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17. März 1908
Washington, D. C.

Der Washington Navy Yard schlummerte wie eine antike Stadt, beschützt von soliden Mauern und einem Fluss. Alte Männer hielten Wache, trotteten von einer elektrischen Stechuhr zur nächsten, um ihre Rundgänge durch Fabrikationshallen, Materiallager, Werkstätten und Baracken zu dokumentieren. Außerhalb des Geländes erhob sich als ein düsterer Schattenberg die Ansammlung verdunkelter Arbeiterunterkünfte. Capitol Dome und Washington Monument krönten den Berg und glitzerten im Licht des Vollmondes wie polare Eiskappen. Ein Eisenbahnzug näherte sich, stieß dichte Dampfwolken aus und ließ die Warnglocke durch die Nacht hallen.

US-Marineposten öffneten das North Railroad Gate.

Niemand sah Yamamoto Kenta in seinem Versteck unter dem Baltimore&Ohio-Flachwagen, den die Lokomotive aufs Werftgelände schob. Die Räder des Güterwagens knirschten unter einer Ladung fünfunddreißig Zentimeter dicker Panzerplatten aus Bethlehem, Pennsylvania, auf den Schienen. Bremser koppelten den Güterwagen auf einem Nebengleis ab, während die Lokomotive zurücksetzte.

Yamamoto Kenta ließ sich vorsichtig auf die Holzschwellen und den Schotter zwischen den Schienen hinab. Er blieb still liegen, bis er ganz sicher war, allein zu sein. Dann folgte er den Gleisen in die dicht gestaffelte Ansammlung dreistöckiger Gebäude aus Backstein und Eisen, in denen die Naval Gun Factory untergebracht war.

Mondlicht, das durch hohe Fenster drang, und die rot leuchtende Glut einer Reihe hoher Schmelzöfen erhellten eine riesige Halle. Laufkräne schlummerten in den Schatten unter dem Dach. Mächtige, fünfzig Tonnen schwere Geschützrohre für Großkampfschiffe, auch Dreadnoughts genannt, bedeckten den Hallenboden, als hätte ein Feuersturm einen stählernen Wald entwurzelt.

Yamamoto Kenta, ein Japaner mittleren Alters, mit ersten grauen Strähnen in seinem glänzenden schwarzen Haar und einem selbstsicheren, würdevollen Auftreten, suchte sich zielsicher seinen Weg abseits der Routen, an die sich die Nachtwächter bei ihren Rundgängen halten mussten, und inspizierte eingehend Drehbänke, Maschinen zum Ziehen von Geschützläufen sowie einige Schmelzöfen. Vor allem interessierten ihn tiefe Schächte im Hallenboden, die mit Ziegeln ausgekleideten Schrumpfgruben, in denen fünfzehn Meter lange Rohre mit Stahlplatten ummantelt wurden. Dabei entging seinen Augen nichts. Sie waren durch ähnliche heimliche Besichtigungstouren bei Vickers und Krupp – den englischen und deutschen Schiffsgeschützfabriken – sowie in den Geschützschmieden des russischen Zaren in St. Petersburg geschärft worden.

Ein altmodisches Yale-Zylinderschloss sicherte die Tür zum Vorratsraum des Labors, der die Ingenieure und Wissenschaftler mit den Grundmaterialien versorgte, die für ihre Arbeit notwendig waren. Kenta hatte keinerlei Probleme, es mit seinem Spezialwerkzeug schnell zu öffnen. In den Schränken suchte er nach Jod, wurde fündig und schüttete sechs Unzen der glänzenden schwarzblauen Kristalle in einen Briefumschlag. Dann schrieb er »kristallines Jod, 6 Unzen« auf ein Anforderungsformblatt und notierte dahinter die Initialen »AL« des legendären Chefkonstrukteurs der Waffenfabrik, Arthur Langner.

