehr unvernünftig, sich über etwas Sorgen zu machen, was sich ohnehin nicht ändern lässt.«
Seine Stimme klang so ruhig, dass sie sie ganz nervös machte. Er redete, als führten sie eine philosophische Debatte, statt die unwiderruflichen und dramatischen Veränderungen in ihrem Leben zu erörtern. Wut erfasste sie. »Unvernünftig? Du meinst, es sollte mich nicht beunruhigen, dass ich gewissermaßen aus meinem eigenen Körper herausgedrängt werde? Du ergreifst Besitz von mir, schreibst mir vor, was ich zu tun habe, und ich soll mir das gefallen lassen, nur weil du es sagst. Wie schön für dich, in deiner bequemen Haut zu leben und zu wissen, wer und was du bist. Mich für dich zu beanspruchen, verändert dein Leben wohl überhaupt nicht?«
»Es verändert alles.« Seine Stimme war ganz weich vor Emotion – Empfindungen, die er jetzt wieder verspüren konnte, weil sie ihm diese Gabe zurückgegeben hatte.
Er verstand nicht die Ungeheuerlichkeit dessen, was er getan hatte, als er sie unwiderruflich an sich gebunden hatte. Er schien nicht einmal zu verstehen, welche Auswirkung das auf ihr Leben hatte. Sie würde ihre Familie sterben sehen. Sie würde nicht mehr die Person sein, die sie immer gewesen war. Selbst die Chemie ihres Körpers würde anders sein. Sie würde sich von Grund auf verändern und konnte nichts dagegen tun. Manolito würde der Mann bleiben, der er immer schon gewesen war, nur dass er wieder Farben sehen und Empfindungen haben konnte. Er mochte denken, dass sie sich mit der Zeit an die Veränderungen gewöhnen würde, aber sie widerfuhren ja auch nicht ihm.
Adrenalin brodelte durch ihre Adern und mit ihm Wut. Wie konnte jemand anderes willkürlich und ohne ihre Zustimmung ihr Leben für sie bestimmen? Ohne sie zu fragen? Manolito. Ihre Eltern. Selbst ihre geliebten Großeltern. Wie konnten sie entscheiden, was das Beste für sie war, und sie selbst bei ihrer Entscheidung nicht nur außer Acht lassen, sondern sie ihr außerdem auch noch verschweigen?
Sie sprang auf, bevor Manolito merkte, dass sie sich bewegen würde. Keine noch so kleine Bewegung ihres Körpers hatte eine Veränderung angekündigt. Sie war einfach blitzartig auf den Beinen und sprang über das Geländer, bevor er wusste, was sie vorhatte. Mit angehaltenem Atem jagte Manolito hinter ihr her. Sie befanden sich etwa hundertfünfzig Fuß über der Erde. Der Sturz würde sie umbringen.
MaryAnn! Er rief ihren Namen, als er ihr folgte, und sandte Unmengen von Luft hinunter, um sie in der Schwebe zu halten, doch sie war schon unten, als er zu ihr hinunterschoss, und hockte in kämpferischer Haltung auf dem Boden.
Er verlangsamte seinen Fall, um sie genauer zu betrachten. Ihr langes Haar fiel ihr in üppigen, blauschwarzen Wellen über die Schultern und den Rücken, ihre Hände krümmten sich zu Klauen, und ihre Gesichtsknochen zeichneten sich deutlich unter ihrer straff gespannten Haut ab. Sie wich vor ihm zurück, als er sich vor sie hockte.
»Ich will nach Hause.«
Er wusste, dass sie in guten Händen war – in seinen Händen, aber ihre Stimme zitterte, und sie sah so verängstigt aus, dass er sich schrecklich schuldig fühlte.
»Das weiß ich, MaryAnn. Ich werde dich zu dir nach Hause bringen, sobald ich kann.« Und ihm wurde klar, dass das die Wahrheit war. Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, dass sie vielleicht wirklich Seattle brauchte. Dass sie diese kalte, regnerische Stadt vielleicht genauso sehr brauchte wie er den Regenwald. »Ich verspreche dir, csitri, dass ich dich nach Hause bringen werde, sobald ich das Reich der Schatten ganz verlassen kann.«
MaryAnn tat einen tiefen, unsicheren Atemzug. »Du versprichst es mir?«
»Absolut. Ich gebe dir mein Wort, und das habe ich in all den Jahrhunderten meiner Existenz noch nie gebrochen.« Er streckte ihr seine Hand hin. »Es tut mir leid, dass ich nicht verstehen kann, was du durchmachst.« Würde sie ihm ihr Bewusstsein öffnen, könnte er ihre Emotionen spüren und sie nicht nur sehen, doch sie gab ihren geistigen Widerstand nicht auf.
