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Während die anderen vier sich in die Halle des Cherwell Motels setzten, ging er zur Bar und bestellte den Aperitif: Zwei Gin-and-Tonics, zwei halbtrockene Sherries und einen trockenen Sherry. Letzteren hatte er für sich geordert. Er liebte trockenen Sherry.

»Schreiben Sie es auf die Rechnung des Verbandes für Auslandsprüfungen bitte. Wir wollen hier essen. Bitte sagen Sie dem Ober Bescheid, wir sitzen da drüben.« Sein nordenglischer Akzent schlug noch durch, allerdings nicht mehr so merklich wie früher.

»Hatten Sie einen Tisch bestellt, Sir?«

Das »Sir« tat ihm gut. »Ja. Auf den Namen Quinn.« Er griff sich eine Handvoll Erdnüsse und das Tablett mit den Gläsern und setzte sich zu den anderen Historikern.

Es war seine dritte Sitzung seit Antritt seiner Stellung, weitere würden folgen. Er machte es sich in dem niedrigen Ledersessel bequem, trank sein Glas auf einen Zug halb leer und sah auf den lebhaften Mittagsverkehr hinaus, der über die Autobahn rollte. So ließ es sich leben. Ein gutes Essen, Wein, Kaffee – und dann zurück in die Beratungen. Wenn er Glück hatte, war um fünf Schluß, vielleicht schon früher. Die Vormittagssitzung war konzentriert und anstrengend gewesen, aber sie waren gut vorangekommen. Die Prüfungsbögen über die Zeiträume von den Kreuzzügen bis zum englischen Bürgerkrieg standen. In dieser Form würden sie im Sommer den Kandidaten für den Mittelschulabschluß im Fach Geschichte vorgelegt werden. Es fehlte nur noch die Fortsetzung – von den Hannoveranern bis zum Versailler Vertrag –, und in moderner Geschichte kannte er sich sehr viel besser aus. In der Schule war Geschichte sein Lieblingsfach gewesen, und seinen Leistungen auf diesem Gebiet verdankte er auch sein Stipendium für Cambridge. Doch nach der Vorprüfung war er auf Englisch umgestiegen, und an der Priestley Grammar School in Bradford, nur einige zwanzig Meilen von seinem Heimatdorf in Yorkshire entfernt, war er als Englischlehrer eingestellt worden. Rückblickend begriff er, was für ein Glücksfall es gewesen war, daß er auf Englisch umgesattelt hatte. In der Stellenausschreibung waren Lehrerfahrung in Geschichte und Englisch zur Bedingung gemacht worden, und er hatte sich durchaus eine Chance ausgerechnet. Daß er den Posten tatsächlich bekommen hatte, konnte er allerdings noch immer nicht so ganz fassen. Nicht, daß seine Schwerhörigkeit …

»Die Speisekarte, Sir.«

Quinn hatte den Ober nicht kommen hören, er bemerkte ihn erst, als sich die ausladende Karte in sein Gesichtsfeld schob. Ja, vielleicht war seine Schwerhörigkeit doch ein größeres Handicap, als er gedacht hatte. Bisher allerdings war alles erstaunlich gut gelaufen.

Wie die anderen lehnte er sich zurück und studierte die verwirrende Vielfalt der Möglichkeiten auf der Speisekarte. Teuer war fast alles, aber, wie er von seinen beiden früheren Besuchen wußte, gut zubereitet und appetitlich angerichtet. Hoffentlich wählten die anderen nicht etwas zu Ausgefallenes. Bartlett hatte nach dem letzten Gelage diskret darauf hingewiesen, daß die Rechnung vielleicht eine Spur zu hoch gewesen sei. Die Tagessuppe und danach Schinken mit Ananas, überlegte er, das würde wohl selbst bei den derzeitigen angespannten Verhältnissen den Verband nicht überstrapazieren. Und einen Schluck Rotwein durfte man sich auch noch leisten. Ein anderer Wein stand ohnehin nicht zur Diskussion, das wußte er inzwischen. In Oxford wurde ständig Rotwein getrunken – sogar zur Seezunge.

