17
Morse saß in seinem Büro. Die Bartletts erwarteten ihn erst in zweieinhalb Stunden, und er war froh, daß er einmal in Ruhe nachdenken konnte.
Die Lebensmittel, die Quinn gekauft hatte, und die Bestandsaufnahme seines Vorratsschrankes hatten sich als unerwartet aufschlußreich erwiesen. Zwei Steaks und eine Tüte Champignons zum Beispiel. Ein bißchen reichlich für eine Person, was? War die Menge vielleicht für zwei berechnet? Ein Liebespaar? Morse sah wieder das Mädchen im Wartesaal vor sich, das plötzlich mit der Gestalt von Monica Height verschmolz. Monica hatte zugegeben, daß sie im Kino gewesen war. Allerdings mit Martin. Konnte er Martin außer acht lassen? Der Mann war ein Waschlappen. Und so vernarrt in Monica, daß er zu jeder von ihr gewünschten Aussage bereit wäre, wenn sie ihn darum bat oder ihn bestach. Weiter, Morse. Also Monica und Quinn. Letzte Reihe Parkett. Ungeschicktes Fummeln an Knöpfen und Verschlüssen, stürmische Zärtlichkeiten, mit der Verheißung weiterer Freuden … später. Aber wo? Nicht bei ihr, da war ja Sally. Warum nicht bei ihm? Er besorgte die Zutaten (Steaks? Champignons?), sie machte das Essen. Mit Vergnügen. »Und denk dran, Nick, diesmal bring ich was zu trinken mit … Sherry, ja? Trockenen Sherry, den trinke ich auch gern. Und eine Flasche Scotch, weil der mich so schön anmacht …« Denkbar. Zumindest ein Ansatzpunkt.
Morse las noch einmal die beiden Aufstellungen und machte eine neue Entdeckung. Quinn hatte schon zwei Halbpfundpackungen Butter im Kühlschrank, aber aus irgendeinem Grund hatte er noch eine gekauft. Eine andere Marke. Eigenartig. Ebenso eigenartig wie ein paar andere Punkte. Er griff nach einem Zettel und notierte:
a) Stellung von Quinns Beistelltisch weist darauf hin, daß er vermutlich im Zug gesessen hat. (Nur keine voreiligen Schlüsse, Sherlock!)
b) Keine abgebrannten Streichhölzer in Küche oder Wohnzimmer, keine Streichhölzer in Quinns Taschen. (Notabene: Mrs. E. hatte schon geputzt, sie war nur noch zum Bügeln gekommen und hatte den Papierkorb nicht noch einmal geleert.)
c) Zusätzlicher Butterkauf, obgleich schon genügend vorhanden. (Unbeachtlich?)
d) Zettel von Quinn an Mrs. E: Reichlich vage, daher praktisch für jede Gelegenheit passend? (So vage allerdings auch wieder nicht …)
Morse lehnte sich zurück und betrachtete sein Werk. Jeder Punkt für sich allein wirkte dürftig. Aber wies die Summe der Beobachtungen nicht in eine bestimmte Richtung? Dahin zum Beispiel, daß Quinn am Freitag abend gar nicht mehr nach Hause gekommen war? Daß ein anderer den Gasofen angezündet, die Lebensmittel gekauft, einen Zettel für Mrs. Evans geschrieben hatte? Weiter, Morse! Möglich war es. Noch ein Ansatzpunkt. Könnte dieser geheimnisvolle Jemand Monica gewesen sein? (Immer wieder kam er auf sie zurück.) Aber irgendwann mußte sie heim, zu Sally. (Auftrag für Lewis: Bitte nachprüfen!) Martin? Irgendwann mußte auch er heimgefahren sein, zu seiner Frau. Wann? (Auftrag für Lewis: Bitte nachprüfen!) Aber was wußten die beiden über Zyankali? Gift war etwas für Experten – allerdings auch die Waffe einer Frau. Roope war Chemiker. Und auch Ogleby kannte sich auf diesem Gebiet aus … Also Roope oder Ogleby? Aber Roope war bis Viertel nach vier gar nicht in Oxford gewesen (sagte er). Und Ogleby hatte etwas früher als sonst Feierabend gemacht (sagte er). Und was war mit Bartlett? Kidlington lag auf der Strecke nach Banbury, und die Hauptstraße verlief nur 30 Meter von der Pinewood Close entfernt. Wenn er um 16 Uhr 25 in Banbury losgefahren und Tempo vorgelegt hatte, konnte er gut um zehn vor fünf in Kidlington gewesen sein. Die Gelegenheit hatten sie demnach alle gehabt. Denn wenn Quinn in Erfahrung gebracht hatte, daß einer der vier …
Morse wußte, daß ihm seine Überlegungen nicht viel gebracht hatten. Er war einfach noch nicht hinter die Methode gekommen. Aber eins stand fest: Wer immer an diesem Freitagabend in die Pinewood Close gekommen war – Nicholas Quinn war es nicht gewesen. Laß es erst mal gut sein, Morse, denk an was anderes, das ist in solchen Fällen immer das beste. Zumindest einer Frage konnte er gleich nachgehen.
