28
Der Fall war praktisch gelaufen, und Morse hatte, ein bißchen zu voll von Bier und mehr als ein bißchen zu voll von Selbstzufriedenheit, die Füße auf den Schreibtisch gelegt, als Lewis am Donnerstag nachmittag zu ihm ins Büro kam. »Ich habe ihn gefunden, Sir. Mußte ihn aus dem Unterricht in der Cherwell School holen – aber es war genau, wie Sie gesagt haben.«
»Ja, damit haben wir wohl alles wasserdicht gemacht und –« Er unterbrach sich. »Sie machen keinen sehr glücklichen Eindruck. Was ist los mit Ihnen?«
»Ich kapiere immer noch nicht, was hier läuft.«
»Sie wollen mir doch morgen früh nicht den Spaß verderben?«
Lewis schüttelte widerstrebend den Kopf, aber er kam sich vor wie ein Examenskandidat, der soeben den Prüfungsraum mit dem Gefühl verlassen hat, daß er seine Sache sehr viel besser hätte machen müssen. »Sie müssen mich für ziemlich dämlich halten.«
»Keineswegs. Es war ein sehr gerissenes Verbrechen, Lewis. Ich habe einfach Glück gehabt.«
»Wahrscheinlich habe ich, wie immer, die offenkundigen Hinweise übersehen.«
»Weil sie eben nicht offenkundig waren, alter Freund. Tja, vielleicht …« Er nahm die Füße vom Schreibtisch und zündete sich eine Zigarette an. »Ich will Ihnen sagen, wie ich auf die richtige Spur gekommen bin. Ich glaube, das Wichtigste an dem Fall war Quinns Schwerhörigkeit. Es war nicht nur eine leichte Behinderung – Quinn war fast taub. Aber er war, wie wir wissen, ungewöhnlich bewandert in der Kunst des Lippenlesens, und eben dieser Kunst verdankte Quinn auch die Erkenntnis, daß einer seiner Kollegen ein Betrüger war. Für Leute, die mit staatlichen Prüfungen zu tun haben, ist es die größte Sünde wider den Heiligen Geist, vorab etwas über Prüfungsfragen verlauten zu lassen. Und genau das hatte einer von Quinns Kollegen getan, und er ist ihm draufgekommen. Ich hatte aber eine weitere offenkundige und sehr viel wichtigere Folge von Quinns Schwerhörigkeit nicht berücksichtigt. Dabei war die Sache sehr einfach, jeder Trottel hätte darauf kommen können. Quinn war ein Genie, wenn es darum ging, den Leuten die Worte von den Lippen abzulesen. Aber er konnte gewissermaßen nur hören, was andere sagten, wenn er sie sehen konnte. Lippenlesen nutzt einem nichts, wenn der Gesprächspartner hinter einem steht, oder wenn draußen auf dem Gang jemand schreit, daß eine Bombe im Haus ist. Wenn jemand bei Quinn klopfte, merkte er es nicht. Aber sobald jemand die Tür aufmachte und etwas sagte, war alles in Ordnung. Noch einmal: Quinn konnte nicht hören, was er nicht sah.«
»Und darauf soll ich mir einen Reim machen, Sir?«
»Sollen Sie, Lewis. Und das werden Sie auch, wenn Sie sich mal den Freitag vor Augen halten, an dem Quinn ermordet wurde.«
»Daß er am Freitag ermordet wurde, steht also fest?«
»Wenn’s drauf ankäme, könnte ich Ihnen die Tatzeit wahrscheinlich sogar bis auf die Minute genau nennen.«
Morse wirkte sehr selbstzufrieden, und Lewis war hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, seine Neugier zu befriedigen, und einem gewissen Widerstreben, das bereits überaus gut entwickelte Ego seines Chefs noch mehr aufzublähen. Aber so langsam sah er Land. Ja, natürlich, Noakes hatte gesagt … Er nickte vor sich hin, und die Neugier siegte.
