50

»Brian hat mir diesen Trick an meinem zwölften Geburtstag beigebracht. Er schenkte mir sogar meinen eigenen Meißel. Er besteht aus purem Gold, sehen Sie?« Das scharf geschliffene Metall steckte wie eine Klaue auf ihrem Daumen.

»Bleib ganz ruhig«, sagte Bell zu Marion. »Und wehr dich nicht. Mr O’Shay ist im Vorteil.«

»Hören Sie lieber auf Ihren Verlobten«, rief Katherine Dee.

Eyes O’Shay sagte: »Um Ihre Frage zu beantworten, Bell, ein Weg, mich für die Großzügigkeit des alten Herrn zu revanchieren, bestand darin, Katherine zu retten, so wie er mich gerettet hatte. Katherine ist gebildet, eine perfekte Lady und vollkommen frei. Niemand kann ihr etwas anhaben.«

»Gebildet, eine perfekte Lady, frei und höchst gefährlich«, sagte Bell.

Katherine zog mit der anderen Hand eine Pistole.

»Noch ein Geburtstagsgeschenk?«

»Geben Sie Brian seinen Degen zurück, Mr Bell, ehe Ihre Verlobte geblendet wird und ich Sie erschieße.«

Bell warf O’Shay den Degen zu, mit dem Griff voran. Wie er erwartet hatte, war O’Shay zu clever, um auf den Trick hereinzufallen. O’Shay fing die Waffe auf, ohne seinen Blick von Bell zu lösen. Aber als er sich anschickte, ihn in die Scheide zurückzuschieben, blickte er nach unten, um sicherzugehen, dass sich die Spitze in die Scheide senkte, anstatt seine Hand zu verletzen. Bell wartete auf diesen winzigen Augenblick der Ablenkung. Er trat blitzschnell zu.

Seine Stiefelspitze traf Katherine Dees Ellennerv, der sich über ihren angewinkelten Ellbogen spannte. Sie stieß einen erschrockenen Schmerzensschrei aus und konnte nicht verhindern, dass sich ihre Hand krampfartig öffnete. Ihr Daumen löste sich von Marions Auge.

Aber der Meißel blieb auf dem Daumen.

Marion versuchte, sich von der kleineren Frau zu befreien. Katherine riss den Arm hoch und zielte mit dem Daumen wieder auf Marions Auge. Bell hatte mittlerweile den Derringer in der Hand und drückte ab. O’Shay stieß ein schneidendes »Nein!« aus und schmetterte den Stock auf Bells Arm. Der Pistolenschuss machte in dem kleinen Ladenlokal einen ohrenbetäubenden Lärm. Solomon Barlowe warf sich auf den Boden. Marion schrie auf, und Bell glaubte, sie getroffen zu haben. Aber es war Katherine Dee, die zusammenbrach.

O’Shay fing die junge Frau mit einem Arm auf und riss die Tür auf. Bell stürzte hinter ihnen her. Dabei stolperte er über Solomon Barlowe. Als er endlich die Tür erreichte, sah er, wie O’Shay Katherine in einen Packard lud, der von einem uniformierten Chauffeur gefahren wurde. Männer mit schwarzen Derbyhüten tauchten hinter dem Wagen und aus Hauseingängen auf und hatten Pistolen im Anschlag.

»Marion, runter!«, brüllte Bell. Die auf elegant getrimmten Schläger von Riker & Rikers privater Schutztruppe entfesselten einen wahren Kugelregen. Querschläger zerschmetterten Glasscheiben und sprengten Gesteinsstaub aus den Mauern und Diamanten aus den Schaufensterauslagen, Fußgänger ließen sich auf den Gehsteig fallen. Bell schoss, so schnell er den Auslöser betätigen konnte. Er hörte den Packard davonbrausen. Dann schoss er abermals und leerte das Magazin seiner Browning. Der große Wagen raste schlingernd um eine Ecke und kollidierte mit irgendetwas. Aber als der Kugelhagel versiegt war und er hinter dem Fahrzeug herrannte, stand der Packard mit qualmendem Motor vor einem Laternenpfahl, und O’Shay und Katherine Dee sowie ihre Schutztruppe hatten flüchten können. Bell rannte zum Juweliergeschäft zurück, getrieben von einer schrecklichen Ahnung. Solomon Barlowe saß auf dem Fußboden und hielt stöhnend sein Bein. Marion lag hinter der Theke und hatte die Augen weit geöffnet.

