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Quinns Büro war geräumig und gut eingerichtet. Zwei blaue Ledersessel waren ordentlich unter den Schreibtisch geschoben. Die Schreibtischplatte war leer. Im Eingangskorb lagen ein paar Briefe, im Ausgangskorb gähnte ebenfalls völlige Leere, die große Schreibunterlage war am Rand mit Namen, Nummern und bedeutungslosen Schnörkeln in schwarzem Kugelschreiber bekritzelt. An zwei Wänden stapelten sich Geschichtsbände und Ausgaben englischer Klassiker bis an die Decke, die gelben, roten, grünen und weißen Rücken verliehen dem hellen, freundlichen Raum weitere Farbtupfer. Drei dunkelgrüne Aktenschränke standen an der dritten Wand, an der vierten hingen ein Schwarzes Brett aus Holz und Reproduktionen von Atkinson Grimshaws Gemälden der Docks von Hull und Liverpool. Nur der weiße Teppich, der fast die ganze Bodenfläche bedeckte, zeigte deutliche Abnutzungserscheinungen, und als Morse sich majestätisch in Quinns Sessel niederließ, stellte er fest, daß der unter dem Schreibtisch stehende leere Papierkorb eine fast kahle Stelle kaschierte. Zu seiner Rechten standen auf einem Tischchen mit schwarzer Platte zwei Telefonapparate, ein weißer und ein grauer, daneben ein Stapel von Telefonbüchern.

»Nehmen Sie sich die Schränke vor, Lewis, ich versuch’s mal im Schreibtisch.«

»Suchen wir was Bestimmtes, Sir?«

»Nicht, daß ich wüßte.«

Lewis beschloß, sich auf die ihm eigene methodische Art vorzukämpfen. Zumindest versprach es eine fesselndere Aufgabe zu werden als die Inventarisierung von Reispuddingdosen.

Er erkannte sehr bald, wieviel Mühe und Arbeit in der Erstellung der Fragebögen für staatliche Prüfungen steckt. Das oberste Schubfach in dem ersten Schrank, den er sich vornahm, war bis obenhin mit dicken gelben Mappen gefüllt, die Kopien von Entwürfen, ersten Fahnenabzügen, ersten, zweiten, dritten Korrekturexemplaren für das Fach Englisch in den O-Levels enthielten. »Da könnte ich ja selber rasch noch zu einem guten Abschluß kommen, Sir.«

Morse murmelte etwas davon, daß die Fragen das Papier nicht wert seien, auf dem sie gedruckt waren, und setzte die einigermaßen lustlose Durchsicht von Quinns oberstem Schubfach fort. Welterschütternde Entdeckungen waren da nicht zu erwarten: Büroklammern, Heftstreifen, Gummibänder, vier Feinstrich-Kugelschreiber, ein Lineal, eine Schere, zwei Geburtstagskarten (»Viele liebe Grüße, Monica« – schau einer an …), eine Schachtel gelber Bleistifte, ein Bleistiftspitzer, etliche Briefe der Universitätskasse, die Übernahme von Rentenansprüchen durch das hochschuleigene Pensionssystem betreffend, ein Brief vom Zentrum für Gehörlose mit der Mitteilung, daß der Unterricht in Zukunft nicht mehr in Oxpens, sondern an der Headington Tech stattfinden würde. Morse stocherte noch eine Weile aufs Geratewohl herum, dann drehte er sich um und besah sich die Büchersammlung. Ihm gegenüber waren die Autoren mit M. Er griff nach Marvells Gesammelten Gedichten. Als habe kürzlich jemand an derselben Stelle herumgelesen, öffnete sich das Buch von selbst bei dem Gedicht »An seine spröde Geliebte«, und Morse las erneut die Zeilen, die mittlerweile schon länger, als ihm lieb war, zu seinem geistigen Gepäck gehörten:

 

»Gar fein und still ist es am Grabesort,

doch gibt es, glaub ich, keine heiße Liebe dort.«

 

Ja, Quinn lag im Leichenschauhaus, und auch Quinn hatte Hoffnungen und Träume gehabt, wie jeder Sterbliche. Er schob das Buch in die Lücke zurück und wandte sich ziemlich ernüchtert dem zweiten Schubfach zu.

Sie arbeiteten eine Dreiviertelstunde schweigend, und Lewis wurde zunehmend deprimierter. »Glauben Sie wirklich, daß sich das hier lohnt, Sir?«

»Wieso? Haben Sie Durst?«

»Ich weiß einfach nicht, wonach ich suchen soll.«

Morse schwieg, und da sagte auch Lewis nichts mehr.