»Wie war das dann aber mit der Geschichte im Kino? War das einfach eine raffiniert gelegte falsche Spur?«
»Keineswegs. Sie war als falsche Spur gedacht, verhalf uns aber – vom Standpunkt des Mörders aus bedauerlicherweise – zu mehreren entscheidenden Hinweisen. Überlegen Sie mal. Mit jeder neuen Information über Quinns Tod rückte die Tatzeit immer weiter in den Abend hinein. Gegen 12 Uhr 20 rief er in Bradford an. Um halb zwei ging er ins STUDIO 2, nachdem er seiner Sekretärin einen Zettel hingelegt hatte. Viertel nach fünf kam er wieder ins Büro zurück und fuhr nach Hause. Er legte seiner Putzfrau einen Zettel hin und ging einkaufen. Zehn nach fünf telefonierte er. Vor halb sieben – das heißt, bis Mrs. Evans kam – hatte niemand das Haus betreten. Mrs. Greenaway hatte die ganze Zeit die Einfahrt im Blick. Also muß Quinn später am Abend oder sogar erst am folgenden Vormittag ermordet worden sein. Der Obduktionsbericht hat uns da nicht viel gebracht, es blieb uns nichts anderes übrig, als unserer Nase zu folgen – was wir getan haben. Aber wenn man genau hinsieht, stellt sich heraus, daß nach Freitag mittag niemand mehr Quinn wirklich gesehen hat. Nehmen wir das Telefonat mit Bradford. Ein Lehrer – und alle akademischen Mitarbeiter des Verbandes waren mal im Schuldienst – weiß, daß 12 Uhr 20 eine besonders ungünstige Zeit ist, jemanden vom Lehrpersonal ans Telefon zu bekommen. In den meisten Schulen wird da noch unterrichtet. Im Klartext: Der Anrufer hatte gar nicht die Absicht, seinen Gesprächspartner auch zu erreichen. Erreicht wurde nur – und zwar leider sehr erfolgreich –, daß ich mich vergaloppiert habe. Jetzt zu dem Zettel, den Quinn auf seinen Schreibtisch gelegt hat. Wir wissen, daß Bartlett in seinem Laden ein ziemlich strenges Regiment führte. Zu seinen eisernen Regeln gehört, daß die Mitarbeiter eine Mitteilung hinterlassen, wenn sie aus dem Haus gehen. Quinn war seit einem Vierteljahr bei dem Verband, er war ein heller Kopf, der es seinem Chef recht machen wollte. Er muß in diesen drei Monaten Dutzende von Zetteln geschrieben haben. Für jemanden, der so was gut gebrauchen konnte, um ein Alibi zu festigen, war es ein leichtes, irgendwann eine dieser Kurzepisteln an sich zu nehmen – und das hat dieser Jemand prompt getan. Wir kommen zu dem Telefongespräch, das Mrs. Greenaway mitgehört hat. Auch hier ist wichtig, daß sie nicht gesehen hat, wie Quinn telefonierte. Sie ist nervös, sie glaubt, daß das Baby jeden Augenblick kommen kann, sie hat nicht das geringste Interesse an dem, was gesprochen wird, ihr geht es nur darum, daß die Telefonierenden endlich die Leitung freimachen. Sie hört Stimmen, nimmt sie aber nicht auf, wartet nur sehnsüchtig darauf, daß endlich Schluß ist. Und wenn der andere Gesprächspartner – der, den Quinn ihrer Meinung nach angerufen hat – gerade jetzt den größten Teil des Gesprächs bestreitet … Begreifen Sie jetzt, worauf ich bei Roope hinauswollte, Lewis? Wenn es Roope war, der in der Leitung hing, der gelegentlich ein Ja oder Nein einschob, würde Mrs. Greenaway, deren Gehör nach eigener Aussage ohnehin nicht besonders gut ist, ihn automatisch für Quinn halten. Quinn stammte, wie Roope, aus Bradford, beide hatten einen ziemlich breiten nordenglischen Akzent, und Mrs. Greenaway erinnert sich nur noch daran, daß sich eine der Stimmen gebildet und professoral angehört hat. Zugegeben, sehr viel weiter kommen wir damit nicht. Allenfalls steht jetzt fest, daß das Gespräch nicht zwischen Quinn und Roope stattgefunden hat. Aber das wußte ich schon, Lewis, denn ich wußte, daß Quinn schon mehrere Stunden tot gewesen sein mußte, als von Quinns Zimmer aus telefoniert wurde.«