In einem abgelegenen Flügel des weitläufigen Gebäudes fand er das Testbecken, in dem Spezialisten für Panzerung Torpedo-Angriffe simulierten, um die Wirkung der um ein Vierfaches verstärkten Unterwasserexplosionen zu messen. Die Seemächte, die beim Bau immer größerer Schlachtschiffe hektisch miteinander wetteiferten, führten in geradezu fieberhafter Hast Experimente durch, Torpedos mit TNT-Sprengladungen zu bewaffnen. Yamamoto Kenta stellte jedoch fest, dass die Amerikaner immer noch Tests mit chemischen Mixturen vornahmen, die auf Explosivstoffen mit Schießbaumwolle als Grundlage basierten. Er stahl einen Sack aus Seidenstoff, der mit raucharmem modifiziertem Kordit gefüllt war.

Während er die Tür eines Materialschranks öffnete, der in den Dienstbereich des Hausmeisters gehörte, um eine Flasche Ammoniakwasser zu entwenden, hörte er einen Nachtwächter kommen. Er versteckte sich in dem Wandschrank, bis der alte Mann vorbeigeschlurft und zwischen den Geschützen verschwunden war.

Schnell und lautlos huschte Yamamoto Kenta die Treppe hinauf.

Arthur Langners Zeichen- und Konstruktionsatelier, das nicht abgeschlossen war, entpuppte sich als die Werkstatt eines Exzentrikers, dessen Genialität sich sowohl in der Kriegstechnik als auch auf künstlerischem Gebiet bewies. Blaupausen von Geschützverschlüssen mit Stufengewinde sowie visionäre Skizzen von Geschossen mit ungeahnter Sprengkraft teilten sich den Arbeitsraum mit einer Malstaffelei, einer Romanbibliothek, einer Bassgeige und einem Konzertflügel.

Kenta ließ Kordit, Jod und Ammoniakwasser auf dem Flügel liegen und verbrachte eine Stunde mit dem Studium der Zeichentische. »Seid die Augen Japans«, predigte er bei den seltenen Gelegenheiten, da ihm sein Dienst gestattete, in die Heimat zurückzukehren, in der Spionageschule der Gen’yo¯sha. »Nutzt jede Gelegenheit, um zu beobachten. Ganz gleich, ob eure Mission ein Täuschungsmanöver, Sabotage oder Mord ist.«

Was er sah, machte ihm Angst. Die Zwölf-Zoll-Geschützrohre auf dem Hallenboden konnten Mörsergranaten sieben Meilen weit schießen, wobei ihre Wucht immer noch ausreichte, um fünfundzwanzig Zentimeter dicke Platten des modernsten oberflächengehärteten Panzerstahls zu durchschlagen. Aber hier oben im Zeichenatelier, wo neue Ideen ausgebrütet wurden, gab es erste Skizzen von Fünfzehn-Zoll-Geschützen und sogar die eines über zwanzig Meter langen Monstrums mit Sechzehn-Zoll-Kaliber, das eine Tonne Sprengstoff bis hinter den Horizont zu katapultieren vermochte. Niemand wusste bislang, wie genau man mit einer solchen Waffe zielen konnte, wenn die Entfernungen einfach zu groß waren, um die Schussweite anhand der Wasserfontänen der Fehlschüsse abzuschätzen und zu korrigieren. Doch die kühne Erfindungsgabe, die Yamamoto Kenta in diesen Konstruktionen erkannte, warnte ihn, dass es nur noch eine Frage der Zeit sei, bis Amerikas Neue Navy vollständig neuartige Artillerietechnologien entwickelte.

Yamamoto Kenta deponierte einen Stapel Banknoten in der Schreibtischschublade des Waffenkonstrukteurs – fünfzig US Goldzertifikate im Wert von je zwanzig Dollar. Also bedeutend mehr, als ein qualifizierter Facharbeiter in der Waffenfabrik in einem Jahr verdiente.