Um sieben war Lewis mit dem zweiten Schrank fertig. Er schloß den dritten auf, griff sich wieder einen Armvoll dicker Mappen und machte sich erneut ans Werk. Der erste Ordner enthielt Kopien von Briefen über einen Zeitraum von zwei Jahren, alle mit dem Zeichen GB / MF, sowie die Antworten von Mitgliedern des Englisch-Ausschusses mit der Anrede »Lieber George«.

»Das muß Quinns Vorgänger gewesen sein, Sir.«

Morse nickte beiläufig und machte sich wieder über den schwarzen Schreibtischkalender her, den einzigen Gegenstand, der auch nur andeutungsweise interessant zu werden versprach. Doch Quinn hatte offenbar nicht den Ehrgeiz gehabt, es Evelyn oder Pepys gleichzutun; außer Datum und Uhrzeit verschiedener Sitzungen fand sich kaum eine persönliche Eintragung. »Geburtstag« (unter dem 23. Oktober) und »Ein Pfund an Donald zurück« schienen die einzigen Zugeständnisse an eine ansonsten außerordentlich schwach entwickelte autobiographische Ader zu sein. Weil ihm nichts Besseres einfiel, zählte Morse müßig die Sitzungen. Es waren zehn innerhalb von zwölf Wochen, fast alle zur Überarbeitung von Prüfungsbögen. Keine schlechte Leistung. Dazu kam noch eine Besprechung mit dem Englisch-Ausschuß am 30. September und eine zweitätige Sitzung mit EMA am 4. und 5. November.

»Was verbirgt sich hinter EMA, Lewis?«

»Keine Ahnung.«

»Raten Sie doch mal.«

»Elternverband minderbemittelter Analphabetenkinder.«

Morse griente und klappte den Kalender zu. »Sind Sie bald durch?«

»Noch zwei Fächer.«

»Bringt das noch was?«

»Dann habe ich es wenigstens hinter mir.«

»Okay.« Morse lehnte sich in dem Sessel zurück, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, und sah sich noch einmal um. Mit einem Paukenschlag hatten die Ermittlungen nicht gerade begonnen, aber sie standen ja auch noch ganz am Anfang. Er würde zwischendurch mal im Präsidium anrufen. Der graue Apparat schien der für Amtsgespräche zu sein. Morse zog ihn zu sich heran. Aber er hatte kaum nach dem Hörer gegriffen, als er schon wieder auflegte. Unter dem orangefarbenen Postleitzahlenverzeichnis lag ein Brief, der seiner Aufmerksamkeit bisher entgangen war. Er kam von der Frederic Delius School, Bradford, und war vom Montag, dem 17. November.

 

»Lieber Nick,

vergiß mich nicht, wenn Du Deine Prüfungsteams fürs nächste Jahr zusammenstellst. Das Formular ist wohl inzwischen wieder bei Dir gelandet. Gryce wollte mit der Referenz erst nicht so recht rausrücken, aber wie Du siehst, bin ich ›ein Mann mit soliden wissenschaftlichen Grundlagen und beträchtlicher Lehrerfahrung im Realschul- und Oberschulbereich‹. Was will man mehr? Martha läßt herzlich grüßen, wir hoffen sehr, daß Du Dich Weihnachten mal wieder in Deinem alten Revier sehen läßt. Da wir ihren und meinen Eltern doch nicht gleichzeitig gerecht werden können, werden wir sie alle beide nicht besuchen und zu Hause bleiben. Übrigens hat sich unser alter Nörgelfritze um den Schulleiterposten der neuen Gesamtschule beworben. O tempora! O mores!

In alter Frische Dein Brian.«

 

Der Brief war mit schwarzem Kugelschreiber abgehakt, und Morse sah ihn sich einen Augenblick nachdenklich an. Hatte Quinn seinen Freund angerufen? War es vielleicht ein früherer Kollege? Und falls ja, wann hatte er ihn angerufen? Es konnte sich lohnen, der Sache nachzugehen.