Sie lebte!

Er ging neben ihr auf die Knie hinunter. »Wurdest du getroffen?«

Sie wischte sich mit einer Hand übers Gesicht. Ihre Haut war totenblass. »Ich glaube nicht«, sagte sie mit zitternder Stimme.

»Bist du okay?«

»Wo sind sie?«

»Sie konnten fliehen. Keine Sorge. Weit werden sie nicht kommen.«

Sie hielt etwas in ihrer krampfhaft zusammengeballten Faust, die sie jetzt gegen die Brust presste.

»Was ist das?«

Langsam, offenbar unter Schmerzen, zwang sie ihre Finger, sich zu entspannen und zu öffnen. Auf ihrer Handfläche lag der Smaragd, grün und geheimnisvoll wie das Auge einer Katze.

»Ich dachte, der Stein gefällt dir nicht«, sagte Bell.

Marions Blick wanderte über die Glasscherben und die mit Einschusslöchern übersäten Wände des Juweliergeschäfts. »Ich habe noch nicht mal einen Kratzer abbekommen. Und du auch nicht. Das dürfte dann wohl unser Glücksbringer sein.«

»Die gesamte Schmuckindustrie von Newark steht unter Schock«, gestand Morris Weintraub, eine gedrungen wirkende weißhaarige Erscheinung mit aristokratischer Ausstrahlung und Inhaber von New Jerseys größter Fabrik für Gürtelschnallen. »Ich kaufe meine Edelsteine schon seit dem Bürgerkrieg von Riker & Riker. Damals gab es natürlich nur einen Riker.«

»Wussten Sie, dass Erhard Riker adoptiert wurde?«

»Was Sie nicht sagen! Nein, das wusste ich nicht.« Weintraub blickte auf Kolonnen von Werkbänken, an denen Goldschmiede im hellen Tageslicht, das durch hohe Fenster hereindrang, saßen und arbeiteten. Ein wissendes Lächeln spielte um seine Lippen, und er massierte sein Kinn. »Das erklärt vieles.«

»Was meinen Sie?«, wollte Bell wissen.

»Er war so ein netter Mann.«

»Der Vater?«

»Nein! Sein Vater war ein eiskalter Bastard.«

Bell wechselte einen ungläubigen Blick mit Archie Abbott.

Der Fabrikbesitzer bemerkte es. »Ich bin Jude«, erklärte er. »Ich weiß und spüre es, wenn mich jemand nicht mag, weil ich Jude bin. Der Vater hat seinen Judenhass kaschiert, um seine Geschäfte zu machen, aber Hass macht sich immer bemerkbar. Er konnte ihn nicht vollständig verbergen. Der Sohn dagegen hasste mich nicht. Er war nicht so europäisch wie der Alte.«

Bell und Archie wechselten einen weiteren vielsagenden Blick. Weintraub fuhr fort: »Ich meine, er hat sich wie ein guter Mensch benommen. Im Geschäftsleben war er ein Gentleman, freundlich und zuvorkommend. Er ist einer der wenigen Menschen, bei denen ich einkaufe, die ich auch in mein Haus einladen würde. Niemand, der in einem Juwelengeschäft in der Maiden Lane eine Schießerei veranstalten würde. Kein Juden- und Fremdenhasser wie sein Vater.«

Archie schaltete sich ein. »Also nehme ich an, dass Sie nicht besonders traurig waren, als sein Vater in Südafrika ums Leben kam.«

»Es hat mich auch nicht überrascht.«

»Wie bitte?«, fragte Archie, und Isaac Bell sagte: »Was meinen Sie damit?«

»Ich sagte immer im Scherz zu meiner Frau: ›Herr Riker ist ein deutscher Agent.‹«

»Wie kamen Sie denn darauf?«

»Er konnte der Verlockung nicht widerstehen, mir voller Stolz von seinen Reisen zu erzählen. Aber dann fiel mir im Laufe der vielen Jahre irgendwann auf, dass ihn seine Reisen immer dorthin führten, wo Deutschland als Unruhestifter in Erscheinung trat. Im Jahr 1870 hielt er sich rein zufällig in Elsass-Lothringen auf, als der Deutsch-Französische Krieg ausbrach. Er war 1881 auf Samoa, als die Vereinigten Staaten, England und Deutschland den dortigen Bürgerkrieg auslösten. Er befand sich in Sansibar, als sich Deutschland sein sogenanntes Ostafrikanisches Protektorat sicherte. Er war in China, als Deutschland Tsingtau für sich beanspruchte, und in Südafrika, als der Kaiser die Buren anstiftete, sich gegen England zu erheben.«

