25

 

»Sie hatten in dieser bösen Geschichte Glück und Pech, Roope. Das Glück haben Sie nach Kräften ausgenutzt. Ihr Pech war, daß manches geschah, was niemand, nicht einmal Sie, hätte voraussehen können. Sie haben zwar geschickt agiert – ja, fast wäre es Ihnen gelungen, die Dinge zu Ihrem Vorteil zu wenden –, aber mit Ihrer Superschläue haben Sie sich doch ein bißchen übernommen. Daß ich es mit einem ungewöhnlich gerissenen, einfallsreichen Mörder zu tun hatte, war mir klar. Aber letzten Endes war es gerade Ihre Gerissenheit, die Sie verraten hat.«

Sie saßen zu dritt im Vernehmungsraum 1 – Morse, Lewis, Roope. Lewis, dem Morse nachdrücklich eingeschärft hatte, den Mund zu halten und sich auf keinen Fall provozieren zu lassen, saß an der Tür. Morse und Roope saßen sich an dem kleinen Tisch gegenüber. Morse, der Jäger, strahlte Selbstsicherheit aus, seine Stimme war gelassen, fast liebenswürdig. »Soll ich fortfahren?«

»Wenn es sein muß … Ich habe Ihnen schon erklärt, daß Sie sich unheimlich lächerlich machen, aber Sie wollen sich ja nichts sagen lassen.«

Morse nickte. »Nun gut. Wir fangen am besten in der Mitte an. zu dem Zeitpunkt, als Sie die Geschäftsstelle betraten. Am vergangenen Freitag um 16 Uhr 25. Dort begegneten Sie zunächst Noakes, dem Hausmeister, der auf dem Gang eine Leuchtröhre auswechselte. Aber Sie merkten bald, daß sonst kein Mensch da war, erzählten etwas von Papieren, die Sie bei Dr. Bartlett abgeben wollten, und weil er nicht im Haus war, hatten Sie einen guten Grund vorzugeben, Sie wollten statt dessen einen seiner Mitarbeiter sprechen. Natürlich schauten sie auch bei Quinn herein, und alles war so, wie Sie es erwartet, wie Sie es geplant hatten. Alles war geschickt so arrangiert, daß man den Eindruck haben mußte, Quinn sei im Büro oder würde zumindest in Kürze dort erscheinen. Den ganzen Freitag über hatte es – Glück für Sie – heftig geregnet; und über Quinns Sessel hing sein grüner Anorak. Wer hätte bei solchem Wetter das Haus ohne Mantel verlassen? Und die Schränke standen offen. In den Schränken waren Prüfungsunterlagen, und Bartlett pflegte Gift und Galle zu spucken, wenn einer seiner Mitarbeiter nachlässig in Sicherheitsfragen war. Quinn ist erst seit kurzer Zeit bei dem Verband tätig, die Notwendigkeit ständiger Wachsamkeit war ihm vermutlich bis zum Überdruß eingebleut worden. Doch was tut er, Roope? Er geht aus dem Haus, ohne seine Schränke abzuschließen. Gleichzeitig haben wir aber einen Hinweis darauf, daß sich Quinn gewissenhaft an die Anweisungen des Geschäftsführers gehalten hat. Bei Antritt seiner Stellung ist ihm gesagt worden, daß er ohne weiteres tagsüber aus dem Haus gehen kann, sofern er hinterläßt, wo er zu erreichen ist. Das tut er. Im Klartext: Was Bartlett sagt, ist für Quinn Gesetz. Das Zusammentreffen dieser beiden Umstände ist recht aufschlußreich, Roope. Es gibt Leute, die sind faul und leichtsinnig, und dann gibt es welche, die sind pedantisch und gewissenhaft. Nur wenige sind beides gleichzeitig. Würden Sie mir da zustimmen?«

Roope sah aus dem Fenster auf den zementierten Hof hinaus. Er war aufmerksam und angespannt, erwiderte aber nichts.