Er bat Peters, den Handschriftenexperten, zu sich, zeigte ihm die Nachricht an Mrs. Evans und gab ihm ein Blatt mit Quinns Handschrift, das er in der Pinewood Close gefunden hatte.
»Was meinen Sie?«
Peters zögerte. »Ich müßte das genauer …«
»Was hindert Sie daran?«
Peters, früher Pathologe beim Innenministerium, war praktisch durch nichts aus der Fassung zu bringen. In jüngeren Jahren hatte er sich einen guten Ruf und ein nicht unbeträchtliches Vermögen erworben, indem er die beiden goldenen Erfolgsregeln mißachtet hatte – schnell zu denken und entschlossen zu handeln. Peters dachte so schnell, wie eine arthritische Schildkröte läuft, und handelte so entschlossen wie ein Faultier kurz vor dem Einschlafen. Morse kannte seine Pappenheimer und faßte sich in Geduld. Wenn Peters sagte, etwas sei so, dann war es so. Wenn Peters sagte, Quinn habe diesen Zettel geschrieben, dann hatte er ihn geschrieben. Wenn er sagte, er wisse es nicht genau, dann wußte er es nicht genau – und dann konnte auch sonst niemand es genau wissen.
»Wie lange wird es dauern, Peters?«
»Zehn, zwölf Minuten.«
Somit konnte Morse sich darauf einstellen, in etwa elf Minuten seine Antwort zu bekommen. Er blieb sitzen, wo er saß, und wartete. Ein paar Minuten später läutete das Telefon.
»Morse.«
Es war die Zentrale. »Eine Mrs. Greenaway, Sir. Aus dem John Radcliffe Hospital. Sie möchte mit dem Leiter der Ermittlungen im Mordfall Quinn sprechen.«
»Da ist sie bei mir richtig«, sagte Morse ohne große Begeisterung. Mrs. Greenaway, die Frau, die über Quinn wohnte. Na, mal sehen.
Sie hatte den Artikel in der Oxford Mail gelesen, sagte sie, und da hatte sie sich einfach bei der Polizei melden müssen. Ihrem Mann würde es vielleicht nicht recht sein, aber … (Los doch, Mädchen!)
Ja, also, das Baby sollte zwar erst im Dezember kommen, aber Freitag gegen vier wurde ihr so komisch. Die Wehen … Sie hatte in dem Betrieb angerufen, in dem Frank (»Das ist mein Mann«), in dem Frank also arbeitete, und hatte versucht, ihm etwas ausrichten zu lassen. Und dann hatte sie sich ans Fenster gesetzt und hinausgesehen und gewartet, aber er war nicht gekommen. Und so um Viertel vor fünf hatte sie noch mal im Werk angerufen. Nicht, daß sie sich direkt Sorgen gemacht hatte, aber lieber wäre es ihr schon gewesen, wenn Frank … Na ja, sie konnte natürlich im Krankenhaus anrufen, die würden sofort einen Krankenwagen schicken, und ganz sicher war sie ja ihrer Sache auch nicht. Vielleicht war es ja auch nur … (Zur Sache, Weib …) Ja, also gegen fünf hatte sie dann Quinn kommen sehen. In seinem Wagen.
»Sie haben ihn gesehen?«
»Ja. Es muß fünf nach fünf gewesen sein. Er hat den Wagen in die Garage gestellt.«.