»Wo er«, sagte Archie, »am Ende den Tod fand.«

»Während eines Angriffs, der von General Smuts persönlich angeführt wurde«, sagte Isaac Bell. »Wenn er kein deutscher Spion gewesen ist, dann war er auf jeden Fall ein Meister des Zufalls. Vielen Dank, Mr Weintraub. Sie waren uns eine große Hilfe.«

Während ihrer Rückfahrt nach New York sagte Bell zu Archie: »Als ich O’Shay beschuldigt habe, sich bei dem Mann, der ihn adoptiert hatte, zu revanchieren, indem er zum Mörder und Spion wurde, entgegnete er, dass die Rettung Katherines aus Hell’s Kitchen eine der Taten gewesen sei, mit denen er es ihm zurückgezahlt habe. Und er fuhr fort mit der Bemerkung: ›Ich sage das voller Stolz.‹ Jetzt begreife ich erst, dass er nur damit prahlte, in die Fußstapfen seines Adoptivvaters zu treten.«

»Falls der Vater, der ihn adoptierte, ein Spion war, heißt das, Riker-O’Shay spioniert für die Deutschen? Er wurde in Amerika geboren. Er wurde von einem Deutschen adoptiert. Er besuchte eine Schule in England und studierte in Deutschland. Wem fühlt er sich zugehörig?«

»Niemandem. Er ist ein Gangster«, sagte Bell. »Er kennt kein Zugehörigkeitsgefühl.«

»Wohin kann er also verschwinden, jetzt wo er entlarvt wurde.«

»Überall dorthin, wo man ihn aufnimmt. Aber nicht bevor er noch ein letztes Verbrechen begeht, um der Nation zu nützen, die danach bereit wäre, einem Kriminellen Schutz und Zuflucht zu gewähren.«

»Indem er diese Torpedos einsetzt«, sagte Archie.

»Aber gegen was?«, fragte Bell.

Ted Whitmark wartete im Empfangsraum der Van Dorn Agency, als Bell ins Knickerbocker Hotel zurückkehrte. Er hatte seinen Hut auf die Knie gelegt und wich Bells prüfendem Blick aus, während er fragte: »Können wir uns irgendwo unter vier Augen unterhalten, Mr Bell?«

»Kommen Sie mit«, sagte Bell und registrierte, dass Whitmarks Harvard-College-Krawatte schief hing, seine Schuhe verschrammt waren und seine Hose dringend gebügelt werden musste. Er geleitete ihn zu seinem Schreibtisch, zog einen Stuhl daneben, so dass sie nahe beieinander saßen und nicht belauscht werden konnten. Whitmark setzte sich, knetete seine Hände und biss sich auf die Lippen.

»Wie geht es Dorothy?«, erkundigte sich Bell, damit sich sein Besucher ein wenig entspannen konnte.

»Gut … sie ist einer der Punkte, über die ich mit Ihnen reden möchte. Aber zuerst komme ich zu meinem Hauptanliegen, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«

»Überhaupt nicht.«

»Sehen Sie, ich, äh, ich spiele Karten. Sehr oft …«

»Sie spielen.«

»Ja, ich spiele. Und manchmal spiele ich zu viel. Ich habe eine Pechsträhne, und ehe ich mich versehe, bin ich tief im Minus. Ich versuche dann, meine Verluste zurückzugewinnen, aber manchmal wird es nur noch schlimmer.«

»Haben Sie im Augenblick eine solche Pechsträhne?«, fragte Bell.

»Es sieht so aus. Ja. So könnte man es ausdrücken.« Wieder verstummte Whitmark.

»Darf ich annehmen, dass Dorothy davon nicht gerade begeistert ist?«

»Nun, ja, schon. Aber das ist noch das Harmloseste. Ich bin ein schrecklicher Trottel. Ich habe mehrere wirklich dumme Dinge getan. Ich dachte, ich hätte meine Lektion in San Francisco gelernt.«

»Was ist in San Francisco passiert?«

»Ich bin dort gerade nochmal davongekommen, dank Ihnen.«

»Was meinen Sie?«, fragte Bell und ahnte plötzlich, dass er offenbar mit einer Situation konfrontiert wurde, die weit ernster war, als er angenommen hatte.