»Der Hausmeister hat Ihnen gesagt, daß er nach oben gehen würde, um seinen Tee zu trinken, und bald waren Sie, wie Sie glaubten, im Erdgeschoß allein. Es war erst halb fünf. Ich nehme an, daß Sie ursprünglich geplant hatten, zu warten, bis niemand mehr im Haus war, aber so eine günstige Gelegenheit wollten Sie sich denn doch nicht entgehen lassen. Noakes hatte Ihnen, ohne es zu merken, wertvolle Informationen geliefert – die Sie sich allerdings ohne weiteres auch selbst hätten beschaffen können. Der einzige Wagen, der noch auf dem hinteren Parkplatz stand, war der von Quinn. Und dann geschah in etwa folgendes: Sie gingen noch einmal in Quinns Zimmer. Sie griffen sich seinen Anorak und zogen ihn an. Natürlich hatten Sie die Handschuhe anbehalten. Den Plastikregenmantel, den sie angehabt hatten, falteten Sie zusammen. Dann sahen Sie sich noch einmal den Zettel an und beschlossen, ihn einzustecken. Quinn hätte ihn, wenn er zurückgekommen wäre, sicher nicht auf dem Schreibtisch liegenlassen, und von jetzt ab mußten Sie genauso denken und handeln, wie Quinn gedacht und gehandelt hätte. Sie gingen auf den hinteren Parkplatz. Quinns Autoschlüssel steckten, womit Sie gerechnet hatten, in der Tasche seines Anoraks. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Das Wetter war noch immer grauenhaft, allerdings für Ihre Zwecke ideal. Sie setzten sich in den Wagen und fuhren los. Noakes sah Sie von oben beim Teetrinken, aber er hielt Sie für Quinn, was man ihm nicht verdenken kann, er sah ja nur das Wagendach. Bis dahin hatten Sie das Glück auf Ihrer Seite, und Sie nützten das weidlich aus.

Der erste Teil des großen Täuschungsmanövers war vorbei, und es war alles glattgegangen.«

Roope rutschte unbehaglich auf dem harten Stuhl herum. In seinen Augen lag ein gefährliches Lauern, aber er sagte noch immer nichts.

»Sie fuhren nach Kidlington und stellten den Wagen in der Pinewood Close ab. Wieder lagen für Sie Glück und Pech nah beieinander. Zuerst das Glück. Es goß noch immer in Strömen, und es war kaum damit zu rechnen, daß sich jemand den Mann, der aus Quinns Wagen stieg, um die Garage aufzuschließen, genau anschauen würde. Außerdem war es dunkel, und die Ecke Pinewood Close war noch dunkler als sonst, weil jemand – jemand, Roope! – dafür gesorgt hatte, daß die Straßenlaterne vor dem Haus zu Bruch gegangen war. Ich formuliere hier keine bestimmten Vorwürfe, aber ein privater Verdacht sei mir gestattet. Selbst wenn jemand Sie in Quinns grünem Anorak gesehen hätte, den Kopf eingezogen zum Schutz vor dem strömenden Regen, bezweifele ich, ob ihm etwas aufgefallen wäre. Sie waren von der Figur her Quinn sehr ähnlich und hatten einen Bart – wie er. Aber dann wendete sich das Blatt. Zufällig stand eine Frau am vorderen Fenster der Wohnung im ersten Stock, und das haben Sie bemerkt, mußten Sie bemerken. Sie wartete schon geraume Zeit und hatte Angst, ihr Kind könne vorzeitig zur Welt kommen. Sie hatte mehrmals ihren Mann in Cowley angerufen und rechnete jeden Augenblick mit seinem Eintreffen. Nun war das kein großes Unglück, denn sie wäre nie auf die Idee gekommen, der Mann im grünen Anorak könne nicht Quinn sein. Auch Sie müssen sich das überlegt und danach gehandelt haben. Immerhin – die Frau hatte Sie ins Haus gehen sehen, wo Sie feststellten, daß Mrs. Evans – Sie müssen sich genau über die häuslichen Gepflogenheiten informiert haben – ausgerechnet an diesem Tag mit dem Putzen nicht fertig geworden war. Schlimmer noch, Mrs. Evans hatte Quinn auf einem Zettel wissen lassen, sie würde noch einmal vorbeikommen. Das war nun wirklich Pech. Trotzdem sahen Sie auch hier Ihre Chance. Sie lasen den Zettel, knüllten ihn zusammen und warfen ihn in den Papierkorb. Sie zündeten den Gasofen an, wobei Sie das dafür verwendete Streichholz sorgsam wieder in der Schachtel verstauten. Das hätten Sie nicht tun sollen, Roope, aber jeder macht eben mal einen Fehler. Und dann – Ihre Meisterleistung. Sie hatten einen Zettel in der Tasche, den Quinn höchstpersönlich geschrieben hatte, der nicht nur echt aussah, sondern es auch war. Jeder Handschriftenexperte hätte praktisch auf den ersten Blick bestätigt, daß der Zettel von Quinns Hand stammte. Die Nachricht war Margaret Freeman, seiner Sekretärin, zugedacht. Aber er hatte nicht ihren Namen, sondern nur ihre Initialen, M. F., draufgeschrieben. Sie fanden in Quinns Anorak einen schwarzen Kugelschreiber mit Feinstrichmine und änderten die Initialen, was nicht weiter schwer war. Ein Schnörkel nach dem M, ein zusätzlicher Strich am unteren Ende des F – und schon war aus M. F. eine Mrs. Evans geworden. Die Nachricht war unbestimmt genug für die Täuschung. Sie müssen zufrieden gefeixt haben, als Sie den Zettel auf das Sideboard legten. Und dann gingen Sie wieder. Sie wollten allerdings nichts riskieren, also verließen Sie das Haus durch die Hintertür, stiegen durch die Lücke im Zaun und gingen zum Quality-Supermarkt. Sie kauften ein paar Lebensmittel, und noch während Sie an den Regalen entlanggingen, lief Ihr Denkapparat auf Hochtouren. Sie würden etwas kaufen, was den Eindruck aufkommen ließ, daß Quinn an diesem Abend einen Gast hatte. Ein geschickter Schachzug. Zwei Steaks und und und. Nur die Butter hätten Sie nicht kaufen dürfen, Roope, Sie hatten die falsche Marke erwischt, und er hatte noch genug im Kühlschrank. Es war, wie gesagt, schlau eingefädelt, Sie haben den Bogen nur ein bißchen überspannt.«

