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Um die Mitte des 19. Jahrhunderts hatten radikale Reformen in Oxford eingesetzt, und bis zur Jahrhundertwende waren durch zahlreiche Kommissionen, Gesetze und Verordnungen Änderungen eingeleitet worden, die das Leben in Stadt und Universität von Grund auf verändern sollten. In die Lehrpläne der Hochschule wurden die aufstrebenden Naturwissenschaften und neuere Geschichte aufgenommen. Das unter Benjamin Jowett in Balliol entstandene hohe akademische Niveau wurde allmählich auch in den anderen Colleges eingeführt. Die Einrichtung von Lehrstühlen brachte zunehmend Gelehrte von internationalem Ruf nach Oxford. Die Säkularisierung der Hochschullehrerposten begann den traditionellen, religiös bestimmten Rahmen universitärer Disziplin und Administration zu sprengen. Junge Männer römisch-katholischen und mosaischen Glaubens und Angehörige anderer merkwürdiger Bekenntnisse wurden jetzt als Studenten zugelassen und nicht mehr nolens volens mit Cicero und Chrysostomus aufgezogen. Doch vor allem lag die Lehrtätigkeit an der Hochschule nicht mehr allein in den Händen zölibatärer, weltfremder Geistlicher, von denen etliche, wie zu Gibbons Zeit, wohl wußten, daß ihnen ein Gehalt zustand, darüber aber vergaßen, daß sie auch entsprechende Pflichten hatten. Viele der neuberufenen und auch einige der alteingesessenen Hochschullehrer verzichteten auf die Annehmlichkeiten der Junggesellenräumlichkeiten im College, verehelichten sich, kauften ein Haus für sich, ihre Frau, ihre Sprößlinge und Dienstboten in unmittelbarer Nähe des alten geistigen Zentrums von Holywell und High Street, Broad Street und St. Giles. Insbesondere breiteten sie sich nördlich der breiten, baumbestandenen St. Giles aus – dort, wo die Woodstock Road und die Banbury Road zu den Feldern von Nordoxford hinausgehen, in Richtung des Dörfchens Summertown.
Wer heute Oxford besucht und sich von der St. Giles nach Norden wendet, ist beeindruckt von den meist aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stammenden imposanten Häusern in der Woodstock und Banbury Road und ihren Querstraßen. Von den verwitterten gelben Gesimsen um die weißgestrichenen Fensterrahmen abgesehen, sind diese dreigeschossigen Häuser aus hübschem rötlichen Backstein. Die steilen Dächer haben kleine rechteckige Ziegel in einem eher orangeroten Ton, zahlreiche Schornsteine erheben sich über den Giebelfenstern. Daß solche Häuser heutzutage noch von einer einzigen Familie bewohnt werden, kommt nur ganz selten vor. Dazu sind sie zu groß, zu kalt, zu teuer im Unterhalt, die Umlagen sind zu hoch, die Gehälter (angeblich) zu niedrig, und die rapide im Aussterben begriffene Spezies der Hausangestellten verlangt einen Farbfernseher im Wohnzimmer. Die meisten Häuser sind deshalb in Mietwohnungen aufgeteilt, zu Hotels umgebaut, von Ärzten, Zahnärzten, Sprachschulen für Ausländer, Fachbereichen der Universität und Krankenhäusern übernommen – und in einem großen, gut ausgestatteten Gebäude in der Chaucer Road ist der Verband für Auslandsprüfungen untergebracht.
Das Haus ist etwa zwanzig Meter von der verhältnismäßig ruhigen Straße zurückgesetzt, die die belebten Durchgangsstraßen Banbury Road und Woodstock Road verbindet, und neugierigen Blicken hinter eine Reihe von Roßkastanien entzogen. Von vorn ist es über eine gekieste Auffahrt zu erreichen, an der etwa ein Dutzend Wagen parken können. Doch das Personal der Geschäftsstelle ist neuerdings so angewachsen, daß dieser Platz inzwischen nicht mehr ausreicht, und die Auffahrt ist nach links verlängert worden und führt zu einem kleinen zementierten Hof an der Rückseite, wo die akademischen Mitarbeiter ihre Wagen abstellen.