»Ich meine, als Sie diesen Karren angehalten und verhindert haben, dass er das Munitionsdepot auf Mare Island in die Luft fliegen ließ, haben Sie mir damit das Leben gerettet. Viele unschuldige Menschen wären getötet worden, und es wäre meine Schuld gewesen.«

»Erklären Sie das«, verlangte Bell knapp.

»Ich habe ihnen den Passierschein und die nötigen Papiere gegeben, um auf den Mare Island Naval Shipyard zu kommen.«

»Warum?«

»Ich hatte riesige Schulden. Sie hätten mich getötet.«

»Wer?«

»Na ja, zuerst war es Commodore Tommy Thompson. Hier in New York. Dann verkaufte er meine Schulden an einen Burschen, der ein Kasino im Barbary-Coast-Distrikt betrieb, und dort habe ich dann noch mehr verloren. Schließlich drohte er, mich umzubringen. Er sagte, sie würden es ganz langsam machen. Aber alles, was ich tun müsse, um mich aus dieser Klemme zu befreien, wäre, ihm einen Passierschein für eins meiner Fuhrwerke und eine Rechnung meiner Firma zu geben und ihnen alles zu erklären, was sie wissen müssten, um sich dort unauffällig zu bewegen. Ich weiß, was Sie jetzt denken, nämlich dass ich einem Saboteur Zugang zu der Marinebasis verschafft habe. Aber zu diesem Zeitpunkt wusste ich gar nicht, dass es das war, was sie wollten. Ich dachte, es ginge darum, einen dicken Vertrag mit der Navy an Land zu ziehen. Ich dachte, sie machten es wegen des Geldes.«

»Sie hofften, dass sie es wegen des Geldes taten«, korrigierte Bell eisig.

Ted Whitmark ließ den Kopf sinken. Als er wieder aufsah, hatte er Tränen in den Augen. »Das hatte ich diesmal ebenfalls gehofft. Aber ich befürchte, dass es nicht so ist, und irgendetwas sagt mir, dass es diesmal sogar noch schlimmer sein wird.«

Das Telefon der internen Sprechanlage auf Bells Schreibtisch klingelte. Er angelte es von der Gabel. »Was ist?«

»Hier draußen ist eine Lady, die zu Ihnen und zu dem Gentleman möchte, der gerade bei Ihnen ist. Eine Miss Dorothy Langner. Soll ich sie hereinlassen?«

»Nein. Sagen Sie ihr, ich käme gleich zu ihr hinaus.« Er hängte ein. »Fahren Sie fort, Ted. Was ist diesmal geschehen?«

»Sie wollen, dass ich ihnen eines meiner Gespanne überlasse, das für den Brooklyn Navy Yard zugelassen ist.«

»Wer?«

»Dieser aalglatte Typ namens O’Shay. Ich habe gehört, wie ihn jemand Eyes nannte. Das ist wohl sein Spitzname. Wissen Sie, wen ich meine?«

»Wann wollen sie das Gespann haben?«

»Morgen. Wenn die New Hampshire Lebensmittel und Munition lädt. Die Generalinspektion wurde gerade eben abgeschlossen, und sie soll ein Expeditionsregiment der Marine nach Panama bringen, um dafür zu sorgen, dass die Wahlen in der Kanalzone friedlich verlaufen. Meine Filiale in New York hat den Liefervertrag für den gesamten Nachschub.«

»Wie groß soll das Gespann sein?«

»Sie wollen das größte, das ich habe.«

»Groß genug, um zwei Torpedos zu transportieren?«

Whitmark biss sich auf die Lippen. »O Gott. Werden sie es dafür benutzen?«

Die Tür zum Empfangsraum wurde geöffnet, und Harry Warren kam herein. Bell wandte sich wieder zu Ted Whitmark um, als ihn eine plötzliche Bewegung an der Tür innehalten ließ. Er sah, wie Dorothy Langner in einem schwarzen Kostüm und mit einem schwarzen Federhut auf dem Kopf hinter Harry Warren hereinschlüpfte, während dieser fragte: »Kann ich Ihnen behilflich sein, Ma’am?«

»Ich möchte zu Isaac Bell«, sagte sie mit ihrer klaren, klangvollen Stimme. »Dort ist er ja, ich sehe ihn.« Sie eilte auf Bells Schreibtisch zu und griff gleichzeitig in ihre Handtasche.