»Noch Zeit für eine zweite Runde, wie?« Cedric Voss, Vorsitzender der Historiker, schob sein leeres Glas über den Tisch. »Austrinken, Leute. Wir brauchen eine Stärkung für heute nachmittag.«

Quinn griff sich brav die Gläser und ging zur Bar hinüber, wo soeben eine Gruppe gutbetuchter Geschäftsleute eingefallen war. Daß er fünf Minuten warten mußte, trug nicht dazu bei, den vagen Groll zu beschwichtigen, der sich in ihm regte.

Als er an den Tisch zurückkam, war der Ober gerade dabei, die Bestellungen aufzunehmen. Nachdem Voss aus ihm herausgefragt hatte, daß die Kirschen aus der Dose und die Erbsen aus der Tiefkühltruhe stammten und das Steak vom Wochenende war, nahm er von seiner ursprünglichen Wahl Abstand und entschied sich für Schnecken und Hummer, und Quinn zuckte innerlich zusammen, als er die Preise sah. Sie machten das Dreifache seiner bescheidenen Bestellung aus. Er hatte sich bewußt keinen zweiten Drink geholt (obgleich er mit dem größten Vergnügen noch drei oder vier gekippt hätte). Ziemlich unglücklich setzte er sich wieder hin und besah sich die große Luftaufnahme des Stadtkerns von Oxford, die an der Wand hing. Eigentlich recht eindrucksvoll. Die Komplexe von Brasenose und Queen’s und …

»Trinken Sie nichts, Nicholas, alter Junge?« Es war das erste Mal, daß Voss ihn mit Vornamen anredete, und der Groll verflüchtigte sich schlagartig.

»Nein, ich –«

»Hat der alte Bartlett mal wieder über die Kosten gejammert? Das können Sie vergessen. Was glauben Sie, was es den Verband gekostet hat, ihn letztes Jahr in die Ölstaaten zu schicken? Einen ganzen Monat. Allein die Bauchtänzerinnen …«

»Wein zum Essen, Sir?«

Quinn reichte die Weinkarte an Voss weiter, der sie mit professioneller Gier studierte. »Sind alle für Rot?« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. »Das ist ein guter Tropfen, alter Junge.« Er deutete mit seinem Wurstfinger auf einen der Burgunder. »Feiner Jahrgang.«

Quinn stellte fest (aber er hätte es ohnehin gewußt), daß es der teuerste Wein auf der Karte war, und bestellte eine Flasche.

»Mit einer werden wir nicht weit kommen … Schließlich sind wir zu fünft …«

»Anderthalb also?«

»Nein, mein Junge. Zwei. Oder was meinen Sie, meine Herren?«

Die anderen nahmen die Anregung nur zu gern auf.

»Zweimal die Nummer fünf«, bestellte Quinn ergeben. Der Groll begann wieder zu nagen.

»Und machen Sie bitte beide gleich auf«, ergänzte Voss.

 

Im Restaurant setzte sich Quinn an die linke Ecke. Rechts neben sich hatte er Voss, zwei Mitglieder der Gruppe direkt gegenüber, den fünften am Kopf der Tafel. Diese Sitzordnung hatte sich als besonders günstig erwiesen. Zwar konnte er die Lippen von Voss kaum beobachten, aber aus dieser geringen Entfernung konnte er ihn noch verstehen. Die anderen sah er deutlich. Auch Lippenlesen hatte seine Grenzen, es nutzte ihm wenig, wenn jemand beim Sprechen nicht den Mund aufmachte oder die Hand vor die Lippen hielt, und wenn der Sprecher einem den Rücken zuwandte oder das Licht ausging, war sowieso alle Liebesmüh vergebens. Aber normalerweise war es ganz erstaunlich, was man mit dieser Fertigkeit anfangen konnte. Quinn hatte vor sechs Jahren damit begonnen und überrascht festgestellt, wie leicht es ihm fiel. Er mußte wohl eine seltene Begabung dafür haben. Er war so viel weiter als die anderen im ersten Kurs, daß sein Lehrer schon nach zwei Wochen meinte, er sei wohl im zweiten Kurs besser aufgehoben, und auch da war er der Beste gewesen. Er konnte sich dieses Talent selbst nicht erklären. So, wie es Zeitgenossen gab, die besonders dafür geeignet waren, einen Fußball zu kicken oder Klavier zu spielen, hatte er eben die Begabung, anderen Menschen die Worte von den Lippen abzulesen. So einfach war das. Inzwischen hatte er sich darin so vervollkommnet, daß er sich manchmal einbilden konnte, wieder richtig zu hören. Ganz hatte er sein Hörvermögen ja auch noch nicht verloren. Die teure Hörhilfe am rechten Ohr (links war er völlig taub) verstärkte den Ton aus nächster Nähe so weit, daß er deutlich verstand, wie Voss, dem gerade die Schnecken serviert wurden, bemerkte:

»Wie sagte der alte Sam Johnson doch gleich? ›Wer keine Rücksicht auf seinen Bauch nimmt, dem ist auch sonst keinerlei Rücksicht zuzutrauen.‹ Oder so ähnlich.« Er stopfte sich eine Serviette in den Hosenbund und fixierte den Teller wie Dracula, der sich daranmacht, seine Zähne in eine Jungfrau zu schlagen.

Der Wein war gut, und Quinn hatte genau darauf geachtet, wie Voss ihn handhabte. Wunderbar machte er das, wirklich. Nachdem er sich in das Etikett vertieft hatte wie ein zurückgebliebenes Kind, das versucht, in die Geheimnisse des Alphabets einzudringen, testete er die Temperatur des Weins, indem er leicht und liebevoll die Hände um den Flaschenhals legte. Dann, als der Ober einen Zentimeter des rubinroten Saftes in sein Glas gegossen hatte, kostete er ihn nicht etwa, sondern erschnupperte vier- oder fünfmal argwöhnisch das Bukett wie ein dressierter Schäferhund, der nach Dynamit fahndet. »Nicht übel«, sagte er schließlich. »Schenken Sie ein.«

Quinn merkte sich die Prozedur, so würde er es beim nächstenmal auch machen. »Und drehen Sie das verdammte Gedudel ein bißchen leiser«, brüllte Voss, als der Ober sich zurückzog. »Man kann ja sein eigenes Wort nicht verstehen.« Die Musik wurde um einige Dezibel zurückgenommen, und ein einsamer Esser von einem der benachbarten Tische kam herüber und bedankte sich. Quinn selbst hatte die Hintergrundmusik gar nicht wahrgenommen.

Als schließlich der Kaffee kam, fühlte sich Quinn ausgeglichener, aber auch ein bißchen schwummerig. Er wußte nicht mehr genau, ob nun Richard III. am Ersten Kreuzzug oder Richard I. am Dritten Kreuzzug teilgenommen oder ob überhaupt ein Richard bei einem der Kreuzzüge mitgemischt hatte. Das Leben war plötzlich wieder eine schöne, runde Sache. Er dachte an Monica. Vielleicht ging er mal bei ihr vorbei, nur ganz kurz, ehe die Nachmittagssitzung anfing. Monica … Es lag wohl am Wein.

 

Zwanzig vor drei trafen sie wieder in der Geschäftsstelle des Verbandes ein, und während die anderen gemächlich zum Sitzungszimmer hinaufstiegen, ging Quinn rasch den Gang entlang und klopfte leise an die hinterste Tür rechts, auf deren Schild der Name MISS M. M. HEIGHT stand. Er machte versuchsweise die Tür auf und sah hinein. Das Zimmer war leer. Aber unter einem Briefbeschwerer auf dem aufgeräumten Schreibtisch lag gut sichtbar ein Zettel, und er trat näher, um ihn zu lesen. »Bin bei Paolo. Um drei zurück.« Das war typisch für den Umgang hier im Büro. Bartlett störte es nicht, wenn seine Mitarbeiter kamen und gingen, wie sie wollten, sofern ihre Arbeit nicht liegenblieb. Allerdings bestand er strikt darauf (es war fast schon ein Tick), daß alle ihm stets hinterließen, wo sie zu erreichen waren. Monica ließ sich also ihr prächtiges Haar coiffieren. Auch nicht weiter schlimm, er hätte sowieso nicht gewußt, was er sagen sollte. Vielleicht war es sogar besser so, morgen früh sahen sie sich ja ohnehin wieder.

Er ging zu den anderen in den Sitzungsraum, wo Cedric Voss in seinem Sessel lag, die Augen halb geschlossen, ein stupides Grinsen auf den schlaffen, schläfrigen Zügen. »Wenn ich bitten darf, meine Herren … Könnten wir wohl versuchen, den Hannoveranern unsere Aufmerksamkeit zu schenken?«