In dem Verband sind fünf Akademiker als hauptamtliche Mitarbeiter tätig, vier Männer und eine Frau. Jeder betreut in erster Linie das Fachgebiet, das er oder sie studiert und später gelehrt hat. Denn als eherne Regel gilt, daß kein Akademiker Chancen hat, eine Stellung bei dem Verband zu bekommen, wenn er nicht mindestens fünf Jahre Erfahrung im Schuldienst vorweisen kann. Die Namen der fünf Akademiker stehen in dicken blauen Buchstaben auf dem Briefbogen des Verbandes. Und auf solchen Bögen tippen am Freitag, dem 31. Oktober (dem Tag nach Quinns Beratungen mit den Historikern), in einem großen umgebauten Schlafzimmer im ersten Stock vier der fünf Sekretärinnen Briefe an die Direktoren und Direktorinnen jener Schulen im Ausland (eine erlesene, aber wachsende Schar), die bei der staatlichen Prüfung ihre Kandidaten für den Realschulabschluß und die Hochschulzulassung dem Wohlwollen und dem Fachverstand des Verbandes anvertrauen. Die vier jungen Frauen bearbeiten die Tasten ihrer Schreibmaschine mit unterschiedlichem Geschick. Häufig beugt sich eine vor, um einen Tippfehler oder einen Buchstabendreher zu beseitigen. Gelegentlich wird ein Blatt aus der Maschine gerissen, das Kohlepapier gerettet, aber Brief und Durchschläge werden wütend in den Papierkorb gepfeffert. Die fünfte Sekretärin, die sich bisher in eine Frauenzeitschrift vertieft hatte, legt sie jetzt beiseite und schlägt ihren Stenoblock auf. Irgendwann muß man ja mal anfangen. Automatisch greift sie zum Lineal und streicht sauber den dritten Namen auf dem Briefkopf durch. Dr. Bartlett hat angeordnet, daß die Damen jedes Blatt von Hand zu verbessern haben, bis die neuen Briefbögen geliefert worden sind – und Margaret Freeman tut meist, was ihr gesagt wird.
Dr. phil. T. G. Bartlett, M. A., Geschäftsführer
P. J. Ogleby, M. A., Stellvertretender Geschäftsführer
G. Bland, M. A.
Miss M. M. Height, M. A.
D. J. Martin, B. A.
Unter den letzten Namen tippt sie: »N. Quinn, M. A.« So heißt ihr neuer Boss.
Als Margaret Freeman weg war, öffnete Quinn einen seiner Aktenschränke und holte die Entwürfe der Prüfungsbögen für Geschichte heraus. Noch ein, zwei Stunden, dann konnten sie in Druck gehen. Alles in allem war er mit seinem Leben recht zufrieden. Das Diktieren (eine für ihn völlig neue Tätigkeit) war gut gelaufen; allmählich kam er dahinter, wie man es anstellt, seine Gedanken unmittelbar in gesprochene Worte umzusetzen, ohne sie erst aufschreiben zu müssen. Und er war sein eigener Herr. Bartlett verstand sich auf die Kunst des Delegierens, und sofern nicht ganz grobe Schnitzer vorkamen, ließ er seine Mitarbeiter völlig selbständig schalten und walten. Ja, Quinn hatte Spaß an seinem neuen Job. Nur die Telefone machten ihm Kummer und brachten ihn, wie er selbst zugab, immer wieder in die größte Verlegenheit. In jedem Büro standen zwei Apparate, ein weißer für Hausverbindungen, ein grauer für Amtsgespräche. Da hockten sie nun, dick und drohend, rechts von Quinn, und er betete darum, daß sie Ruhe gaben, denn noch immer konnte er das Gefühl der Panik nicht bezwingen, das in ihm aufstieg, wenn ihr leises, fernes Schnarren ihn zwang, den einen oder anderen Hörer abzunehmen (er wußte nie welchen). Doch an diesem Vormittag blieben beide Apparate still, und Quinn vermerkte ruhig und gesammelt die vereinbarten Änderungen in den Prüfungsbögen. Um Viertel vor eins war er mit vier der Fragebögen fertig und stellte angenehm überrascht fest, wie rasch der Vormittag vergangen war. Er schloß die Unterlagen ein (Bartlett war in Sicherheitsfragen unheimlich pingelig) und überlegte, ob Monica wohl mit ihm auf einen Drink und ein Sandwich in das Pub Roß und Trompete gehen würde – das er beim erstenmal als »Geile Agnethe« mißverstanden hatte. Monicas Büro war direkt gegenüber. Er klopfte leise und machte die Tür auf. Sie war nicht da.