Whitmark sprang von seinem Stuhl auf. »Hallo, Dorothy, ich hatte ja gesagt, dass ich mit Bell reden werde. Damit ist zwischen uns doch alles wieder in Ordnung, oder?«

Dorothy Langner studierte sein Gesicht. Dann sah sie zu Bell hinüber. »Hallo, Isaac. Darf ich mich für einen Moment irgendwo mit Ted ungestört unterhalten?« Ihre schönen, silbern glänzenden Augen wirkten leer, und Bell hatte den unheimlichen Eindruck, dass sie blind war. Aber das konnte sie nicht sein, denn sie war soeben ohne fremde Hilfe hereingekommen.

»Ich glaube, Van Dorns Büro ist frei. Er wird bestimmt nichts dagegen haben.«

Er geleitete sie in das Büro, schloss die Tür und blieb dicht davor stehen, um zu lauschen. Er hörte Whitmark wiederholen: »Damit ist doch alles wieder in Ordnung zwischen uns, nicht wahr?«

»Nichts wird jemals wieder in Ordnung sein.«

»Dorothy?«, fragte Ted. »Was tust du?«

Die Antwort war der scharfe Knall eines Pistolenschusses. Bell stieß die Tür auf. Ted Whitmark lag auf dem Fußboden, Blut strömte aus seinem Schädel. Dorothy Langner ließ die vernickelte Pistole fallen, die sie auf Whitmarks Brust gerichtet hatte, und sagte zu Isaac Bell: »Er hat meinen Vater getötet.«

»Yamamoto Kenta hat Ihren Vater getötet.«

»Ted hat die Bombe nicht gelegt, aber er hat Informationen über Vaters Arbeit an Hull 44 weitergegeben.«

»Hat Ted Ihnen das erzählt?«

»Er versuchte, sich von seiner Schuld zu befreien, indem er es mir gestanden hat.«

Harry Warren kam hereingestürmt, die Pistole gezückt, und kniete sich neben die Gestalt auf dem Fußboden. Dann griff er nach Van Dorns Telefon. »Sie hat nicht getroffen«, informierte er Bell und sagte zur Telefonistin: »Rufen Sie einen Arzt.«

»Wie schwer ist er verletzt?«, fragte Bell.

»Sie hat ihn nur gestreift. Seine Kopfhaut ist angeritzt, deshalb blutet er so stark.«

»Wird er nicht sterben?«

»Nicht davon. Ich glaube außerdem, dass er gerade aufwacht.«

»Sie hat gar nicht auf ihn geschossen«, sagte Bell.

»Wie bitte?«

»Ted Whitmark hat versucht, sich selbst umzubringen. Sie hat nach der Pistole gegriffen und ihm das Leben gerettet.«

Harry Warren hatte weise alte Augen. »Dann verraten Sie mir bitte auch noch, weshalb er Selbstmord begehen wollte, Isaac.«

»Er ist ein Verräter. Gerade eben erst hat er vor mir das Geständnis abgelegt, dass er dem Spion Informationen zukommen ließ.«

Harry Warren schaute Bell in die Augen und sagte: »Es scheint, als habe Miss Langner dieser Laus das Leben gerettet.«

Der Arzt des Knickerbocker Hotels kam eilig mit seiner Arzttasche herein, gefolgt von Pagen, die eine Bahre trugen. »Bitte alle zurücktreten. Bitte, machen Sie Platz.«

Bell zog Dorothy zum Schreibtisch. »Setzen Sie sich.« Er winkte einen Lehrling zu sich. »Bitte, bring der Lady ein Glas Wasser.«

»Warum haben Sie das getan?«, fragte Dorothy im Flüsterton.

»Ich hätte es nicht getan, wenn Sie mit Ihrem Versuch, ihn zu töten, Erfolg gehabt hätten. Aber da es Ihnen nicht gelungen ist, dachte ich, dass Sie schon genug durchgemacht haben und nicht auch noch eine polizeiliche Untersuchung über sich ergehen lassen müssen.«

»Wird die Polizei diese Version glauben?«

»Wenn Ted alles bestätigt, und ich denke, das wird er tun. Und jetzt erzählen Sie mir alles, was er Ihnen gestanden hat.«