Die US Navy war nach der englischen und der deutschen bereits die drittgrößte Kriegsmarine der Welt. Ihre Nordatlantikflotte – schamlos in die Große Weiße Flotte umbenannt worden – zeigte während ihrer herausfordernd demonstrativen Reise um die Welt ihre Flagge. Aber England, Deutschland, Russland und Frankreich waren nicht die Feinde Amerikas. Die wahre Mission der Großen Weißen Flotte bestand darin, dem japanischen Kaiserreich mit seinem stählernen Geschützarsenal zu drohen. Amerika beabsichtigte, die Herrschaft über den Pazifischen Ozean von San Francisco bis Tokio an sich zu reißen.

Das würde Japan niemals zulassen, dachte Yamamoto Kenta mit einem stolzen Lächeln.

Erst drei Jahre waren verstrichen, seit der Russisch-Japanische Krieg die Herrschaftsverhältnisse im Westpazifik auf blutige Art und Weise grundlegend verändert hatte. Das mächtige Russland hatte versucht, Japan unter Druck zu setzen. Mittlerweile besetzte das japanische Kaiserreich Port Arthur. Die Ostseeflotte Russlands lag in hundert Metern Tiefe auf dem Grund der Koreastraße westlich der Tsushima-Inseln – was in nicht geringem Maß japanischen Spionen zu verdanken war, die die russische Marine infiltriert hatten.

Während Yamamoto Kenta die Schublade mit dem Geld schloss, hatte er das unbehagliche Gefühl, beobachtet zu werden. Er schaute über den Schreibtisch hinweg in die herausfordernd blickenden Augen einer schönen Frau, deren Porträtfoto in einem silbernen Stehrahmen steckte. Sofort erkannte er Langners dunkelhaarige Tochter und bewunderte, wie lebensnah der Fotograf ihre ausdrucksvollen Augen eingefangen hatte. Sie hatte das Bild mit der schwungvoll geschriebenen Widmung »Für Vater, den ›Gunner‹, dem auch die größten Schiffe noch zu klein sind!« versehen.

Kenta trat zu Langners Bücherregalen hinüber. In dicken Folianten gesammelte und gebundene Patentanträge standen neben einer umfangreichen Auswahl von Romanen. Die jüngsten Patentanträge waren auf einer Schreibmaschine getippt worden. Yamamoto Kenta zog einen Band nach dem anderen aus dem Regal und gelangte schließlich zum letzten Jahr, in dem die Anträge noch handschriftlich verfasst worden waren. Er legte das Buch aufgeschlagen auf den Tisch des Konstrukteurs, holte dann aus einer Seitenschublade einen Bogen Papier und einen Waterman-Füllfederhalter mit Goldfeder heraus. Indem er den handschriftlichen Text immer wieder als Vorlage zu Rate zog, fälschte er einen kurzen, verworrenen Brief. Er beendete ihn mit den Worten »Verzeih mir« und setzte Arthur Langners Signatur darunter.

Dann begab er sich mit dem Jod und dem Ammoniakwasser ins Badezimmer des Konstrukteurs. Mit dem Kolben seiner Nambu-Pistole zertrümmerte er die Jodkristalle auf dem Rand des Marmorwaschbeckens zu einem feinen Pulver und füllte es in eine Rasierschale. Nun wischte er die Pistole mit dem Handtuch ab und achtete darauf, einen violetten Flecken auf dem Stoff zu hinterlassen. Dann träufelte er Ammoniakwasser auf das Jodpulver und rührte mit dem Stiel von Langners Zahnbürste darin herum, bis er eine Paste aus Stickstoffjodid erhielt.

Er öffnete den Deckel des Flügels und schmierte die Paste an dem schmalen und von den Tasten am weitesten entfernten Ende auf die dicht beieinanderliegenden Saiten des Instruments. Sobald sie getrocknet war, würde die explosive Mischung äußerst instabil und extrem stoßempfindlich sein. Ein leichtes Vibrieren würde bereits ausreichen, um einen lauten Knall und einen grellen Blitz auszulösen. Dabei würde die Explosion nur wenig mehr beschädigen als das Klavier. Aber als Zünder wäre sie tödlich.

