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Bartlett konstatierte überrascht und etwas enttäuscht, daß der Mann getrunken hatte. Schon den ganzen Nachmittag hatte er auf den Anruf gewartet, doch erst um halb vier hatte Morse sich gemeldet. Seit der Mittagspause saßen sie zu viert in Bartletts Büro (draußen brannte das rote Lämpchen) und sprachen mit gedämpfter Stimme über das erschütternde Geschehen. Anschaulich hatte Martin immer wieder über die Einzelheiten seiner Entdeckung berichtet und noch in dieser dunklen Stunde ein gewisses gedämpftes Vergnügen daran gefunden, plötzlich – was noch nie vorgekommen war – im Mittelpunkt des Interesses zu stehen. Doch immer wieder war das Gespräch auf die verwirrende Frage gekommen, wer wann Quinn zum letztenmal lebend gesehen hatte. Daß es am Freitag gewesen war, darüber herrschte Einstimmigkeit, aber wann und wo genau, daran schien sich niemand erinnern zu können. Oder war nicht bereit, darüber zu sprechen.
Monica Height besah sich den Inspector genau, als er hereinkam, und sagte sich, daß sein Blick den ihren bei der knappen Vorstellung Sekundenbruchteile länger als unbedingt nötig festgehalten hatte. Auch seine Stimme gefiel ihr. Und als er ihr mitteilte, daß sie alle getrennt vernommen werden würden, und zwar entweder von ihm oder von Sergeant Lewis, der stumm unter der Tür stand, hoffte sie, daß sie zu Morse kommen würde. Da hätte sie sich keine Sorgen zu machen brauchen – Morse hatte sie im Geiste schon vereinnahmt. Aber erst mußte er hören, was Bartlett ihm zu sagen hatte.
»Sie haben hoffentlich Quinns Zimmer abgeschlossen, Sir?«
»Ja, gleich, als ich Ihre Nachricht erhalten habe.«
»Tja, dann sollten Sie mich vielleicht erst einmal über Ihren Verband informieren. Was Sie hier machen, wie Sie es machen, alles wovon Sie meinen, daß es uns ein Stückchen weiterhelfen könnte. Daß Quinn umgebracht wurde, ist so gut wie sicher, und meine Aufgabe ist es festzustellen, wer ihn umgebracht hat. Es ist natürlich denkbar, daß der Mord überhaupt nichts mit Ihrem Verband oder mit den Leuten hier zu tun hat. Wahrscheinlicher allerdings ist, daß ich in diesen Räumen irgendwo eine Spur finde. Und deshalb werde ich Sie leider alle ein paar Tage belästigen müssen. Das ist Ihnen klar, nicht?«
Bartlett nickte. »Wir werden uns nach Kräften bemühen, Sie zu unterstützen, Inspector. Es steht Ihnen frei, hier nach Gutdünken zu ermitteln.«
»Danke, Sir. So, und jetzt – was können Sie mir sagen?«
In der nächsten halben Stunde lernte Morse einiges dazu. Bartlett erläuterte ihm Zweck, Aufgaben und Organisation des Verbandes und schilderte, was das Personal in den einzelnen Stadien der Durchführung staatlicher Prüfungen zu tun hatte. Und Morse war zu seiner eigenen Verwunderung überrascht und beeindruckt. Überrascht von dem unerwartet komplexen Geschäftsgang, vor allem aber beeindruckt von der außerordentlichen Tüchtigkeit des Geschäftsführers, dieses kleinen Pickwickiers, der da hinter seinem Schreibtisch saß.
»Und was können Sie mir zu Quinn selbst sagen?«
Bartlett holte eine Akte hervor. »Das habe ich eigens für Sie herausgesucht, Inspector. Es ist Quinns Bewerbung um den Posten bei uns. Das wird Ihnen mehr sagen als viele Worte von mir.«
Morse überflog den Inhalt: Lebenslauf, Zeugnisse, drei Referenzen, Bewerbungsbögen; auf dem oberen Rand hatte Bartlett vermerkt: Eingestellt ab 1. September. Doch wieder blieb in Morse Kopf alles leer und stumm. Die Räder der Maschine waren in Bewegung geraten, aber sie wollten nicht greifen. Er klappte die Akte zu, murmelte entschuldigend etwas von »später in Ruhe lesen« und sah Bartlett an. Wie würde dieser klardenkende, supertüchtige Mann die Mordermittlung angehen? Es sah aus, als könne Bartlett fast seine Gedanken lesen.
»Daß er schwerhörig war, wußten Sie, Inspector?«
»Schwerhörig? Ja, richtig.« Der Polizeiarzt hatte es erwähnt, aber Morse hatte nicht weiter darauf geachtet.
