15
»Was Sie fragen, ist mir völlig schnuppe«, ereiferte sich Morse.
»Wenn ich sie reingebracht habe, halten Sie sie einfach zehn Minuten am Reden, mehr verlange ich ja gar nicht.« Lewis, der vor einer halben Stunde wieder in die Geschäftsstelle befohlen worden war, zog ein sehr bedenkliches Gesicht. »Was soll ich denn herauskriegen?«
»Was Sie wollen. Meinetwegen fragen Sie nach ihren Maßen.«
»Können Sie nicht mal ausnahmsweise ernst sein?«
»Fragen Sie, ob ihr Gin direkt in die Titten steigt oder so was in der Richtung.«
In dieser Stimmung war mit Morse nichts anzufangen, das wußte Lewis aus Erfahrung. Was war bloß los mit ihm? Er war auf einmal richtig aufgekratzt.
Morse klopfte bei Monica und trat ein. »Hätten Sie wohl eine Minute Zeit für uns, Miss Height? Es dauert nicht lange.« Er geleitete sie höflich in Quinns Büro, rückte ihr den Sessel gegenüber von Lewis, ihrem widerwilligen Gesprächspartner, zurecht, und blieb müßig neben ihr stehen.
Wenig später läutete das Telefon, und Lewis nahm ab. »Für Sie, Sir.«
»Hier Morse.«
»Könnte ich Sie wohl kurz sprechen, Inspector? Es ist – äh – ziemlich wichtig. Könnten Sie gleich mal vorbeikommen?«
»Bin schon unterwegs.«
Lewis und Monica hatten die Worte aus dem Hörer mitbekommen. Morse entschuldigte sich ohne weitere Erklärung.
In Monicas Büro fackelte er nicht lange. Die dicke Lammfelljacke im Wandschrank gab nicht viel her. Jetzt die Handtasche. Wenn überhaupt, dann würde er wohl hier fündig werden. Make-up, Scheckbuch, Kalender, Kugelschreiber, Kamm, kleine Flasche Parfüm, ein Paar Ohrringe, Programm für eine bevorstehende Aufführung des Messias, Schachtel Dunhill-Zigaretten, Streichhölzer, Börse. Mit nicht ganz sicherer Hand machte er sie auf und kramte darin herum. Kleingeld, Schlüssel, Briefmarken – und da war es, wahrhaftig, er hatte recht gehabt. Er atmete schnell und geräuschvoll, während er die Handtasche zumachte, sorgfältig an ihren Platz zurückstellte, das Zimmer verließ und die Tür leise hinter sich schloß. Auf dem Gang blieb er stehen. Die Folgen seiner Entdeckung waren ernst. Er war sich zwar ziemlich sicher gewesen, daß er mit einigem Glück etwas finden würde, aber irgendwas stimmte hier nicht, irgendwo war ein falscher Ton. So etwas war ihm noch nie passiert. Doch das würde sich bestimmt schnell klären.
Er war nicht länger als zwei oder drei Minuten weg gewesen, und Lewis fiel ein Stein vom Herzen, als er wieder hereinkam. Morse setzte sich auf eine Schreibtischecke und sah Monica Height an. Es passierte ihm manchmal (zugegebenermaßen selten), daß die Spezies Frau jeden Reiz für ihn verlor. So ging es ihm jetzt. Ihr Anblick ließ ihn so kalt, als habe er ein Marmorstandbild vor sich. Morse hatte sich sagen lassen, daß er mit solchen Erfahrungen nicht allein stand. Eine Art Trockenzeit hatten sie es genannt.
Er holte tief Luft. »Warum haben Sie mich wegen Freitag nachmittag angelogen?«
Monica wurde dunkelrot, war aber nicht besonders überrascht.
»Darauf hat Sally Sie gebracht, nicht? Mir war natürlich klar, was Ihr Mitarbeiter von ihr wollte.«
»Ich warte.«
»Ich weiß nicht warum. Vielleicht, weil es sich weniger – weniger schmutzig anhörte, als ich sagte, wir seien zu mir gegangen.«
»Weniger schmutzig als was?«
»Sie wissen schon. Als mit dem Auto herumzufahren und auf Rastplätzen zu halten und zu hoffen, daß keiner kommt.«
»Würde Mr. Martin Ihre Aussage bestätigen?«
»Ja, wenn Sie ihm erklären, warum –«
»Sie wollen mir doch wohl nicht weismachen, daß Sie ihn noch nicht vorbereitet haben?« Morses Tonfall wurde zunehmend strenger, und Monica lief wieder dunkelrot an.