Sie sah sich um. »Ich weiß nicht, wie ich hierhergekommen bin«, sagte sie und blickte zu dem Blätterdach der Bäume auf. Sie konnte nicht einmal die Terrasse sehen, die er errichtet hatte. »Wie habe ich das gemacht, Manolito?«
Er hielt ihr noch immer seine Hand hin. Die Blätter in den Bäumen über ihnen raschelten. Schatten regten sich. Manolito trat noch einen Schritt näher zu MaryAnn. Endlich legte sie ihre Hand in seine, und er zog sie in die Arme und erhob sich mit ihr in die Lüfte, um sie zu der geschützten kleinen Terrasse zurückzutragen, die er für sie erschaffen hatte. Sie stand auf der Plattform, ihre Arme um seinen Nacken, ihr Gesicht an seiner Schulter, und zitterte vor Schreck über die Wahrheit.
»Die Wahrheit«, murmelte er sanft.
MaryAnn entzog sich ihm abrupt. Sie wusste, dass es die Wahrheit war. Sie war dieses Kind gewesen, das jemand durch den Wald verfolgt und fast getötet hätte. Ihre Eltern hatten ihr jahrelang die Wahrheit vorenthalten. Ihre Welt war bis in ihre Grundfesten erschüttert, und sie musste einen Weg finden, das wachsende ... Etwas in ihr zu bezähmen, um verarbeiten zu können, was geschah, aber sie wollte Manolito auch nicht die ganze Wahrheit ihres Lebens offenbaren.
Er ließ seinen Blick über die Blätter gleiten. Einige waren breit, andere gefächert, einige klein und andere groß, doch alle waren von einem dumpfen Silber, statt grün und glänzend, wie sie eigentlich sein müssten. Die Schutzzauber hielten alle Feinde fern, damit er Zeit mit MaryAnn verbringen und versuchen konnte, sie in seine Welt hinüberzubringen. Er hatte vorgehabt, sie ganz hinüberzubringen, damit sie eine vollblütige Karpatianerin wurde, doch stattdessen hatte er sie gezwungen, sich ihm zu offenbaren und alles für ihn zu riskieren. Und nun musste er ihr etwas dafür zurückgeben. Etwas, das den gleichen Wert besaß. Sie war völlig aufrichtig zu ihm gewesen; weniger konnte auch er nicht tun.
Unruhig begann er, über den kleinen, luftigen Balkon zu schreiten. »Du warst ganz offen zu mir, MaryAnn, obwohl dir das nicht leichtgefallen ist. Ich habe dir auch etwas zu sagen. Etwas, das mich beschämt, und nicht nur mich, sondern meine ganze Familie. Was in dir ist, ist stark und edel, und ich glaube nicht, dass du es fürchten musst. Ich habe kein solches Geheimnis, das ich dir anvertrauen könnte, obwohl ich wünschte, es wäre es so.«
Sie blinzelte, um ihre Tränen zu verdrängen, und wirkte irgendwie schockiert, als sie ihn ansah. Es war das Letzte, was sie von einem so selbstbewussten Mann wie Manolito erwartet hätte. Ihr instinktives Mitgefühl erwachte, und sie legte ermutigend eine Hand auf seinen Arm.
»Hilf mir dabei nicht«, protestierte er und schüttelte den Kopf, doch sie hatte ihm schon ihren Geist geöffnet und ihn wieder mit den leuchtenden Farben und ihrer beruhigenden Persönlichkeit umgeben. »Das verdiene ich nicht.«
Er verdiente es nicht, weil er sie ohne ihre Zustimmung für sich beansprucht hatte, aber MaryAnn verdrängte diesen plötzlichen Gedanken und warf Manolito einen aufmunternden Blick zu. Er ging weiter unruhig auf und ab, und so Heß sie sich auf dem Bett aus Blumen nieder, erstaunt, dass sie noch immer ihren süßen Duft abgaben und die ganze Luft damit erfüllten. Sie zog die Knie an, schlang ihre Arme darum und legte ihr Kinn darauf, während sie wartete, dass Manolito fortfuhr.
