18
Mrs. Bartlett hatte Morse sich irgendwie anders vorgestellt. Sie war fast 10 Zentimeter größer als ihr Mann und kommandierte ihn herum, als sei er ein unartiger, aber liebenswerter Schuljunge. Noch eine weitere Überraschung erwartete ihn. Niemand hatte Morse etwas davon gesagt, daß die Bartletts einen Sohn hatten, und dem ziemlich schlampig gekleideten, mürrisch dreinblickenden jungen Mann, der Richard hieß, schien nicht gerade viel daran zu liegen, einen günstigen ersten Eindruck zu machen. Aber als sie zu viert etwas verlegen herumsaßen und ihren Sherry tranken, stellte sich heraus, daß Richard im Grunde eine liebenswürdige, angenehme Art hatte. Allmählich taute er auf und äußerte sich humorvoll und ganz unverklemmt. Während er und Morse über das Pro und Contra der Ring-Aufnahmen von Solti und Furtwängler diskutierten, ging Mrs. Bartlett rasch in die Küche, um vorsichtig mit der Gabel den Rosenkohl anzustechen, und beauftragte ihren Mann, den Wein aufzumachen. Der Tisch war makellos für vier gedeckt, das Silber blitzte und blinkte auf der weißen Tischdecke in dem gedämpft beleuchteten Zimmer. Das Gemüse war fast gar.
Bartlett schenkte Morse nach. »Hübscher kleiner Sherry, was?«
»Finde ich auch«, sagte Morse und stellte fest, daß die Flasche ein anderes Etikett trug als die in Quinns Zimmer.
»Noch etwas für dich, Richard?«
»Nein.« Das klang seltsam schroff, als gäbe es da eine dunkelverborgene Feindschaft im Bartlett-Clan.
Die Suppe stand auf dem Tisch. Morse leerte sein Glas, erhob sich und ging händereibend durch das große Zimmer.
»Komm, Richard«, sagte seine Mutter freundlich, aber Morse hörte die Spannung in ihrer Stimme.
»Mit mir braucht ihr nicht zu rechnen, ich hab keinen Hunger.«
»Aber Richard –«
Der junge Mann stand auf, und in seinen Augen blitzte es kurz und gefährlich. »Hast du mich nicht verstanden? Ich hab keinen Hunger, Mutter.«
»Aber ich habe gedacht, daß du –«
»Hör auf, mir deinen verdammten Fraß aufzudrängen, wie oft soll ich dir das noch sagen, du blöde Kuh.« Er stürmte aus dem Zimmer, und wenig später fiel mit einem sehr endgültigen Knall die Haustür ins Schloß.
»Entschuldigen Sie vielmals, Inspector …«
»Lassen Sie nur, Mrs. Bartlett, die heutige Jugend …«
»Das ist es nicht, Inspector. Sehen Sie, Richard ist schizophren. Er kann so lieb sein, und von einer Sekunde auf die andere wird er so, wie Sie ihn eben erlebt haben.« Sie war den Tränen nahe, und Morse gab sich redliche Mühe, das Richtige zu sagen, aber es war klar, daß der Vorfall tiefe Schatten über den Abend geworfen hatte, und eine Weile aßen sie in verlegenem Schweigen.
»Kann man es behandeln?«
Mrs. Bartlett lächelte traurig. »Eine gute Frage, Inspector. Wir haben buchstäblich schon Tausende dafür ausgegeben, nicht wahr, Tom? Er ist zur Zeit freiwillig in Littlemore in Behandlung. Manchmal kommt er an den Wochenenden nach Hause, und gelegentlich, wie heute, kommt er vorbei, sitzt eine Weile hier oder ißt etwas mit uns.« Ihre Stimme schwankte, und ihr Mann klopfte ihr tröstend auf die Schulter.
»Laß gut sein, Liebes. Wir haben den Inspector ja nicht hergebeten, um ihm etwas vorzujammern. Er dürfte genug eigene Sorgen haben.«
Erst als Mrs. Bartlett sich um den Abwasch kümmerte, kamen die beiden Männer dazu, in Ruhe miteinander zu reden, und Morses Eindruck, daß Bartlett sehr genau wußte, was in seinem Büro lief, bestätigte sich. Wenn einer ahnte, wer sich bereit gefunden hatte, die Integrität des Verbandes preiszugeben, dann mußte es Bartlett sein. Aber der wußte offenbar nichts. Mit allen Tricks versuchte Morse, Verdachtsmomente oder heimliche Zweifel aus ihm herauszulocken. Aber Bartlett ließ nichts auf seine Mitarbeiter kommen. Offenbar, überlegte Morse, halfen ihm die leisen Töne nicht weiter. Klotzen, nicht kleckern, das war die Devise.
»Was wollte Mr. Quinn von Ihnen, als er Sie anrief?«
Bartlett blinzelte hinter seiner dicken Brille, dann sah er auf seine Kaffeetasse herunter und schwieg eine Weile. Wenn er leugnete, daß Quinn ihn angerufen hatte, waren Morse die Hände gebunden, das wußte er ganz genau. Beweisen konnte er nichts. Aber je länger Bartlett zauderte, desto klarer wurde die Sachlage.