»Wie er mit seiner Behinderung fertig wurde, hat uns alle sehr beeindruckt.«
»Wie stark schwerhörig war er?«
»In ein paar Jahren wäre er vermutlich ganz ertaubt, das war jedenfalls die Prognose.«
Jetzt endlich flackerte in Morses Augen eine Spur von Interesse auf. »Ein bißchen wundert man sich dann schon, daß Sie ihn eingestellt haben, wie?«
»Gewundert hätten Sie sich vermutlich, Inspector, aber in einem anderen Sinne. Man merkte ihm seine Schwerhörigkeit kaum an – vom Umgang mit dem Telefon abgesehen, der war doch etwas problematisch. Aber sonst war er enorm, wirklich.«
»Haben Sie ihn – äh – vielleicht eingestellt, weil er schwerhörig war?«
»Aus Mitleid, meinen Sie? Nein, nein. Der – äh – Ausschuß fand, daß er einfach der beste Bewerber war.«
»Welcher Ausschuß?«
War da eine Spur von Zurückhaltung in Bartletts Miene? Morse hätte es nicht beschwören können. Fest stand nur, daß die Zähne des kleinsten Rädchens gegriffen hatten.
»Wir hatten alle zwölf Ehrenamtliche in dem Ausschuß. Und – äh – natürlich meine Wenigkeit.«
»Die Ehrenamtlichen sind –«
»Es ist im Grunde eine Art Aufsichtsrat.«
»Sie arbeiten nicht hier?«
»Aber nein. Es sind alles Hochschullehrer. Zweimal im Trimester kommen sie hier zusammen, um nachzuschauen, ob wir unsere Sache ordentlich machen.«
»Haben Sie die Namen bei der Hand?«
Morse las interessiert die getippte Liste, die Bartlett ihm überreichte. Neben den Namen der Ehrenamtlichen standen ausführliche Angaben über Hochschule, College, akademische Grade und andere Ehrungen. Ein Name sprang ihm förmlich ins Gesicht. »Die meisten kommen von Oxford, wie ich sehe.«
»Liegt nahe, nicht?«
»Und ein oder zwei aus Cambridge.«
»Hm … ja.«
»War nicht Quinn am Magdalene College in Cambridge?« Morse griff nach der Akte, aber Bartlett lieferte ihm die Bestätigung.
»Wie ich sehe, war Mr. Roope an demselben College.«
»Tatsächlich? Ist mir noch gar nicht aufgefallen.«
»Dabei entgeht Ihnen sonst so leicht nichts, wenn ich das sagen darf.«
»Ich assoziiere Roope wohl immer mit Christ Church. Er ist als Fellow dorthin berufen worden.« Bartlett sah aus, als könne er kein Wässerchen trüben, und Morse überlegte, ob er sich vielleicht vorhin geirrt hatte.
»Was hat Roope für ein Fachgebiet?«
»Er ist Chemiker.«
»Ach ja?« Morse versuchte, die Erregung in seiner Stimme zu unterdrücken, merkte aber, daß es ihm nicht recht gelingen wollte.
»Wissen Sie zufällig, wie alt er ist?«
»Noch ziemlich jung, um die Dreißig.«
»Also etwa Quinns Alter?«
»Ja, ungefähr.«
»Nur noch eine Frage.« Er sah auf die Uhr und stellte fest, daß es schon Viertel vor fünf war. »Wissen Sie noch, wann Sie Quinn zum letztenmal gesehen haben?«
»Irgendwann am letzten Freitag. Ehe Sie kamen, haben wir alle überlegt, wann wir ihn zuletzt gesehen haben. Komisch, nicht? Es ist unheimlich schwer, das genau festzumachen. An dem Freitag habe ich ihn mit Sicherheit am späten Vormittag gesehen. Über den Nachmittag könnte ich keine so genaue Aussage abgeben. Ich hatte um drei eine Sitzung in Banbury. Ob ich ihn davor noch gesehen habe, weiß ich nicht.«
»Wann haben Sie das Büro verlassen?«
»Gegen Viertel nach zwei.«
»Sie legen offenbar ein tüchtiges Tempo vor.«
»Ich habe einen schnellen Wagen.«
»Es sind etwa 30 Kilometer, nicht?«
Bartlett zwinkerte. »Wir haben alle unsere kleinen Schwächen, Inspector, aber ich gebe mir die größte Mühe, nicht schneller als erlaubt zu fahren.«
Das hoffe er, hörte Morse sich sagen und fand, daß es höchste Zeit war, sich Monica Height vorzunehmen. Aber vorher mußte er noch etwas Dringendes erledigen. »Wo ist die nächste Toilette? Ich muß unbedingt –«
»Hier, bitte.« Bartlett stand auf und öffnete eine Tür, rechts von seinem Schreibtisch. Dahinter befand sich ein Kabinettchen mit Toilette und einem kleinen Waschbecken. Und während Morse beglückt seine drückende Blase entleerte, mußte Bartlett an die gewaltigen Wassermassen des Niagara denken.