»So wie Sie, Inspector.« Jetzt endlich geriet Roope in Bewegung, er nahm eine Zigarette heraus, zündete sie an und legte das Streichholz sorgsam in den Aschenbecher. »Erwarten Sie im Ernst von mir, daß ich Ihnen diesen blühenden Unsinn abkaufe?«

Seine Stimme war ruhig, überredend, er schien mit sich selbst wieder im reinen zu sein. »Wenn Sie nichts Besseres zu bieten haben als solche idiotischen Pfadfindergeschichten, würde ich vorschlagen, daß Sie mich unverzüglich wieder auf freien Fuß setzen. Wenn Sie aber in dieser Tonart weitermachen wollen, muß ich meinen Anwalt verständigen. Vorhin, als Sie mich über meine Rechte belehrten – über die ich mir durchaus im klaren bin, Inspector! –, habe ich das abgelehnt. Meine Unschuld, habe ich mir gedacht, ist mir bestimmt eine bessere Hilfe als so ein Paragraphenreiter von Rechtsanwalt. Aber Sie gehen ein bißchen zu weit. Sie haben nicht die Spur eines Beweises für Ihre phantastischen Vorwürfe.«

»Sie leugnen also die Beschuldigung?«

»Ich höre immer Beschuldigung …«

»Sie leugnen, daß die Abfolge der Ereignisse –«

»Natürlich leugne ich das. Weshalb sollte sich jemand soviel Mühe machen –«

»Quinns Mörder mußte versuchen, sich ein Alibi zu verschaffen. Und das ist ihm gelungen. Es ist ein sehr geschicktes Alibi. Alles in diesem Fall schien darauf hinzudeuten, daß Quinn am Abend des Freitags – zumindest am frühen Abend – noch am Leben war, und es war von entscheidender Bedeutung –«

»Sie meinen, Quinn hätte am Freitag abend nicht mehr gelebt?«

»Nein«, sagte Morse langsam. »Da war Quinn schon seit mehreren Stunden tot.«

Es blieb lange still in dem kleinen Raum. Dann wiederholte Roope:

»Seit mehreren Stunden, sagen Sie?«

Morse nickte. »Wann genau Quinn ermordet wurde, weiß ich allerdings nicht. Ich hatte gehofft, das würden Sie mir sagen können.«

Roope lachte laut auf. Dann schüttelte er den Kopf. »Und Sie glauben, ich hätte Quinn umgebracht?«

»Deshalb sind Sie hier. Und deshalb bleiben Sie auch hier, bis Sie mir die Wahrheit gesagt haben.«

Roopes Stimme kletterte plötzlich gereizt in die Höhe. »Aber – aber ich war an diesem Freitag in London, das habe ich Ihnen doch schon gesagt. Ich bin um 16 Uhr 15 nach Oxford zurückgekommen, können Sie mir das nicht abnehmen?«

»Nein, das kann ich nicht.«

»Dann will ich Ihnen mal was sagen, Inspector. Wo ich an dem bewußten Abend von fünf bis acht war, kann ich nicht beweisen, jedenfalls nicht zu Ihrer Zufriedenheit. Und Sie würden mir ja doch nicht glauben. Aber wenn Sie entschlossen sind, mich noch eine Weile in diesem Loch festzuhalten, erheben Sie wenigstens eine Anklage, die Hand und Fuß hat. Ich bin also mit Quinns Wagen gefahren und habe für ihn eingekauft und weiß der Geier was noch. Lassen wir das mal so stehen, wenn’s Ihnen Spaß macht. Aber dann legen Sie mir wenigstens auch den Mord an Quinn zur Last. Um zwanzig nach vier, oder wann Sie wollen. Um fünf, um sechs, um sieben, ganz nach Wunsch. Aber seien Sie vernünftig, Mann. Bis um drei war ich in London, danach im Zug. Warum geht das nicht in Ihren Schädel? Erfinden Sie von mir aus irgendwas, aber tun Sie mir einen Gefallen – verraten Sie mir, wann ich den Mann ermordet haben soll.«