Nachdem er ihre Umgebung langsam und sorgfältig in Augenschein genommen hatte, erzeugte er noch mehr Schutzzauber, indem er die Pflanzen zu einer sehr soliden Geräuschbarriere um sie verwob, die ihnen sogar noch mehr Ungestörtheit gab. »Manchmal hat der Dschungel Ohren.«
MaryAnn nickte und sagte nichts dazu, aber irgendwo in ihrem Magen hatte sie das ungute Gefühl, dass das, was er ihr mitteilen wollte, von immenser Bedeutung für sie beide sein würde.
Manolito stützte sich mit den Ellbogen auf das Geländer und blickte auf den Waldboden unter ihnen. »Meine Familie war immer ein bisschen anders als die meisten anderen. Zum einen haben die anderen meist keine Kinder, zwischen denen nicht mindestens fünfzig oder bis zu hundert Jahren Altersunterschied liegen. Es kommt vor, aber nur sehr selten. Meine Eltern bekamen uns jedoch alle fünf mit nicht mehr als fünfzehn Jahren zwischen uns, bis auf Zacarias. Er ist fast hundert Jahre älter, doch wir sind zusammen aufgewachsen.«
MaryAnn konnte sofort die Probleme sehen, die bei solch tiefer Verbundenheit auftreten konnten, insbesondere bei Jungen, die ihren ersten Vorgeschmack von Macht erhielten. »Ihr hattet also eine Bandenmentalität, wie ich als Psychologin sagen würde.«
Ein kurzes Schweigen entstand, während er nachdachte. »Ja, so könnte es gewesen sein. Wir waren überdurchschnittlich intelligent und wussten es; wir hörten es schließlich oft genug von unserem Vater und den anderen Männern. Wir waren hochbegabt und lernten schnell, und auch das hörten wir von allen, wenn uns eingetrichtert wurde, worin unsere Pflicht bestehen würde.«
MaryAnn runzelte die Stirn. Sie hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, in was für unsicheren Zeiten Manolito und seine Brüder aufgewachsen waren. »Wurden selbst damals schon mehr männliche Kinder als weibliche geboren?«
Er nickte. »Der Prinz war besorgt deswegen, und wir alle wussten das. So viele Kinder starben. Den Frauen blieb allmählich nichts anderes übrig, als sich unter die Erdoberfläche zu begeben, um zu gebären, und einige Kinder konnten die heilende Erde als Säuglinge nicht vertragen; andere dagegen schon. Veränderungen gingen vor sich, und die Angespanntheit wuchs. Wir wurden zu Kriegern ausbildet, erhielten aber auch so viel Unterricht wie nur möglich auf allen anderen Gebieten. Verbitterung erwachte in uns, als andere, weniger Intelligente, die Chance zu weiterführenden Studien erhielten, während wir unsere kämpferischen Fähigkeiten auf dem Schlachtfeld vervollkommnen mussten.«
»Glaubst du rückblickend, dass du Grund zu dieser Verbitterung hattest?«
Er zuckte seine breiten Schultern. »Vielleicht. Ja. Damals schon. Heute, als Krieger und angesichts dessen, was mit unserem Volk geschehen ist, weiß ich, dass der Prinz uns zum Kämpfen brauchte. Die Vampire wurden immer zahlreicher, und um unsere Spezies und auch die anderen zu beschützen, wurden unsere kämpferischen Fähigkeiten vielleicht dringender gebraucht als unsere klugen Köpfe.«
Er seufzte, als er von den Bäumen herunterschaute. »Du darfst nicht vergessen, dass es anfangs, als wir herkamen, hier nur wenige oder fast überhaupt keine Leute gab. Wir waren allein und mussten unsere Kräfte bloß ganz selten mal mit einem Gegner messen. Fünf Brüder, deren Emotionen immer schwächer wurden, und deren Erinnerungen an unser Volk und unsere Heimat zusammen mit den Farben um uns herum verblassten. Wir fanden das sehr schlimm. Und dann begannen wir mehr und mehr alten Freunden zu begegnen, die zu Vampiren geworden waren. Unser Leben, wie wir es als Karpatianer gekannt hatten, war endgültig vorbei.«
MaryAnn biss sich auf die Unterlippe. »Hat euer Prinz euch eine Wahl gelassen, die Karpaten zu verlassen? Oder hatte er euch einfach hierhergeschickt?«
»Uns wurde eine Wahl gelassen. Allen Kriegern wurde erklärt, was auf uns und unser Volk zukam und wie und wo wir gebraucht wurden. Wir hätten bleiben können, doch unsere Ehre hätte das nie zugelassen. Unsere Familie stand in dem Ruf, über einige unserer besten Krieger zu verfügen.«
»Aber du hättest bleiben können«, beharrte MaryAnn. »Deine kämpferischen Fähigkeiten wurden doch bestimmt auch dort gebraucht?«
»Angesichts dessen, was geschah, muss ich dir zustimmen«, sagte Manolito.