»War jemand bei ihm?«
»Nein.«
»Bitte weiter, Mrs. Greenaway.«
»Das war eigentlich alles.«
»Ist er noch einmal weggegangen?«
»Ich habe ihn nicht gesehen.«
»Hätten Sie ihn gesehen, wenn er weggegangen wäre?«
»Ja, natürlich. Wie gesagt, ich habe die ganze Zeit aus dem Fenster geschaut.«
»Wir glauben, daß er einkaufen war, Mrs. Greenaway. Aber Sie sagen –«
»Ja, doch, da könnte er hinten rausgegangen sein. Man kommt durch den Zaun auf den Weg, aber –«
»Aber Sie halten das für unwahrscheinlich?«
»Ich habe ihn nicht gehört, und er wäre bestimmt nicht hintenherum gegangen, da ist es furchtbar matschig.«
»Ach so …«
»Ja, ich hoffe –«
»Sind Sie ganz sicher, daß Sie Mr. Quinn gesehen haben, Mrs. Greenaway?«
»Na ja, also direkt gesehen … Aber gehört habe ich ihn. Beim Telefonieren.«
»Bitte?«
»Ja, weil wir doch einen Gemeinschaftsanschluß haben. Er war gerade erst gekommen. So langsam bekam ich es doch mit der Angst zu tun, und ich wollte es noch mal im Betrieb versuchen, aber ich kam nicht durch, weil Mr. Quinn telefonierte.«
»Haben Sie gehört, was gesprochen wurde?«
»Nein, ich bin nicht neugierig.« (Natürlich nicht.) »Mir lag nur daran, daß er aus der Leitung geht.«
»Hat er lange gesprochen?«
»Eine ganze Weile. Ich hab zwei- oder dreimal den Hörer abgenommen, und da waren sie immer noch –«
»Sie erinnern sich nicht zufällig an irgendeinen Namen, den Mr. Quinn genannt hat? Einen Vornamen vielleicht, irgend etwas, was uns weiterhelfen könnte?«
Joyce Greenaway schwieg einen Augenblick. Eine dunkle Erinnerung regte sich, war gleich wieder verschwunden. »Ich … Nein, es fällt mir nichts ein.«
»War sein Gesprächspartner eine Frau?«
»Nein, nein, ein Mann, ganz bestimmt. Eine gebildete Stimme.«
»Haben sie sich gestritten?«
»Das glaube ich nicht. Aber ich habe, wie gesagt, nicht zugehört. Nicht richtig. Ich wurde nur allmählich ungeduldig.«
»Warum sind Sie nicht heruntergegangen und haben Mr. Quinn gesagt, worum es geht?«
Joyce zögerte einen Augenblick, und Morse hätte sehr gern gewußt, was hinter diesem Zögern steckte. »So vertraut waren wir nun auch nicht miteinander.«
»Überlegen Sie bitte einmal ganz genau, Mrs. Greenaway. Es ist sehr wichtig. Wenn Ihnen noch etwas einfällt, und wenn es nur eine Kleinigkeit ist …«
Aber es kam nichts mehr, der Umriß eines Namens verbarg sich irgendwo im Unterbewußten. Wenn nur …
Morse lieferte den Auslöser. »Ogleby? Kommt Ihnen das bekannt vor?«
»Nein.«
»Roope? Mr. Roope? Bartlett? Dr. Bartlett? Mar …«
Joyce spürte ein Kribbeln auf der Kopfhaut. »Beschwören kann ich es nicht, Inspector, aber es könnte Bartlett gewesen sein.«
Na also, die Sache machte sich. Morse versprach, jemanden vorbeizuschicken, aber erst am nächsten Tag. Und Joyce Greenaway ging, halb erleichtert, halb verzagt, zur Entbindungsstation zurück.
Peters hatte die letzten zwei, drei Minuten regungslos dagesessen und sichtlich interessiert zugehört, äußerte sich aber nicht zu dem Gespräch. »Na?« fragte Morse.
»Der Zettel ist von Quinn.«
Morse machte den Mund auf und wieder zu. Protest wäre sinnlos gewesen. Wenn Peters ein Urteil abgegeben hatte, war daran nicht zu rütteln.
Warum hältst du dich nicht an die Beweise, Morse? Weg mit den fadenscheinigen Phantastereien. Quinn war gegen fünf heimgekommen, hatte Mrs. Evans einen Zettel hingelegt und jemanden angerufen. Einen Jemand mit gebildeter Stimme, der möglicherweise Bartlett geheißen hatte.