Schon nach wenigen Minuten in Monica Heights Gesellschaft ertappte sich Morse bei der Überlegung, wie ihre Mitarbeiter es wohl fertigbrachten, die Hände von ihr zu lassen, und vermutete zynisch, daß sie vielleicht den Versuch längst aufgegeben hatten. Das apfelgrüne Kleid mit dem Blumenmuster spannte sich zu straff über ihren breiten Schenkeln und schmiegte sich, weich und lasziv zugleich, um ihre vollen Brüste. Vermutlich willig, konstatierte Morse – und im Bett eine Wucht. Sie trug wenig Make-up, aber da sie die Angewohnheit hatte, sich ständig mit der Zunge über die Lippen zu fahren, hatte ihr schmollend aufgeworfener Mund stets einen feuchten Schimmer. Ihr Parfüm schien auf der Stelle beseligende Erfüllung zu versprechen. Zu gewissen Zeiten und in gewissen Stimmungen mußte sie für junge, empfängliche Menschen nahezu unwiderstehlich sein. Für Martin vielleicht? Für Quinn? Die Versuchung war bestimmt ständig dagewesen. Sogar ich, dachte Morse, ein empfänglicher Mann mittleren Alters … Aber er drängte den Gedanken in den Hintergrund. Wie stand es mit Ogleby? Oder gar mit Bartlett? Eine interessante Überlegung. Morse erinnerte sich an den Abschnitt aus Gibbon über eine der Prüfungen für junge Novizen. Man stecke den Prüfling die ganze Nacht über mit einer nackten Nonne in einen Sack und warte ab, ob … Morse schüttelte heftig den Kopf und fuhr sich mit der Hand über die Augen. Immer dasselbe nach reichlichem Bierkonsum …
»Dürfte ich wohl mal eben meine Tochter anrufen, Inspector?«
(Tochter?) »Ich bin meist um diese Zeit schon auf dem Heimweg, und sie wird sich wundern, wo ich abgeblieben bin.« Morse hörte zu, während sie am Telefon erklärte, wo sie steckte.
»Wie alt ist Ihre Tochter, Miss – äh – Miss Height?«
Sie lächelte verständnisinnig. »Schon in Ordnung, Inspector. Ich bin geschieden, und Sally ist sechzehn.«
»Sie müssen sehr jung geheiratet haben.«
»Ich war so töricht, mich mit achtzehn zu binden, Inspector. Sie waren da bestimmt viel vernünftiger.«
»Ich? Ja, sicher … das heißt, nein, ich bin nicht verheiratet.« Wieder trafen sich ihre Blicke, und Morse hatte den Eindruck, daß er im Begriff war, sich auf ein gefährliches Leben einzulassen. Es wurde Zeit, daß er der schönen Monica ein paar wichtige Fragen stellte.
»Wann haben Sie Mr. Quinn zum letztenmal gesehen?«
»Komisch, daß Sie ausgerechnet diese Frage stellen. Wir haben gerade …« Es war wie eine bis zum Überdruß bekannte Schallplatte. Sie hatte ihn am Freitag vormittag gesehen, ja, das wußte sie ganz genau. Aber am Freitag nachmittag? Daran konnte sie sich nicht recht erinnern. Das war schwierig. Der Freitag lag ja schließlich inzwischen … wie lange … ja, fünf Tage zurück. (Wie hatte der Polizeiarzt gesagt? Könnten vier, fünf Tage sein.)
»Mochten Sie Mr. Quinn?« Morse beobachtete sie scharf und hatte den Eindruck, daß sie auf diese Frage nicht hinreichend vorbereitet war.
»Ich kenne ihn natürlich noch nicht lange. Zwei oder drei Monate, nicht? Aber ich mochte ihn, ja. Sehr sympathischer Mensch.«
»Mochte er Sie?«
»Was meinen Sie damit, Inspector?«
Ja, was meinte er damit? »Ich dachte nur … na ja, ich meint eben …«
»Wollen Sie wissen, ob er mich attraktiv gefunden hat?«
»Das hat er bestimmt – ob er wollte oder nicht.«
»Wie nett Sie das sagen, Inspector.«
»Hat er Sie auch ausgeführt?«
»Ein- oder zweimal hat er mich in der Mittagspause auf einen Drink ins Pub eingeladen.«
»Und Sie sind mitgegangen?«
»Warum nicht?«
»Was hat er getrunken?«
»Sherry, glaube ich.«
»Und Sie?«
Wieder fuhr sie sich mit der Zunge über die Lippen. »Ich habe einen etwas kostspieligeren Geschmack.«
»Wohin sind Sie gegangen?«
»Ins Pub Roß und Trompete. Hier an der Ecke. Sehr gemütlich, würde Ihnen gefallen.«
»Vielleicht sehen wir uns mal dort.«
»Warum nicht?«
»Sie haben einen kostspieligen Geschmack, sagten Sie?«
»Da finden wir schon eine Lösung.«
Wieder trafen sich ihre Blicke, und in Morses Kopf läuteten die Sturmglocken. Er stand auf. »Tut mir leid, daß ich Sie so lange aufgehalten habe, Miss Height. Bitte entschuldigen Sie mich bei Ihrer Tochter.«
»Die kommt schon zurecht. Sie ist neuerdings viel zu Hause, sie muß in ein paar Fächern die Prüfungen für den Realschulabschluß wiederholen, und wenn sie nicht gerade eine Arbeit schreibt, braucht sie nicht zum Unterricht zu kommen.«
Morse stand an der Tür, der Abschied fiel ihm sichtlich schwer.