Doch es war Lewis, der ganz aus Versehen über den Stolperdraht fiel und die Mine auslöste, die den Fall hochgehen ließ. Als er gerade die letzte Ladung Akten wieder in den Schrank stopfte, fiel sein Blick auf einen zerknautschten Umschlag, der sich in der Gleitschiene des Schubfachs verhakt hatte. Er klaubte ihn heraus und holte ein Briefblatt hervor. »Ich kann Ihnen verraten, was sich hinter EMA verbirgt, Sir.« Morse nahm ihm ohne sonderliche Begeisterung den Brief ab. Es war eine vom 3. März datierte, sichtlich mit dem Zweifingersuchsystem getippte Mitteilung auf dem Briefkopf des Erziehungsministeriums Al-jamara.

 

»Lieber George,

herzliche Grüße an alle in Oxford. Schönen Dank für Dein Schreiben und für das Sommer-Prüfung-Päckchen.

Melde- und Gebührenformulare sind angeblich bereit zum endgültigen Versand an den Verband für Freitag, den 20., oder allerspätestens, wie man mir sagt, den 21.

Hier klappt’s jetzt besser, doch ist dem Chaos noch immer Tür und Tor geöffnet, wenn man nicht aufpaßt. Aber in zwei, drei Jahren werden wir’s Euch schon zeigen. Bitte sieh zu, daß Änderungen der Prüfungsordnung nicht sofort vorgenommen werden, das könnte das Projekt total vernichten.

Schöne Grüße …«

 

Das war alles – bis auf die unleserlich gekrakelte Unterschrift.

Morse besah sich stirnrunzelnd den Umschlag, der an G. Bland, M. A., gerichtet und in dicken roten Druckbuchstaben als privat und vertraulich gekennzeichnet war. Aber dann erhellte sich seine Miene wieder, und er gab wortlos Lewis den Brief zurück. Es wurde Zeit, daß sie hier Schluß machten. Müßig klappte er noch einmal den Schreibtischkalender auf und besah sich das Kalendarium auf der inneren Umschlagseite. Und plötzlich stockte ihm das Blut in den Adern. Seinem leisen, dringlichen Ton hörte Lewis sogleich die innere Erregung an.

»Wann ist der Umschlag abgestempelt, Lewis?«

»Am 3. März.«

»Dieses Jahres?«

Lewis sah noch einmal hin. »Ja, Sir.«

»Schau mal einer an.«

»Was ist denn?«

»Freitag, der 20., steht in dem Brief, Lewis. Aber welcher Freitag, der 20.?« Er sah wieder auf das Kalendarium. »Nicht März. Nicht April. Nicht Mai, nicht Juni. Nicht Juli. Und die Bemerkung muß sich auf die Meldeformulare für die Prüfungen vom letzten Sommer beziehen.«

»Man kann sich ja auch mal im Datum irren, Sir, vielleicht hat jemand das Kalendarium vom letzten Jahr –«

Aber Morse hörte nicht hin. Er griff noch einmal nach dem Brief und konzentrierte sich minutenlang stumm darauf. Dann nickte er langsam vor sich hin und lächelte ein wenig. »Gratuliere, Lewis, Sie haben es wieder mal geschafft.«

»Ach nee …«

»Ich will nicht behaupten, daß wir der Identität des Mörders von Nicholas Quinn sehr viel nähergekommen sind. Aber warum er ermordet worden ist, Lewis, wissen wir inzwischen. Das müßte schon ein ganz dummer Zufall sein …«

»Ich fürchte, das müssen Sie mir schon ein bißchen genauer erklären, Sir.«

»Schauen Sie sich den Brief noch einmal an, Lewis. Können Sie mir eines verraten: Warum ist eine scheinbar so triviale Epistel als privat und vertraulich gekennzeichnet?«

Lewis schüttelte den Kopf. »Stimmt schon, groß was Wichtiges steht nicht drin, aber –«

»Es steht sogar etwas sehr Wichtiges drin, alter Freund“ das ist es ja gerade. Wir lesen von links nach rechts, stimmt’s? Aber manche dieser komischen Ausländer sollen ja von oben nach unten lesen …«

Lewis nahm sich den Brief noch einmal vor. Er machte große Augen. »Sie sind doch wahrhaftig ein schlauer Fuchs, Sir.«

»Na ja, manchmal vielleicht«, räumte Morse ein.

 

Fünf Minuten nach halb acht klopfte der Hausmeister ehrerbietig und steckte den Kopf zur Tür herein. »Ich will ja nicht stören, Sir, aber –«

»Warum tun Sie’s dann?« blaffte Morse, und die Tür ging leise wieder zu. Die beiden Kriminalbeamten sahen sich über den Schreibtisch hinweg an – und feixten zufrieden.