Er legte den Seidenbeutel dicht über den Saiten auf den Rand des gusseisernen Rahmens. Der Beutel enthielt genügend raucharmes modifiziertes Kordit, um ein zwölf Pfund schweres Geschoss zwei Meilen weit fliegen zu lassen.

Yamamoto Kenta, dessen Augen vom Ammoniakwasser immer noch brannten, verließ die Naval Gun Factory auf dem gleichen Weg, auf dem er sie betreten hatte. Plötzlich lief jedoch einiges schief. Das nördliche Eisenbahntor wurde durch eine unerwartete nächtliche Aktivität blockiert. Rangierlokomotiven schoben und schleppten unter den Kommandos zahlreicher Bremser offene Güterwagen herein und hinaus. Er zog sich tiefer in das Waffendepot zurück, vorbei am Maschinenhaus, und suchte sich seinen Weg durch ein Labyrinth aus Straßen, Gebäuden und Lagerhäusern. Indem er sich an den Schornsteinen des Maschinenhauses und zwei Funkantennentürmen orientierte, die er als scharf gezeichnete Silhouetten vor dem mondhellen Nachthimmel erkennen konnte, durchquerte er einen kleinen Park und einen Garten, der von stattlichen Ziegelbauten begrenzt wurde. Darin wohnten die Familien des Kommandanten und der Offiziere der Marinewerft.

In diesem Bereich stieg das Gelände leicht an. Im Nordwesten war das Capitol zu sehen, wie es scheinbar über der Stadt schwebte. Er betrachtete es als ein weiteres Symbol der furchteinflößenden Macht Amerikas. Welche andere Nation hätte die größte gusseiserne Gebäudekuppel errichten können, während in ihren Grenzen gleichzeitig ein Bürgerkrieg tobte? Er hatte den Seiteneingang fast erreicht, als er auf einem schmalen Weg von einem Wachtposten überrascht wurde.

Yamamoto Kenta hatte gerade noch Zeit, sich in eine Hecke zu drücken.

Wenn er jetzt geschnappt werden würde, wäre das eine Schande für Japan. Er hielt sich mit dem offiziellen Auftrag in Washington, D. C., auf, bei der Katalogisierung einer kürzlich erfolgten Schenkung der Freer Collection von asiatischer Kunst an das Smithsonian Institute behilflich zu sein. Diese Tarnung gestattete ihm den Zutritt zum diplomatischen Corps und zu den Kreisen mächtiger Politiker, deren Ehefrauen sich für kunstsinnig hielten und jede seiner Äußerungen über japanische Kunst gierig aufsogen. Echte Experten des Smithsonian hatten ihn bereits zweimal bei gravierenden Fehlern ertappt. Ihnen gegenüber hatte er die Lücken in seinem überhastet erworbenen Wissen mit seinen mangelhaften Englischkenntnissen entschuldigt. Bislang hatten sich die Experten mit dieser Begründung auch zufriedengegeben. Aber es gäbe ganz sicher keine plausible Erklärung dafür, dass ein japanischer Fachmann für asiatische Kunst zu nächtlicher Stunde im Washington Navy Yard aufgegriffen wurde.

Der Nachtwächter kam mit knirschenden Schritten den kiesbestreuten Weg herauf. Yamamoto Kenta zog sich noch tiefer in seine Deckung zurück und zückte seine Pistole – als letzte Rettung seiner Anonymität. Ein Pistolenschuss würde jedoch die Marinesoldaten aus ihren Baracken am Haupttor herauslocken. Er wühlte sich in die Hecke hinein und suchte nach einer Lücke zwischen den Zweigen, um auf die andere Seite zu gelangen.