In der Bar des Pubs Roß und Trompete schob sich ein hochgewachsener Mann mit strähnigem Haar vorsichtig an den vollbesetzten Tischen vorbei bis in die hinterste Ecke. In der linken Hand hatte er einen Teller mit Sandwiches, in der rechten ein Glas Gin und einen Krug Bier. Er setzte sich neben eine Frau von Mitte Dreißig. Sie rauchte und war sehr attraktiv. Schon ein paarmal hatten taxierende Blicke der Männer von den Nachbartischen sie gestreift.
»Prost.« Er hob sein Glas und steckte die Nase in den Schaum.
»Prost.« Sie trank einen Schluck Gin und drückte die Zigarette aus.
»Hast du an mich gedacht?« fragte er.
»Ich hatte zu viel um die Ohren, da war überhaupt keine Zeit, um an irgendwelche Leute zu denken.« Das klang nicht sehr ermutigend.
»Aber ich habe an dich gedacht.«
»Ach ja?«
Es gab eine Pause.
»Es muß ein Ende haben, das müßte dir eigentlich klar sein.« Erst jetzt sah sie ihm gerade ins Gesicht. Er war merklich betroffen.
»Gestern hast du gesagt, daß es dir Spaß gemacht hat«, sagte er sehr leise.
»Klar hat es mir Spaß gemacht. Darum geht es doch nicht«, sagte sie ungeduldig und etwas zu laut.
»Pst! Sollen das alle hören?«
»Du bist wirklich kindisch. So kann es nicht weitergehen. Wenn die bis jetzt noch nichts gewittert haben, sind sie blind. Wir müssen Schluß machen. Du bist schließlich verheiratet. Bei mir ist es nicht so kritisch, aber –«
»Könnten wir nicht einfach –«
»Nein, Donald. Ein für allemal nein. Ich habe es mir lange überlegt, und … Es muß einfach aufhören. Tut mir leid, aber …«
Es war wirklich riskant, und am meisten fürchtete sie, Bartlett könnte ihnen auf die Spur kommen. Der mit seiner viktorianischen Einstellung …
Sie gingen wortlos ins Büro zurück, aber Donald Martin war nicht ganz so untröstlich, wie er tat. Ähnliche Gespräche hatten sie schon ein paarmal geführt, und wenn er den richtigen Augenblick abpaßte, spielte sie nur zu gern wieder mit. Solange sie kein anderes Ventil für ihren sexuellen Frust hatte, gab es für ihn immer wieder eine Chance, und wenn sie erst mal zusammen in Monicas Bungalow waren, hinter verschlossener Tür, bei zugezogenen Vorhängen – Menschenskind, was war das für eine heiße Nummer. Er wußte, daß Quinn sie mal zu einem Drink ausgeführt hatte, aber das störte ihn nicht weiter. Oder? Als sie zehn nach zwei die Geschäftsstelle betraten, fragte er sich zum erstenmal, ob er sich nicht doch ein kleines bißchen an dem so harmlos aussehenden Quinn mit seiner Hörhilfe und den großen, unschuldigen Kinderaugen stören müßte.
Philip Ogleby hörte Monica in ihr Büro gehen und verschwendete an diesem Tag keinen Gedanken mehr an sie. Sein Zimmer war das erste auf der rechten Gangseite, neben ihm war Bartletts Büro, dann, ganz am Ende, das von Monica. Er leerte seine zweite Tasse Kaffee, schraubte die Thermosflasche zu und legte eine alte Nummer der Prawda aus der Hand. Ogleby war seit vierzehn Jahren beim Verband und seinen derzeitigen Kollegen ebenso ein Buch mit sieben Siegeln, wie er es den vorhergehenden gewesen war. Er war Junggeselle und mittlerweile 53 Jahre alt, hatte ein hageres Asketengesicht und eine stets bekümmert-resignierte Miene. Das ihm verbliebene Haar war grau, und die ihm verbleibenden Lebensjahre versprachen womöglich noch grauer zu werden. In jungen Jahren hatte er sich für zahlreiche und teilweise recht ausgefallene Steckenpferde begeistert – Moriskentanz, viktorianische Laternenpfähle, Schwertlilien, Dampflokomotiven und römische Münzen. Als er sein Examen in Cambridge mit Auszeichnung gemacht und gleich eine Stellung als Mathematiklehrer an einer angesehenen Privatschule bekommen hatte, schien eine