»Wir sehen uns sicher noch.«
»Hoffentlich, Inspector.« Ihre Stimme war leise, angenehm und – ja, verdammt noch mal – sexy.
Endlich, dachte Lewis erleichtert. Er saß seit zwanzig Minuten mit Bartlett, Ogleby und Martin in der Halle. Alle drei hatten ihre Mäntel und Taschen mit, mochten aber offenbar nicht gehen, ehe Morse das Startzeichen gegeben hatte. Quinns Tod hatte die Stimmung verdüstert, und sie hatten sich wenig zu sagen. Ogleby war Lewis sympathisch gewesen, aber er hatte nichts Wesentliches von ihm erfahren. Ja, sagte Ogleby, er erinnere sich, Quinn am Freitag vormittag gesehen zu haben, nicht aber am frühen Nachmittag. Alle anderen Fragen, die Lewis ihm stellte, hatte er allem Anschein nach offen und ehrlich beantwortet, aber an Informationswert hatten sie nichts hergegeben. Ganz anders war das Gespräch mit Martin verlaufen. Nach Einsetzen der verzögerten Schockwirkung war er verkrampft und nervös und hatte behauptet, er könne sich nicht erinnern, Quinn am Freitag überhaupt gesehen zu haben.
Morse bedankte sich etwas linkisch für die Unterstützung der Mitarbeiter und ließ sich von Bartlett bestätigen, daß nichts dagegen einzuwenden war, wenn er und Lewis noch im Haus blieben. Der Hausmeister war ohnehin bis halb acht da, und auch danach standen ihnen selbstverständlich alle Räume offen, solange sie es wünschten. Ehe Bartlett aber die Schlüssel zu Quinns Büro und seinen Aktenschränken aus der Hand gab, hielt er Morse mit schulmeisterlicher Miene einen kleinen Vortrag über die streng vertrauliche Beschaffenheit der Unterlagen, die sie dort vorfinden würden. Diese Tatsache sei äußerst wichtig, und sie sollten sich daher immer vor Augen halten, daß … Ja, ja, ja. Hab ich ein Glück, daß Bartlett nicht mein Chef ist, dachte Morse. Für den scheint es ja schon eine Sünde wider den Heiligen Geist zu sein, wenn man vor dem Austreten mal einen Aktenschrank offenläßt.
Morse schlug vor, einmal um den Block zu gehen, und Lewis stimmte bereitwillig zu. Das Haus war überheizt, und die kühle, saubere Nachtluft tat gut. An der Ecke Woodstock Road kamen sie an dem Pub Roß und Trompete vorbei, und Morse sah automatisch auf die Uhr.
»Macht einen netten Eindruck, Lewis. Waren Sie schon mal drin?«
»Nein, Sir, und Bier hatte ich heute auch schon genug. Eine Tasse Tee wär mir lieber.« Zu seiner Erleichterung machten die Pubs erst zehn Minuten später auf. Lewis berichtete Morse über seine Gespräche, Morse seinerseits informierte Lewis über das, was er von den anderen erfahren hatte. Beide hatten offenkundig nicht das eindeutige Gefühl, einem Mörder ins Gesicht gesehen zu haben.
»Dufte Puppe, was?«
»Bitte?«
»Jetzt tun Sie bloß nicht so unschuldig, Sir!«
»Na ja, wenn man auf den Typ steht …«
»Immerhin haben Sie sich offenbar die Dame reserviert.«
»Ein bißchen Spaß muß der Mensch ja auch mal haben.«
»Eigentlich erstaunlich, daß Sie bei ihr nicht mehr rausgekriegt haben. Ich hab den Eindruck, daß sie, wenn’s drauf ankommt, als erste was rausläßt.«
»Würde mich nicht wundern, wenn sie ebenso schnell dabei ist ihr Höschen runterzulassen.«
Manchmal, fand Lewis, drückte sich Morse wirklich unnötig ordinär aus.