Der Nachtwächter hatte keinen Anlass, einen Blick auf die Hecke zu werfen, als er daran entlangtrottete. Doch Yamamoto Kenta schob sich weiter zwischen den widerspenstigen Zweigen und Ästen hindurch, bis einer von ihnen zerbrach. Der Nachtwächter blieb sofort stehen. Er blickte in die Richtung, in der das Geräusch erklungen war. In diesem Augenblick beleuchtete der Mond beide Gesichter.

Der Japaner sah ihn ganz deutlich – einen pensionierten Matrosen, einen alten Seebären, der seine armselige Rente mit einer Tätigkeit als Nachtwächter aufbesserte. Sein Gesicht war verwittert, die Augen trübe von den langen Jahren unter der tropischen Sonne, sein Rücken wirkte gebeugt. Er straffte sich beim Anblick der schlanken Gestalt, die sich in der Hecke versteckte. Plötzlich angespannt, war der Pensionär kein alter Mann mehr, der um Hilfe hätte rufen sollen, sondern er fühlte sich in seine Zeit als langgliedrige, breitschultrige »Blaujacke« in der Blüte ihres Lebens zurückgeworfen.

Yamamoto Kenta schlängelte sich vollends durch die Hecke hindurch und rannte los. Der Nachtwächter stürzte sich in die Hecke, verhedderte sich darin und brüllte nun wie ein wilder Stier. Yamamoto Kenta hörte in der Ferne laute Rufe antworten. Er änderte seine Laufrichtung und sprintete an einer hohen Mauer entlang. Sie war errichtet worden, wie er während seiner Vorbereitungen auf diesen nächtlichen Ausflug gelesen hatte, nachdem Plünderer eingedrungen waren, als die Werft durch ein Hochwasser des Potomac überschwemmt worden war. Darum war sie auch zu hoch, um überklettert werden zu können.

Schritte trommelten auf dem Kiesweg. Alte Männer verständigten sich durch laute Rufe. Elektrische Taschenlampen blinkten. Plötzlich sah er die Rettung vor sich: ein Baum, der dicht an der Mauer aufragte. Er krallte die Gummisohlen seiner Schuhe in die raue Borke des Baumstamms und kletterte bis zum untersten Ast, stieg noch zwei Äste höher und schwang sich auf die Mauerkrone. Da hörte er wildes Gebrüll hinter sich. Die Straße unter ihm war leer und verlassen. Er sprang von der Mauerkrone hinab und federte die harte Landung mit gebeugten Knien ab.

Am Buzzard Point, unweit der Mündung der 1st Street, stieg Yamamoto Kenta in ein sechs Meter langes Motorboot, das von einer zwei PS starken Pierce-»Noiseless«-Maschine angetrieben wurde. Der Skipper lenkte das Boot in die Strömung und den Potomac hinunter. Dichter Flussnebel hüllte es wenig später ein, und Yamamoto Kenta atmete erleichtert auf.

Während er sich zum Schutz vor der Kälte in die winzige Nische unter dem Bug kauerte, dachte er darüber nach, wie knapp er seinen Verfolgern entronnen war, und kam zu dem Schluss, dass er seiner Mission damit nicht geschadet hatte. Der Gartenweg war an der Stelle, wo ihn der Nachtwächter beinahe geschnappt hätte, mindestens eine halbe Meile von der Waffenfabrik entfernt. Auch war es nicht besonders schlimm, dass der alte Mann sein Gesicht gesehen hatte. Amerikaner hegten generell eine tiefe Abneigung gegen Asiaten. Nur wenige konnten zwischen chinesischen und japanischen Gesichtszügen unterscheiden. Da Einwanderer aus China weitaus zahlreicher vertreten waren als japanische, würde der Nachtwächter das Eindringen eines verhassten Chinesen höchstwahrscheinlich melden – sicherlich eines Opiumsüchtigen, dachte er mit einem erleichterten Lächeln. Oder, sagte er sich lautlos kichernd, eines schändlichen Mädchenhändlers, der es auf die Töchter des Kommandanten abgesehen hatte.