Lewis hatte den Eindruck, daß Morse etwas von seiner Selbstsicherheit abhanden gekommen war. Er griff nach den Papieren, die vor ihm lagen, und blätterte sinnlos darin herum. Irgendwas war ihm schwer danebengegangen.

»Ich habe nur Ihre Aussage dafür, Mr. Roope« (aha, jetzt hieß es plötzlich Mr. Roope!) »– daß Sie mit diesem Zug nach Oxford gefahren sind. Ich weiß, Sie waren bei Ihrem Verleger, wir haben das nachgeprüft, aber Sie könnten –«

»Darf ich telefonieren, Inspector?«

Morse zuckte leicht pikiert die Schultern. »Es ist eigentlich nicht üblich, aber –«

Roope griff zum Telefonbuch, wählte eine Nummer, sprach ein paar Sätze und reichte Morse den Hörer. Am anderen Ende der Leitung waren Cabriolet Taxis Services. Morse hörte zu, nickte, stellte keine Fragen. »Alles klar. Besten Dank.« Er legte auf und sah Roope an. »Sie hatten mehr Erfolg als wir, Mr. Roope. Haben Sie auch mit dem Bahnsteigschaffner gesprochen?«

»Nein. Er hatte die Grippe, kommt aber diese Woche wieder in den Dienst.«

»Da waren Sie ja sehr aktiv.«

»Ich war beunruhigt, was Sie mir wohl kaum verdenken können. Ständig Ihre Fragen, wo ich war – da mußte ich ja das Gefühl haben, Sie hätten es auf mich abgesehen. Ja, und da habe ich mir eben gesagt, es ist besser, wenn du dich mal umhörst. Wir haben alle einen gewissen Selbsterhaltungstrieb.«

»Hm.« Morse strich sich mit dem Zeigefinger der linken Hand über die Nase, wählte und ließ sich den Chefredakteur der Oxford Mail geben. »Verstehe. Da sind wir also zu spät dran. Seite 1, sagen Sie? Tja, da kann man nichts machen. Wie ist es unter Letzte Meldungen? Gut. Sagen wir – äh – ›Mordverdächtiger auf freien Fuß gesetzt. Mr. C. A. Roope (s. Seite 1), der heute im Zusammenhang mit dem Mord an Nicholas Quinn verhaftet worden war, wurde heute nachmittag freigelassen. Chief Inspector –‹ Wie meinen Sie? Dafür ist kein Platz mehr? Na ja, besser als nichts. Tut mir leid, daß ich Ihnen zusätzliche Arbeit gemacht habe, so was kommt manchmal vor. Leider. Wiederhören.«

Morse wandte sich wieder an Roope. »Ja, wie gesagt, so was kommt manchmal vor –«

Roope stand auf. »Geschenkt. Für einen Tag haben Sie genug geredet. Ich darf also annehmen, daß ich frei bin?« Seine Stimme war ätzend.

»Ja, Sir. Und wie gesagt …« Er ließ den Satz in der Luft hängen, und Roope sah ihn verächtlich an. »Haben Sie einen Wagen hier, Sir?«

»Nein, ich besitze keinen Wagen.«

»Ach richtig. Wenn Sie wollen, kann Sergeant Lewis –«

»Nein, danke. Ihre Gastfreundschaft habe ich heute schon lange genug genossen. Ich nehme den Bus.«

Und ehe Morse noch etwas sagen konnte, war er draußen, ging rasch über den Hof und in den sonnigen kühlen Nachmittag hinein.

 

In den letzten zehn Minuten des Gesprächs wußte Lewis überhaupt nicht mehr, woran er war, ja, er hatte sich dabei ertappt, daß er Morse anstarrte, als sei der ein Kalb mit zwei Köpfen. Was hatte der Chief Inspector sich dabei eigentlich gedacht? Morse hatte sich über seine Papiere gebeugt. Jetzt sah er auf, und ein eigentümlich selbstzufriedenes Lächeln lag um seine Lippen. Er sah, daß Lewis ihn beobachtete, und zwinkerte ihm aufgeräumt zu.