»Glauben Sie nicht, daß wir ihn fragen müßten?«
»Nein. Der läßt sich von Ihnen um den Finger wickeln, das sieht doch ein Blinder. Ihre Lügengeschichten interessieren mich nicht. Ich verlange die Wahrheit. Es geht hier um einen Mord und nicht darum, daß Sie irgendwann mal Ihren Wagen ins Parkverbot gestellt haben.«
»Hören Sie, Inspector, ich kann Ihnen nur sagen –«
»Sie können mir sagen, wie es sich wirklich zugetragen hat.«
»Sie sind Ihrer Sache offenbar sehr sicher.«
»Allerdings. Können Sie mir verraten, was das ist?« Er hieb mit der Faust wütend auf die Schreibtischplatte. Die abgerissene Hälfte jener Kinokarte kam zum Vorschein. Am oberen Rand standen die Buchstaben IO, dahinter die Ziffer 2. Darunter stand: Parkett links, und am rechten Rand waren senkrecht die Ziffern 93 556 angeordnet.
Monica sah wie gebannt auf die Kinokarte herab.
»Na?«
»Dann haben Sie die kleine Komödie am Telefon mit Dr. Bartlett eingefädelt?«
»Ich hab schon Dümmeres in meinem Leben gemacht.«
Unvermittelt, unerklärlich schlug seine Stimmung um. Er sah sie an und sagte freundlicher: »Sie wissen doch, daß es früher oder später herauskommt. Bitte sagen Sie mir die Wahrheit.«
Monica seufzte tief. »Könnten Sie mir wohl eine Zigarette beschaffen, Inspector? Ich habe welche in der Handtasche – aber das wissen Sie ja.«
Und dann bestätigte sie, was Morse vermutet hatte. Sally war an diesem Nachmittag nicht in der Schule gewesen, zu Monica hatten sie deshalb nicht gehen können. Eigentlich, sagte sie, war sie auch nicht so scharf darauf gewesen. Natürlich war sie in gleichem Maße schuldig wie Donald, aber sie hatte sich in letzter Zeit wirklich sehr bemüht, die hoffnungslose und riskante Beziehung zu beenden. Donald hatte schließlich den Kinobesuch vorgeschlagen, und sie hatte sich überreden lassen. Zusammen mochten sie nicht hingehen, das wäre zu gefährlich gewesen, sie hatten deshalb verabredet, er solle zwanzig nach eins hineingehen, sie würde ein paar Minuten später nachkommen. Sie würden ihre Karten getrennt kaufen, und er würde sich in die letzte Parkettreihe setzen und nach ihr Ausschau halten. Ja, und so hatten sie es dann auch gemacht. Alles war glattgegangen, und gegen halb vier hatten sie sich wieder davongemacht. Sie waren beide mit dem eigenen Wagen gekommen, Monica hatte ihren in der Cranham Terrace geparkt, am Kino. Sie war von dort aus direkt nach Hause gefahren, und Donald auch, soweit sie wußte. Natürlich war ihnen der Schreck in die Glieder gefahren, als sie hörten, daß die Polizei wissen wollte, wo sie am Freitagnachmittag gewesen waren, und deshalb hatten sie in ihrer Dummheit … aber das wußte Morse ja mittlerweile. Doch allzuweit von der Wahrheit hatten sie sich ja nicht entfernt, oder? Na ja, gelogen hatte sie, das stimmte schon …
»Wenn Sie nichts dagegen haben, holen wir jetzt Ihren Scheich rein«, sagte Morse.
»Es ist bestimmt das beste.« Sie hatte den Seitenhieb widerspruchslos geschluckt und sah schon wieder ganz munter aus. Jedenfalls munterer als Morse.
Martin setzte mit unglücklichem Gesicht wieder zu der unautorisierten Fassung an, aber Monica fiel ihm ins Wort. »Sag ihnen, wie es wirklich war, Donald. Ich habe eben auch die Karten auf den Tisch gelegt. Sie wissen, wo wir am Freitagnachmittag waren.«
»Wie? Ach so.«
Morses Stimmung sank auf einen Tiefpunkt, während Martin sich stockend und stotternd durch dieselbe klägliche Geschichte kämpfte. Nirgends ein Widerspruch. Er war, wie Monica, hinterher offenbar direkt nach Hause gefahren. Ja, und das war’s wohl.
»Noch eine Frage.« Morse stieß sich von der Schreibtischecke ab und lehnte sich an einen Aktenschrank. Es war eine entscheidende, ja, die entscheidende Frage, und er wollte ihre Reaktionen sehen.
»An Sie beide. Haben Sie Mr. Quinn am Freitag nachmittag gesehen? Bitte überlegen Sie sich Ihre Antwort genau.«
Aber offenbar brauchten beide keine lange Bedenkzeit. Sie sahen ihn verständnislos an, schüttelten den Kopf und beteuerten im Brustton der Überzeugung, sie hätten ihn nicht gesehen.