Fünf Meilen weiter flussabwärts in Alexandria, Virginia, ging er an Land.

Er wartete, bis das Boot wieder vom Holzpier abgelegt hatte. Dann eilte er am Wasser entlang und betrat ein nicht erleuchtetes Lagerhaus, das mit ausrangiertem schiffstechnischem Gerät vollgestopft war, voller Staub und Spinnweben.

Ein jüngerer Mann, dem Yamamoto Kenta verächtlich den Spitznamen Spion verpasst hatte, erwartete ihn in einem spärlich erleuchteten Hinterzimmer, das als Büro diente. Er war zwanzig Jahre jünger als Yamamoto Kenta und sah so durchschnittlich aus, dass er absolut unauffällig wirkte. Sein Büro enthielt ebenfalls veraltete Ausrüstungsgegenstände früherer Kriege: über Kreuz arrangierte Entermesser als Wandschmuck; eine gusseiserne Dahlgren-Vorderladerkanone aus dem Bürgerkrieg, unter deren Last sich der Fußboden durchbog, und hinter dem Schreibtisch einen alten Kohlefaden-Suchscheinwerfer von sechzig Zentimetern Durchmesser, wie er einst auf Kriegsschiffen zum Einsatz gekommen war. Yamamoto Kenta sah sein eigenes Gesicht als Spiegelbild in der verstaubten Sammellinse.

Er meldete den erfolgreichen Abschluss seiner Mission. Dann, während sich der Spion ausführliche Notizen machte, schilderte er präzise alles, was er in der Waffenfabrik gesehen hatte. »Vieles davon«, schloss er seinen Bericht, »sieht reichlich abgenutzt aus.«

»Das verwundert kaum.«

Völlig überfordert und nur unzureichend ausgerüstet, hatte die Naval Gun Factory alles von Munitionsflaschenzügen bis hin zu Torpedorohren produziert, damit die Große Weiße Flotte schnellstens in See stechen konnte. Nachdem die Kriegsschiffe ihre Liegeplätze verlassen hatten, lieferte die Fabrik ganze Zugladungen von Ersatzteilen, Visiereinrichtungen, Zündvorrichtungen, Verschlusskappen und Geschützlafetten nach San Francisco. In einem weiteren Monat würde sich die Flotte dort von ihrer vierzehntausend Meilen langen Reise um das Kap Hoorn von Südamerika erholen und im Mare Island Ship Yard einer Generalinspektion unterziehen, um danach den Pazifik zu überqueren.

»Ich würde sie nicht unterschätzen«, erwiderte Yamamoto Kenta düster. »Abgenutzte Maschinen lassen sich ersetzen.«

»Wenn sie dazu die Energie haben.«

»Nach dem, was ich gesehen habe, haben sie durchaus die Energie. Und die Erfindungsgabe. Sie machen nur eine kurze Pause und sammeln ihre Kräfte.«

Der Mann hinter dem Schreibtisch spürte, dass Yamamoto Kenta von seiner Furcht vor der amerikanischen Marine gelähmt, wenn nicht gar vollkommen beherrscht wurde. Er hatte diese Tiraden schon früher gehört und wusste inzwischen, wie er das Thema wechseln konnte, indem er den Japaner mit überschwänglichem Lob aus dem Konzept brachte.

»Ich habe nie an Ihrer hervorragenden Beobachtungsgabe gezweifelt. Aber ich staune über die Vielfalt Ihres Wissens und Ihrer Fähigkeiten in den Bereichen Chemie, Maschinenbau und Fälscherhandwerk. Mit einem einzigen genialen Schachzug haben Sie die weitere Entwicklung amerikanischer Waffentechnik gestoppt und dem Kongress die Nachricht übermittelt, dass die Navy korrupt ist.«

Er beobachtete, dass sich Yamamoto Kenta wie ein Pfau spreizte. Selbst die fähigsten Agenten hatten eine Achillesferse. In Yamamoto Kentas Fall war es eine übermäßige Eitelkeit, die ihn blendete.