beneidenswert glänzende Laufbahn vor ihm zu liegen. Doch schon damals hatte es ihm an Ehrgeiz gefehlt. Und mit 39 war er nur deshalb auf seinem derzeitigen Posten gelandet, weil er das vage Gefühl gehabt hatte, sich zu lange auf eingefahrenen Gleisen bewegt zu haben, und es deshalb einmal mit einer anderen Art von Trott versuchen wollte. Es gab nicht mehr viel im Leben, was ihm Freude machte; das Reisen gehörte dazu. Zwar waren die sechs Wochen Jahresurlaub für seinen Geschmack bei weitem nicht lang genug, dafür erlaubte ihm sein durchaus ansehnliches Gehalt, in der knapp bemessenen Zeit neue, ungewöhnliche Wege zu gehen. Erst im vergangenen Jahr war er vierzehn Tage in Moskau gewesen. Er war Bartletts offizieller Stellvertreter; außerdem betreute er die Fächer Mathematik, Physik und Chemie. Da von seinen Kollegen niemand (nicht einmal die Philologin Monica Height) sich in den ausgefalleneren Sprachen so gut auskannte wie er, befaßte er sich, so gut es eben gehen wollte, auch mit Walisisch und Russisch. Seinen Mitarbeitern gegenüber verhielt er sich ausgesprochen indifferent. Selbst Monica behandelte er wie ein toleranter Ehemann seine Schwiegermutter. Die Kollegen akzeptierten ihn so, wie er war: geistig ihnen allen überlegen, verwaltungstechnisch unheimlich tüchtig, gesellschaftlich eine Null. Nur noch einen Menschen in Oxford gab es, der um die andere Seite seines Wesens wußte.
Zwanzig nach fünf wählte Bartlett Apparat 5.
»Sind Sie’s, Quinn?«
»Hallo?«
»Könnten sie mal eben in mein Büro kommen?«
»Entschuldigen Sie, ich verstehe nicht ganz …«
»Hier Bartlett«, schrie der in den Hörer.
»Ach so, Pardon. Ich verstehe Sie so schlecht, Dr. Bartlett, am besten komme ich eben mal bei Ihnen vorbei.«
»Darum hatte ich Sie ja gerade gebeten.«
»Bitte?«
Bartlett legte auf und seufzte schwer. Es war völlig sinnlos, mit Quinn zu telefonieren.
Quinn klopfte und trat ein.
»Nehmen Sie Platz, Quinn, ich möchte eine Kleinigkeit mit Ihnen besprechen. Als Sie gestern Ihre Sitzung hatten, habe ich den anderen Einzelheiten über unsere – äh – Festivität in der nächsten Woche erzählt.«
Quinn konnte ihm recht gut folgen. »Sie meinen das Treffen mit den Ölscheichs, Sir?«
»Ganz recht. Bitte bedenken Sie, daß die Sache für uns wichtig ist. Der Verband hat in den letzten Jahren knapp ohne Verlust abgeschlossen, und ohne unsere Beziehungen zu einigen der neuen Ölstaaten wären wir sehr schnell pleite, das muß man klar sehen. Wir haben uns mit unseren Schulen drüben in Verbindung gesetzt, und die haben uns gebeten, wir sollten uns mal Gedanken über einen neuen Lehrplan für Geschichte machen – zunächst bis zum Realschulabschluß. So in der Richtung Suezkanal, Lawrence von Arabien, Kolonialismus, äh – kulturelles Erbe, Ausbeutung von Bodenschätzen, na, Sie wissen schon. Ist ja auch wirklich wichtiger als Elisabeth eins, wie?«
Quinn nickte unbestimmt.
»Mir geht es jetzt um folgendes: Lassen Sie sich die Sache bis zur nächsten Woche mal durch den Kopf gehen, ja? Bringen Sie ein paar Ideen zu Papier. Nicht zu ausführlich, nur in Umrissen. Und die geben Sie mir dann.«
»Ich werde mein Bestes tun, Sir. Aber könnten Sie bitte einen Punkt noch einmal wiederholen? Sagten Sie ›Wichtiger als das Elend des Seins‹?«
»Elisabeth eins, Mann! Elisabeth die Erste!«
»Ja, so. Natürlich.« Quinn lächelte bläßlich und ging äußerst kleinlaut hinaus. Wenn sich nur Bartlett ein bißchen mehr Mühe mit seinen Mundbewegungen geben würde.
Bartlett machte die Augen halb zu, verzog die Lippen, als habe er eine Tasse Essig geschluckt, und fletschte die Zähne. Wieder dachte er an Roope. Was war der Mann doch für ein Trottel gewesen.