»Da hat er ja Glück gehabt, daß Mrs. Greenaway nicht –«
Morse nickte. »Ja. Aber kein Glück ist vollkommen. Bedenken Sie, daß Mrs. Evans –«
»Ja, soweit ist mir das jetzt klar. Nur bei der Sache mit STUDIO 2 blicke ich nach wie vor nicht durch.«
»Kein Wunder – bei all den Lügengeschichten, die uns da aufgetischt wurden. Aber ich will Ihnen ein, zwei Tips geben. Martin und Monica hatten sich entschlossen, am Freitag nachmittag ins Kino zu gehen, und versuchten dann erstaunlicherweise, von diesem guten auf ein oberfaules Alibi umzuschwenken. Was mag dahinterstecken, Lewis? Als einzige einigermaßen einleuchtende Antwort fiel mir ein, daß sie etwas gesehen hatten, worüber sie nicht sprechen wollten. Ich glaube, daß Monica zumindest in diesem Punkt bereit war, mir reinen Wein einzuschenken. Ich fragte sie, ob sie beim Hineinkommen jemanden gesehen habe, was sie verneinte.« Morse lächelte ein wenig. »Begreifen Sie jetzt?«
»Nein.«
»Nicht aufgeben, Lewis. Halten wir fest: Martin und Monica sind geblieben, um sich den Film anzusehen. Kapiert? Was immer die beiden – oder einen von ihnen – verunsichert hatte, aus dem Kino getrieben hat es sie nicht. Na? Dämmert es allmählich?«
Lewis war ratloser denn je, aber seine Neugier ließ ihn nicht ruhen. »Und was war mit Ogleby?«
»Jetzt kommen wir zum springenden Punkt, Lewis. Ogleby hat mich angeschwindelt. Er hat mir ein oder zwei Lügen erster Güte aufgetischt. Aber im wesentlichen entsprach seine Aussage der Wahrheit. Sie waren ja dabei, als ich ihn vernommen habe, Lewis, und brauchen sich nur Ihre Notizen noch mal anzusehen. Er hat ein paar sehr interessante Bemerkungen gemacht. Zum Beispiel, daß er an dem bewußten Freitagnachmittag im Büro war.«
»Und Sie glauben, er war wirklich da?«
»Ich weiß es. Er mußte einfach da sein, verstehen Sie?«
»Ah ja«, sagte Lewis und verstand nur Bahnhof. »Dann war er wohl auch im STUDIO 2?«
Morse nickte. »Ja, später. Und denken Sie daran, daß er sorgsam eine Kinokarte abgezeichnet hat, die ihm nicht gehörte. Die Karte, die wir in Quinns Tasche fanden. Kleine Quizfrage, Lewis: Wann und warum hat Ogleby das getan?«
»Ich weiß es nicht, Sir. Allmählich komme ich total ins Schleudern.«
Morse stand auf und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen.
»Dabei ist es im Grunde ganz einfach, Lewis. Überlegen Sie mal – warum hat er die Kinokarte nicht einfach an sich genommen? Er muß sie gesehen, muß sie in der Hand gehalten haben. Da gibt es doch nur eins.«
Lewis nickte hoffnungsvoll, und zu seiner großen Erleichterung fuhr Morse fort:
»Ganz recht. Ogleby hatte die Kinokarte gar nicht finden sollen, aber er hat sie gefunden, und er wußte, daß sie aus einem ganz bestimmten Grund an der Stelle lag, wo er sie entdeckt hat. Und er wußte, daß er sie dort nicht wegnehmen konnte.«
Das Telefon läutete, Morse sagte, er werde gleich dort sein.
»Kommen Sie mit, Lewis. Sein Anwalt ist da.« Während sie zu den Haftzellen gingen, erkundigte sich Morse bei Lewis, ob er wüßte, wo die Langerhans-Inseln lägen.
»Kommt mir irgendwie bekannt vor. Ostsee?«
»Falsch. Pankreas – falls Ihnen das was sagt.«
»Doch. Der Pankreas ist eine große Drüse, die in den Zwölffingerdarm mündet.«
Morse sah seinen Mitarbeiter anerkennend an. Eins rauf für Lewis.