»Sie wissen also, daß er mich angerufen hat?«
Morse wagte einen Schuß ins Blaue. »Ja, Sir.«
»Darf ich fragen, woher Sie es wissen?«
Jetzt stockte Morse doch einen Augenblick, beschloß aber dann, sich so weit wie möglich an die Wahrheit zu halten. »Quinn hatte einen Gemeinschaftsanschluß. Jemand hat mitgehört.«
Regte sich da plötzliches Erschrecken in den Augen hinter dem dicken Glas?
»Sie wollen also wissen, worum es bei dem Gespräch ging?«
»Sie hätten es mir schon früher sagen sollen, Sir, das hätte uns viel Mühe gespart.«
»Ach ja?« Bartlett sah den Inspector an, und Morse hatte den Verdacht, daß er von der Lösung des Falles noch sehr weit entfernt war.
»Irgendwann kommt die Wahrheit ja doch ans Licht, Sir. Ehrlich, es wäre das beste, die Karten auf den Tisch zu legen.«
»Liegen Ihnen nicht alle Informationen vor? Sie sagen, daß jemand mitgehört hat. Sehr schön ist es ja nicht, andere Leute zu belauschen …«
»Na ja, wie man’s nimmt. Aber diese – äh – andere Person hat nicht direkt gelauscht, jedenfalls nicht absichtlich. Sie wollte selber telefonieren, es war sehr wichtig.«
»Sie wissen also nicht, worüber wir gesprochen haben?«
Morse holte tief Luft. »Nein, Sir.«
»Nun, dann – äh – werde ich Ihnen auch nicht sagen, worum es sich handelte. Es war eine sehr persönliche Angelegenheit, die nur Quinn und mich –«
»Vielleicht war es auch eine persönliche Angelegenheit, die zu seinem Tod führte, Sir.«
»Das ist mir klar.«
»Aber Sie wollen es mir nicht sagen?«
»Nein.«
Morse leerte langsam seine Tasse. »Ich glaube, Sie haben noch nicht erfaßt, wie wichtig diese Frage ist. Wenn es uns nicht gelingt festzustellen, wo Quinn an dem bewußten Freitag war und was er gemacht hat …«
Bartlett sah ihn scharf an. »Von Freitag war bisher noch nicht die Rede.«
»Sie meinen …«
»Ich meine, daß Quinn mich letzte Woche einmal abends angerufen hat. Aber nicht am Freitag.«
Clever, der Bursche. Morse hatte die Katze aus dem Sack gelassen, hatte ihm gesagt, daß er nicht wußte, worum es bei dem Gespräch gegangen war – und jetzt war die Katze über den Zaun gesprungen und hatte sich davongemacht. Bartlett hatte natürlich recht. Er hatte nicht ausdrücklich von dem Freitag gesprochen, aber …
Mrs. Bartlett kam mit der Kaffeekanne und schenkte nach. Es schien, als sei ihr gar nicht klar, daß sie die Unterhaltung an einem entscheidenden Punkt unterbrochen hatte. Unschuldig fragte sie Morse, wie er mit seinen Ermittlungen in der schrecklichen Geschichte um den armen Mr. Quinn vorankam.
Morse schlug alle Vorsicht in den Wind. »Wir sprechen gerade übers Telefonieren, Mrs. Bartlett. Das Telefon wächst sich neuerdings zur reinsten Landplage aus, bestimmt werden Sie ebenso oft angerufen wie ich.«
»Da haben Sie wirklich recht, Inspector. Erst letzte Woche habe ich gesagt … wann war das, Tom, erinnerst du dich? Richtig, es war an dem Tag, an dem du in Banbury warst. Den ganzen Nachmittag klingelte das Telefon, und als Tom heimkam, habe ich zu ihm gesagt, wir sollten uns doch eine Geheimnummer besorgen, und ich hatte kaum ausgesprochen, da läutete das schreckliche Ding schon wieder. Und du mußtest noch mal weg, weißt du noch, Tom?«
Der Geschäftsführer nickte und lächelte traurig. Manchmal konnte das Leben wirklich sehr ungerecht sein.
Am gleichen Abend um Viertel nach acht nahm ein Mann den Deckel von dem bronzeglänzenden Kohlebehälter, als er es klopfen hörte. Er richtete sich langsam auf und öffnete die Tür.
»Hereinspaziert, ich bin gleich soweit. Setzen Sie sich.« Er kniete sich wieder vor den Kamin und holte mit der Feuerzange einen blanken schwarzen Kohlebrocken heraus.
In seinem eigenen Kopf hörte es sich an, als habe er in einen großen, knackigen Apfel gebissen. Seine Kiefer verspannten sich, eine unheimlich-erschreckende Sekunde lang suchte er in den leeren, hallenden Gängen seines Gehirns verzweifelt eine Erinnerung an sich selbst zu erhaschen. Seine rechte Hand hielt noch die Kohlenzange, und mit dem ganzen Körper versuchte er sich zu zwingen, die Kohle in das hellflackernde Feuer zu schieben. Unerklärlicherweise mußte er an die Lava des Vesuvs denken, die sich in einem alles verschlingenden Strom in die Straßen des alten Pompeji ergoß, und noch während sich seine Linke langsam, instinktiv zu seinem zerschmetterten Schädel hob, wußte er, daß das Leben zu Ende war. Das Licht ging plötzlich aus, als habe jemand die Dunkelheit angeschaltet. Er war tot.