Zum ersten Mal fühlte er wieder Verbitterung in sich erwachen. Sie waren dem Ruf des Prinzen gefolgt, als er die ältesten Krieger aufgerufen hatte, weil sie geglaubt hatten, der Prinz könnte in die Zukunft blicken und wüsste, was das Beste für sein Volk war. Als sich die Reihen lichteten und ihre Feinde vorrückten, hatte sich der Prinz mit Menschen verbündet. Alles war verloren und zu einer einzigen Niederlage geworden, als sie versucht hatten, ihre menschlichen Verbündeten zu schützen.
Jahrhunderte später, heute, da er wieder etwas fühlen konnte, war Manolito noch immer wütend über diese Fehlentscheidung und verstand nicht, wie Vlad ein solcher Fehler hatte unterlaufen können. Hatte das Gefühl über den Verstand gesiegt? Wenn ja, würde kein De La Cruz je einen solchen Fehler machen.
»Du bist verärgert«, sagte MaryAnn, die seine Verbitterung spüren konnte.
Er drehte sich zu ihr um und lehnte sich mit der Hüfte an das Geländer. »Ja. Ich hatte keine Ahnung, dass ich wütend auf ihn war, aber ich bin es. Nach Hunderten von Jahren mache ich noch immer den Prinzen dafür verantwortlich, in einen Kampf verwickelt worden zu sein, den wir nicht gewinnen konnten.«
»Du weißt, dass es nicht das war, was dein Volk so dezimiert hat«, wandte sie so sanft wie möglich ein. »Du hast selbst gesagt, in deiner Jugend wäre dir der Frauenmangel bereits aufgefallen und dass Babys auch damals schon nur selten überlebten. Die Veränderungen hatten also schon begonnen.«
»Niemand will glauben, dass seine Spezies von der Natur dazu verdammt ist auszusterben.«
»Ist es das, was du denkst?«
»Ich weiß nicht, was ich denke, nur, was ich getan hätte. Und ich hätte unser Volk nicht in diesen Krieg geführt.«
»Und inwiefern wäre dann alles anders ausgegangen?«
»Vlad würde noch leben«, sagte Manolito. »Er wäre nicht unter den Gefallenen. Wir wären nicht mit so wenigen Frauen und Kindern hilflos unserem Schicksal überlassen, dass es schier unmöglich ist, unser Volk am Leben zu erhalten. Füg unsere Feinde noch hinzu, und wir sind verloren.«
»Wenn du das glaubst, warum hast du Mikhail dann das Leben gerettet? Ich habe natürlich davon gehört. Alle sprachen darüber, was du für ihn getan hast, als er in den Höhlen angegriffen wurde. Wenn du ihn nicht für fähig hältst, die Karpatianer zu regieren, warum hast du dann für ihn dein Leben riskiert? Warum warst du bereit, für ihn zu sterben? Zumal du mich bereits gesehen hattest und wusstest, dass du eine Gefährtin hast. Warum hast du dir die Mühe gemacht?«
Er verschränkte seine Arme vor der Brust und blickte stirnrunzelnd von seiner überlegenen Höhe auf sie herab. »Weil es meine Pflicht ist.«
»Manolito, das ist lächerlich. Du bist kein Mann, der blindlings jemandem folgt, an den er nicht glaubt. Du magst die Entscheidung deines Prinzen zwar angezweifelt haben, doch du hast an ihn geglaubt, und du musst auch an seinen Sohn glauben, denn sonst wärst du nicht mit ihm in den Krieg gezogen, hättest ihm nicht die Treue geschworen oder gar dein Leben für das seine hingegeben.«
»Ich habe viel mehr getan, als die Entscheidung meines Prinzen anzuzweifeln«, sagte er.
Sie sah den Schatten, der über sein Gesicht glitt, und den gequälten Blick in seinen schwarzen Augen. Jetzt kamen sie endlich voran. Nun würde er ihr seine tiefsten Schuldgefühle offenbaren. Sie wusste schon, was er sagen würde, weil sein Geist mit ihrem verschmolzen war und sie dort das Schuldbewusstsein sehen konnte, die Furcht, dass er einen Prinzen verraten hatte, den er nicht nur bewunderte und respektierte, sondern sogar liebte.