»Im letzten Winter hatte er in Washington beim Spiel sehr viel Geld verloren. Jemand am Spieltisch bot an, ihm Geld zu leihen. Als Gegenleistung redete er mit Yamamoto.« Sie schüttelte mit einem zugleich zornigen und bitteren Gesichtsausdruck den Kopf. »Er begreift noch immer nicht, dass dieser Mann ganz gezielt dafür gesorgt hatte, dass er verlor.«

»Mir hat er erklärt, er habe Pech gehabt«, sagte Bell. »Reden Sie weiter.«

»Das Gleiche passierte in diesem Frühling in New York und danach auch in San Francisco. Und jetzt ist es schon wieder geschehen. Diesmal hat er aber endlich begriffen, was er getan hat. Jedenfalls behauptet er es. Ich vermute, er hat versucht, mich wieder zur Rückkehr zu bewegen. Ich hatte ihm erklärt, mit uns sei es aus. Er hat erfahren, dass es einen anderen Mann gibt.«

»Farley Kent.«

»Natürlich wissen Sie Bescheid«, sagte sie müde. »Die Van Dorns lassen niemals locker. Als Ted von Farley erfuhr, erkannte er, wie ich annehme, dass nichts in seinem Leben echt war. Er wurde religiös. Wahrscheinlich hoffte er, dass ich auf ihn warten würde, wenn er aus dem Gefängnis käme. Oder dass ich um ihn weinte, wenn man ihn wegen Verrats hängen sollte.«

»Ihr Versuch, ihn zu erschießen, muss ihn eines Besseren belehrt haben«, stellte Bell fest.

Sie lächelte. »Ich weiß nicht, was ich dabei empfinde, ihn nicht getötet zu haben. Ich kann gar nicht glauben, dass ich ihn verfehlt habe. Ich war ihm doch so nahe.«

»Nach meiner Erfahrung«, erklärte Bell, »wollen Menschen, die bei einem sicheren Schuss das Ziel verfehlen, eigentlich danebenschießen. Den meisten fällt Mord nicht leicht.«

»Ich wünschte, ich hätte ihn getötet.«

»Sie würden deswegen hängen.«

»Das wäre mir egal.«

»Und wo bliebe Farley Kent?«

»Farley würde …«, setzte sie an, verstummte jedoch plötzlich.

Bell lächelte verständnisvoll. »Sie wollten sagen, dass Farley es sicher verstünde, erkennen jedoch, dass es doch nicht so wäre.«

Sie ließ den Kopf hängen. »Farley wäre am Boden zerstört.«

»Ich habe Farley bei seiner Arbeit gesehen. Er kommt mir vor, als passte er ausgezeichnet zu Ihnen. Er liebt seine Arbeit. Lieben Sie ihn?«

»Ja, das tue ich.«

»Soll ich Sie von einem meiner Männer zum Brooklyn Navy Yard begleiten lassen?«

Sie erhob sich. »Vielen Dank. Ich kenne den Weg.«

Bell geleitete sie zur Tür. »Sie haben diese ganze Geschichte erst ins Rollen gebracht, Dorothy, als Sie geschworen haben, den Namen Ihres Vaters reinwaschen zu wollen. Niemand hat mehr getan, um seine und die Arbeit Farley Kents an Hull 44 zu retten. Dank Ihnen haben wir den Spion entlarvt, und Sie können sich beruhigt zurücklehnen und sicher sein, dass wir ihn fassen werden.«

»Hat Ted Ihnen irgendetwas erzählt, das Ihnen weiterhilft?«

Bell überlegte sich seine Antwort sehr genau. »Er glaubt es. Sagen Sie mal, wie hat Ted von Farley Kent erfahren?«

»Durch einen Brief von einem Wichtigtuer, der mit ›Ein Freund‹ unterschrieben hat. Warum lachen Sie, Isaac?«

»Der Spion fühlt sich in die Enge getrieben und wird langsam unvorsichtig«, war alles, was Bell dazu äußern wollte. Aber er hatte das untrügliche Gefühl, dass O’Shay Ted Whitmark mit einem Trick dazu gebracht hatte, ihm falsche Informationen zukommen zu lassen. Der Spion wollte, dass Bell glaubte, er würde vom Land aus angreifen, während er eigentlich einen Angriff von Seiten des Meeres plante.

Dorothy hauchte ihm einen Kuss auf die Wange und eilte die prachtvolle Treppe hinunter.

»Mr Bell«, machte sich der Agent am Empfang bemerkbar, »der Hausdetektiv des Knickerbocker verlangt Sie am Telefon.«