Morse holte tief Luft. Konnte nichts schaden, es ihnen zu sagen – falls sie es nicht schon wußten. »Wären Sie überrascht, wenn ich Ihnen eröffnen würde, daß –« Morse legte eine, wie er hoffte, dramatische Pause ein – »daß am Freitagnachmittag noch einer Ihrer Kollegen im STUDIO 2 war?«
Martin wurde kalkweiß, und Monica sperrte den Mund auf wie eine chronisch Asthmakranke, die nach Luft ringt. Morse hätte, wie er später einsah, klüger daran getan, die volle Wirkung seiner Worte abzuwarten. Aber er fuhr fort: »Da staunen Sie, was? Wir wissen genau, wo Mr. Quinn am Freitagnachmittag war. Er saß – wie Sie beide – im Parkett von STUDIO2.«
Martin und Monica Height sahen ihn sprachlos an.
Als sie gegangen waren, wandte Morse sich an Lewis. »So, daran dürften sie eine Weile zu kauen haben.«
Aber Lewis machte kein Hehl aus seiner Unzufriedenheit. »Entschuldigen Sie bitte, Sir, aber –«
»Na los, Lewis, spucken Sie’s schon aus.«
»Ich glaube, daß das nicht besonders gut gelaufen ist.«
»Das Gefühl habe ich auch«, sagte Morse gelassen. »Weiter.«
»Ja, also, ich hatte den Eindruck, daß sie gar nicht richtig überrascht waren, als Sie sagten, es sei noch einer ihrer Kollegen im Kino gewesen. Es war fast, als ob –«
»Ich weiß schon. Es war fast, als ob sie erwartet hätten, einen anderen Namen von mir zu hören, nicht?«
Lewis nickte nachdrücklich. »Aber als Sie sagten, daß es Quinn war, da haben sie echt gestaunt.«
»Stimmt. Bleibt also nur noch einer. Bartlett war an dem Nachmittag in Banbury.«
»Das haben wir nicht nachgeprüft.«
»Wir werden einige Direktoren finden, die sein Alibi bestätigen.«
»Dann bleibt nur Ogleby.«
Morse nickte.
»Soll ich ihn holen?«
»Was meinen Sie?« Seine gewohnte Selbstsicherheit war ihm abhanden gekommen, und Lewis stand auf und ging zur Tür. »Nein, Lewis, warten Sie noch einen Augenblick. Ich möchte noch einmal in aller Ruhe darüber nachdenken.«
Lewis zuckte ein wenig ungeduldig die Schultern und setzte sich wieder. Morse war offenbar nicht so ganz in Form. Trotzdem würde es nicht lange dauern, bis etwas passierte, das wußte er. Wenn Morse mitmischte, passierte immer was.
Und während Lewis noch einmal selbstgerecht die durchaus zutreffenden Bemerkungen Revue passieren ließ, die er soeben geäußert hatte, dachte Morse an eine dicke Fehlleistung seines logisch-analytischen Denkens. Trottel, der er war. Martin und Monica Height. Warum hatten sie ihm diese dümmliche Lüge überhaupt aufgetischt? Da Sally so oft zu Hause war, mußten sie doch damit rechnen, daß ein einigermaßen tüchtiger Kriminalbeamter der Wahrheit sehr bald auf die Spur kommen würde. Warum also? Und plötzlich stand die Antwort klar und deutlich vor ihm. Weil es ebenso riskant gewesen wäre, die Wahrheit zu sagen. Warum hatten sie nicht zugegeben, daß sie ins Kino gegangen waren? Das war doch weit harmloser als die klägliche Schäferstunde, zu der sie sich bedenkenlos bekannt hatten. Es war schließlich nichts dabei, wenn Mann und Frau zusammen ins Kino gingen. Gewiß, es konnte – ja, es würde – Gerede geben, wenn sie zusammen gesehen wurden. Aber … Die Silhouetten an der Wand hatten sich neu gruppiert. Sie umstanden jetzt alle einen Mann. Arnold Philip Ogleby.
»Sie haben schon recht, Lewis. Holen Sie ihn her. Sofort, wenn ich bitten darf.«
Donald und Monica waren ein paar Sekunden schweigend auf dem gebohnerten Gang stehengeblieben. »Komm einen Moment herein«, flüsterte Monica. Sie machte die Bürotür hinter sich zu, funkelte ihn wütend an und erklärte leise und nachdrücklich: »Wir sagen kein Wort darüber, ist das klar? Kein einziges Wort.«