Manolito sah das jedoch nicht so, und das faszinierte sie. Ihm war nicht einmal bewusst, wie sehr er Vlad Dubrinsky bewundert hatte und wie unglücklich er über die endgültige Niederlage und den Tod des Prinzen in den Händen ihres Feindes gewesen war. Vor allem jedoch erkannte er nicht, dass sein Zorn sich gegen ihn selbst richtete, weil er seine Heimat verlassen und sich dazu entschlossen hatte, in einem fernen Land zu kämpfen, für Menschen, die nichts für Karpatianer übrig hatten.
»Ich habe Vlad jedes Mal verraten, wenn ich mich mit meinen Brüdern zusammensetzte und seine Ansichten und Entscheidungen infrage stellte. Riordan und ich haben dir schon davon erzählt, doch das war nur eine sehr abgeschwächte Version unserer Gespräche. Wir machten eine regelrechte Kunst daraus. Wir zerpflückten jeden einzelnen Befehl des Prinzen und betrachteten ihn von allen Seiten. Wir glaubten, dass er auf uns hören müsste, dass wir mehr wüssten als er.«
»Ihr wart jung, noch nicht einmal erwachsen und noch zu starken Gemütsbewegungen imstande.« Auch ohne ihre geistige Verbindung wusste sie, dass seine Emotionen damals sehr stark gewesen sein mussten. Er hatte sich vielen der anderen Krieger überlegen gefühlt, körperlich wie geistig. Seine Brüder waren wie er gewesen und hatten ihre Debatten darüber genossen, wie sie ihrer Spezies am besten dienen und das karpatianische Volk durch die Gefahren jedes neuen Jahrhunderts führen konnten. »War Verrat in euren Herzen und Gedanken, Manolito, wenn ihr debattiert habt, oder habt ihr nur versucht, neue Wege zu finden, um das Leben eures Volkes zu verbessern?«
»So mag es angefangen haben.« Er fuhr sich mit beiden Händen durch das Haar. »Ich weiß, dass wir ganz klar das Schicksal unseres Volks erkannten, während nur sehr wenige andere in die Zukunft blicken konnten. Wir brauchten keine hellseherischen Fähigkeiten, nur unseren Verstand, und es war äußerst irritierend, dass andere nicht das Gleiche sehen konnten wie wir.«
»Hat der Prinz euch zugehört? Ihr seid doch bestimmt zu ihm gegangen.«
»Als Oberhaupt unserer Familie ging Zacarias zu ihm. Natürlich hörte Vlad ihm zu. Er hörte jedem zu. Er regierte uns, doch er gestattete den Kriegern immer, in der Ratsversammlung ihre Meinung kundzutun. Wir waren noch jung, aber er respektierte uns.«
MaryAnn verfolgte die wechselnden Gemütsbewegungen in seinem Gesicht. Manolito hatte sich, ohne zu zögern, Vampiren und Magiern mit vergifteten Messern entgegengestellt, doch nun war er nervös, weil seine Vergangenheit zu dicht an die Oberfläche gekommen war. Sie wollte ihn dazu bringen zu verstehen, dass diese Jugenderinnerungen nichts mit Verrat zu tun hatten. Sie suchte nach den richtigen Worten, den richtigen Gefühlen ...
Lass das! Der Befehl war so scharf, dass er geradezu durch ihr Bewusstsein schallte. »Ich verdiene die Wärme nicht, die du mir schickst. Und ich verdiene auch nicht die Gefühle, die du mir ins Gedächtnis setzen willst.«
Sie blinzelte ihn an, schockiert, dass er ihr zutraute, seine Erinnerung beeinflussen zu wollen.
»Wir dachten uns einen Plan aus, MaryAnn. In unserer Arroganz und Überheblichkeit, in unserem Glauben, mehr als alle anderen zu wissen, schmiedeten wir einen Plan, nicht nur die Dubrinskys, sondern sämtliche Feinde des karpatianischen Volkes zu vernichten. Die Karpatianer sollten alle Spezies regieren. Und der Plan war nicht nur brillant und ausführbar, sondern wird jetzt, in eben diesem Augenblick, während wir uns noch darüber unterhalten, gegen unseren Prinzen eingesetzt.«
Manolitos Stimme brach bei seinen letzten Worten, und er senkte beschämt den Kopf.