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Am Freitag, dem 21. November, bestieg ein etwa dreißigjähriger Mann in Paddington den Zug nach Oxford. Er fand ohne große Mühe ein leeres Abteil Erster Klasse, setzte sich behaglich zurecht und zündete sich eine Zigarette an. Seiner Aktentasche entnahm er einen an ihn gerichteten ziemlich dicken Umschlag (»Wenn unzustellbar, bitte an den Verband für Auslandsprüfungen zurück!«) und holte mehrere umfangreiche Berichte heraus. Er angelte einen Kugelschreiber aus der Brusttasche und begann sich sporadische Notizen zu machen. Da er Linkshänder war und die engbeschriebenen Blätter nur einen schmalen, überdies noch rechts angeordneten Rand hatten, war das ein recht mühsames Geschäft, besonders nachdem der Intercity in den nördlichen Vororten volle Fahrt machte. Der Regen schlug in schrägen Streifen an die schmutzigen Scheiben, immer schneller haschten die Telegrafenstangen nach den Drähten, während er abwesend auf die kahle Herbstlandschaft hinausblickte. Auch als er sich mit einem energischen Ruck wieder den lästigen Unterlagen zuwandte, fiel ihm die Konzentration schwer. Kurz vor Reading ging er in den Speisewagen und trank einen Scotch, dann einen zweiten. Danach fühlte er sich besser.

Um vier steckte er die Papiere wieder in den Umschlag, strich seinen Namen, C. A. Roope, aus und schrieb auf den Umschlag: T. G. Bartlett. Bartlett war ihm menschlich unsympathisch (was er auch nicht verhehlen konnte), aber er war ehrlich genug, um seine Erfahrung und seine sichere Hand in Verwaltungsangelegenheiten zu respektieren. Roope hatte versprochen, heute nachmittag die Unterlagen bei der Geschäftsstelle abzugeben. Bartlett würde nie das Protokoll einer Vorstandssitzung herausgehen lassen, ehe der Entwurf allen Teilnehmern vorgelegen hatte. Und Roope mußte zugeben, daß sich diese Pedanterie in vielen Fällen durchaus bewährt hatte. Für heute war die lästige Aufgabe jedenfalls bewältigt. Roope ließ die Aktentasche zuschnappen und sah wieder hinaus in den Regen. Die Fahrt war schneller gegangen, als er zu hoffen gewagt hatte, und wenig später tauchten zu seiner Rechten hinter den Regenschleiern die grauen Türme Oxfords auf, und der Zug fuhr in den Bahnhof ein.

Roope ging durch die Unterführung, stellte sich geduldig an der Sperre an und überlegte kurz, ob er sich überhaupt die Mühe machen sollte. Dabei wußte er, daß er für sich die Frage schon entschieden hatte. Er nahm die Rückfahrkarte Zweiter Klasse aus der Brieftasche und reichte sie dem Bahnsteigschaffner. »Sie bekommen noch Geld von mir. Ich bin zurück Erster gefahren.«

»Ist der Schaffner nicht durchgekommen?«

»Nein.«

»Tja, dann ist die Sache doch eigentlich erledigt, oder?«

»Bestimmt?«

»Ich wünschte, alle Fahrgäste wären so ehrlich wie Sie, Sir.«

»Na gut, wenn Sie meinen …«

Roope nahm ein Taxi und gab dem Fahrer ein großzügiges Trinkgeld, als er ihn vor dem Verbandsgebäude absetzte. In den oberen Stockwerken umliegender Bürohäuser schimmerten blaßgelbe Lichtflächen, und die Umrisse der Baumriesen vor der Geschäftsstelle zeichneten sich schwarz vor einem dunkel werdenden Himmel ab. Es goß in Strömen.

 

Charles Noakes, seines Zeichens Hausmeister beim Verband für Auslandsprüfungen, war ein relativ junger und hilfsbereiter Vertreter seiner Gattung. Noch waren seiner Seele nicht durch jahrelangen Ärger um das Schließen von Fenstern, das Bohnern von Fußböden, die Bedienung der Zentralheizung und die Einstellung der Einbruchsicherung Schwielen gewachsen. Als Roope das Haus betrat, wechselte er gerade eine Leuchtstoffröhre im unteren Gang aus.

»Tag, Noakes. Ist Dr. Bartlett da?«

»Nein, Sir, er war den ganzen Nachmittag nicht im Haus.«

»Ach so.« Roope klopfte bei Bartlett und sah ins Zimmer. Das Licht brannte. Aber darauf konnte man, wie Roope wußte, nichts geben. Das Einschalten einer Leuchtstoffröhre, behauptete Bartlett, verbrauche ebensoviel Energie wie stundenlanger Betrieb, und deshalb blieb in der Geschäftsstelle »aus Gründen der Wirtschaftlichkeit« in allen Räumen das Licht ständig eingeschaltet. Einen Moment glaubte Roope ein Geräusch zu hören, aber dann war es wieder still. Auf dem Schreibtisch lag ein Zettel: »Freitag nachmittag. Bin nach Banbury. Vielleicht gegen fünf zurück.«

»Was hab ich Ihnen gesagt, Sir? Er ist nicht da.« Noakes war von der kleinen Leiter gestiegen und stand vor der Tür.

»Macht nichts, dann spreche ich kurz mit einem der anderen.«

»Da werden Sie nicht viel Glück haben, Sir. Soll ich mal nachsehen, wer noch da ist?«

»Nein, lassen Sie nur, das mache ich selber.«

Er klopfte und sah in Oglebys Zimmer. Keine Spur von Ogleby.

Er versuchte es bei Martin. Keine Spur von Martin.

Er hatte gerade bei Monica Height geklopft und senkte lauschend den Kopf, als der Hausmeister in dem gutbeleuchteten und gutgebohnerten Gang erschien. »Sieht so aus, als ob bloß noch Mr. Quinn da ist, Sir. Jedenfalls steht sein Wagen hinten. Die anderen sind wohl schon weg.«

Ja, ja, wenn die Katze fort ist, dachte Roope. Er machte die Tür zu Monicas Büro auf und sah hinein. Das Zimmer wirkte unheimlich aufgeräumt, der Schreibtisch war leer, der Ledersessel daruntergeschoben.

Bei Quinn versuchte der Hausmeister sein Glück, und Roope trat hinter ihn, als die Tür offenstand. Ein grüner Anorak lag über einem der Sessel, und die oberste Schublade eines Aktenschrankes mit zahlreichen gelben Mappen stand offen. Auf der Schreibtischplatte lag unter einem billigen Briefbeschwerer eine Nachricht von Quinn für seine Sekretärin, aber Quinn selbst war nicht zu sehen.

Roope hatte oft genug davon gehört, daß Bartlett seinen Mitarbeitern immer wieder ans Herz legte, in Prüfungsangelegenheiten strikte Geheimhaltung zu wahren und unbedingt eine Nachricht über ihren jeweiligen Aufenthaltsort zu hinterlassen. »Immerhin hat er uns einen Zettel dagelassen, wozu die anderen sich offenbar nicht haben aufraffen können.«

»Über das da wäre aber der Chef bestimmt nicht sehr glücklich.«

Noakes schloß mit ernster Miene den Schrank und ließ das Schloß einschnappen.

»Ziemlicher Pedant in solchen Sachen, der gute Bartlett, was?«

»Er ist überhaupt ziemlich pedantisch, Sir.« Aber irgendwie hatte Roope den Eindruck, daß Noakes, wäre er genötigt, Partei zu ergreifen, sich auf Bartletts Seite schlagen würde.

»Sie glauben also nicht, daß er zu pingelig ist?«

»Nein, Sir. Ich meine, hier kommen doch alle möglichen Leute rein, bei so Sachen kann man nicht vorsichtig genug sein.«

»Recht haben Sie, Noakes.«

Die Bestätigung tat dem Hausmeister wohl, und er ging ein bißchen aus sich heraus. »Eins muß ich ja sagen, Sir, für seine Feuerübung hätte er sich auch eine wärmere Woche aussuchen können.«

»Feuerübungen habt ihr hier auch? Donnerwetter.« Roope griente. Seit seiner Schulzeit hatte er keine Feuerübung mehr mitgemacht.

»Heute, Sir. Punkt zwölf. Eine Viertelstunde hat er uns alle draußen stehenlassen. Gemein kalt war’s. Ich weiß, daß es hier drin ein bißchen zu warm ist, aber …« Noakes war drauf und dran, sich des längeren über seinen ungleichen Kampf mit der antiquierten Heizung in der Geschäftsstelle auszulassen, aber Roope war offenbar weit mehr an Bartlett interessiert.

»Eine Viertelstunde? Bei diesem Wetter?«

Noakes nickte. »Na schön, er hatte uns Anfang der Woche Bescheid gesagt, wir hatten also unsere Mäntel an und alles, und zum Glück hat’s da gerade mal nicht geregnet, aber –«

»Warum denn bloß so lange?«

»Wir haben doch jetzt einen Haufen Mitarbeiter, und jeder mußte seinen Namen auf der Liste abhaken. Wie in der Schule. Und dann hat uns der Chef ’ne kleine Rede gehalten …«

Aber Roope hörte nicht mehr zu. Er konnte schließlich nicht den ganzen Abend hier stehen und mit dem Hauswart reden. Langsam setzte er sich wieder in Bewegung. »Trotzdem komisch, nicht? Heute vormittag sind alle noch vollzählig angetreten, und heute nachmittag ist kein Mensch mehr da.«

»Stimmt schon, Sir. Kann ich sonst noch was für Sie tun?«

»Nein, nein, ist nicht weiter tragisch. Ich wollte Bartlett nur den Umschlag geben. Ich leg ihn auf seinen Schreibtisch.«

»Sobald die Röhre drin ist, mach ich mir oben ’ne Tasse Tee. Möchten Sie auch eine, Sir?«

»Nein, ich muß weiter. Trotzdem schönen Dank.«

Roope benützte die Herrentoilette am Eingang. Jetzt merkte er auch, wie warm es im Haus war. Wie in einer Sauna.

 

Bartlett hatte vor einer Gruppe von Schulleitern und Schulleiterinnen eine Rede über die eingetretenen Änderungen bei staatlichen Prüfungen gehalten und die letzte Frage autoritativ (aber mit einer Prise Humor) etwa zur gleichen Zeit beantwortet, als Roope das Taxi bestiegen hatte, das ihn zur Geschäftsstelle brachte. Dann setzte er sich in seinen dunkelbraunen Vanden Plas, der sein ganzer Stolz war, und fuhr im Hundertertempo die etwa dreißig Kilometer zurück nach Oxford. Er wohnte in Botley, auf der Westseite der Stadt, und während der Fahrt überlegte er, ob er noch einmal im Büro vorbeischauen oder gleich nach Hause fahren sollte. Aber in Kidlington geriet er in den üblichen Abendstau, und während er sich über den Kreisverkehr am Nordrand von Oxford quälte, beschloß er, gleich Richtung Heimat abzubiegen. Vielleicht fuhr er später, nach der Rush-hour, noch einmal zur Geschäftsstelle.

Als er kurz nach fünf heimkam, sagte ihm seine Frau, daß mehrere Anrufe für ihn eingegangen seien. Und während sie ihm noch Einzelheiten berichtete, läutete das verflixte Telefon schon wieder. Nicht zum erstenmal fand sie, daß eine Geheimnummer etwas durchaus Erstrebenswertes wäre.

 

Am Samstag, dem 22. November, wurde (wie an den meisten Samstagen) die Alarmanlage früh um halb neun, eine Stunde später als an Wochentagen, abgestellt. In den Wintermonaten wurde am Samstag nur manchmal gearbeitet, und an diesem Samstag war das Haus allem Anschein nach völlig leer. Ogleby kam zu Fuß und schloß leise auf. Der Geruch nach Bohnerwachs weckte in ihm, wie der Geruch nach Kinositzen und alten Bibliotheksbüchern, verlockende Erinnerungen an seine frühen Schultage, aber er hatte jetzt an anderes zu denken. Er sah nacheinander in alle Räume im Erdgeschoß, um sich davon zu überzeugen, daß niemand da war, was er aber ohnehin spürte. Im Haus hing eine unheimlich hallende Leere, die durch das leise Türenschlagen nur noch vertieft wurde. Er betrat sein Büro und wählte eine Nummer.

»Guten Morgen, Chef. Hoffentlich habe ich Sie nicht aus dem Bett geholt? Freut mich. Ich habe eine ganz dumme Frage. Können Sie mir sagen, wann am Samstag die Alarmanlage abgestellt wird?

Um halb neun? Ja, dachte ich mir, aber ich wollte mich doch noch mal vergewissern. Komisch, ich hatte mir irgendwie eingebildet, das sei irgendwann mal geändert worden. Nein, verstehe. Entschuldigen Sie bitte die Störung. Ist die Sitzung in Banbury gut gelaufen? Bestens. Tja, dann mache ich mich jetzt auf den Weg.«

Ogleby ging in Bartletts Zimmer. Er sah sich rasch um und holte dann seine Schlüssel heraus. Von Botley bis zur Geschäftsstelle fuhr man mindestens zwanzig Minuten, er hatte also eine gute halbe Stunde zur Verfügung. Aber Ogleby war ein vorsichtiger Mensch und genehmigte sich nur zwanzig Minuten.

 

Fünfundzwanzig Minuten später – er saß inzwischen an seinem Schreibtisch – hörte er, wie jemand das Haus betrat. Gleich darauf ging die Tür auf.

»Sie sind also reibungslos hereingekommen, Philip?«

»Ja, danke. Kein Alarm auf der Wache.«

»Gut.« Bartlett blinzelte hinter seiner Brille. »Ich – äh – habe auch noch ein paar Sachen zu erledigen.« Er machte die Tür wieder zu und ging in sein Büro. Er wußte natürlich, was gespielt wurde. Für einen klugen Mann wie Ogleby war die Ausrede mit der Alarmanlage äußerst dürftig. Aber wonach hatte er gesucht? Bartlett öffnete seine Schränke und zog die Schublade heraus, aber alles war in Ordnung, offenbar war nichts gestohlen worden. Und überhaupt – was hätte hier das Stehlen gelohnt? Er lehnte sich zurück und runzelte nachdenklich die Stirn. Die Sache war doch recht beunruhigend. Er ging noch einmal die paar Schritte bis zu Oglebys Zimmer, aber Ogleby war schon weg.