»Ich bin schließlich schon lange in diesem Gewerbe tätig«, erwiderte Yamamoto Kenta mit falscher Bescheidenheit.

Tatsächlich, dachte der Mann hinter dem Schreibtisch, konnte man die chemischen Details für die Herstellung des Stickstoffjodid-Zünders in jedem einigermaßen ausführlichen Schülerlexikon nachschlagen. Was jedoch Yamamoto Kentas andere Fähigkeiten sowie sein fundiertes Wissen über Seekriegsführung keinesfalls schmälern sollte.

Nachdem er ihn ein wenig besänftigt hatte, schickte er sich an, den Japaner einem Test zu unterziehen. »Letzte Woche an Bord der Lusitania«, sagte er, »ist mir zufällig ein britischer Attaché über den Weg gelaufen. Sie kennen doch diese Typen. Halten sich selbst für Gentleman-Spione.«

Er hatte eine erstaunliche Begabung für Akzente, und er imitierte perfekt die gestelzte Sprechweise eines englischen Adligen. »›Die Japaner‹, verkündete dieser Gentleman allen Anwesenden im Rauchsalon, ›verfügen über eine natürliche Gabe für Spionage und eine Gerissenheit und Selbstkontrolle, wie man sie sonst nirgendwo im Westen finden kann.‹«

Yamamoto Kenta lachte. »Das klingt wie Commander Abbington-Westlake aus der Foreign Division des Naval Intelligence Department der Admiralität, der im vergangenen Sommer dabei beobachtet wurde, wie er ein Aquarell vom Long Island Sund anfertigte, auf dem zufälligerweise auch Amerikas jüngstes U-Boot der Viper-Klasse zu sehen war. Glauben Sie, dass der Windbeutel es als Kompliment gemeint hat?«

»Die französische Marine, die er im vergangenen Monat so erfolgreich infiltriert hat, würde Abbington-Westlake kaum einen Windbeutel nennen. Haben Sie das Geld behalten?«

»Wie bitte?«

»Das Geld, das Sie in Arthur Langners Schublade legen sollten. Haben Sie es für sich behalten?«

Der Japaner erstarrte. »Natürlich nicht. Ich habe es im Schreibtisch deponiert.«

»Die Feinde der Navy im Kongress sollen glauben, dass sich ihr Star-Designer, der sogenannte Gunner, der Annahme eines Schmiergeldes schuldig gemacht hat. Dieses Geld sollte unseren Hinweis an den Kongress untermauern, so dass man sich dort fragt, was in der Navy sonst noch im Argen liegen mag. Also, haben Sie das Geld behalten?«

»Es sollte mich eigentlich überraschen, dass Sie einem loyalen Partner eine solche Frage stellen. Da Sie selbst die Seele eines Diebes haben, nehmen Sie an, dass jeder Mensch ein Dieb ist.«

»Haben Sie das Geld behalten?«, wiederholte der Spion. Die Gewohnheit, in jeder Situation absolut ruhig zu bleiben, verschleierte die stählerne Energie, die in seiner untersetzten Gestalt schlummerte.

»Zum letzten Mal, ich habe das Geld nicht für mich eingesteckt. Würde es Sie überzeugen, wenn ich es beim Andenken meines alten Freundes – Ihres Vaters – schwöre?«

»Tun Sie es!«

Yamamoto Kenta blickte ihm mit unverhohlenem Hass in die Augen. »Ich schwöre es beim Andenken meines alten Freundes, Ihres Vaters.«

»Ich denke, ich glaube Ihnen.«

»Ihr Vater war ein Patriot«, erwiderte Yamamoto Kenta eisig. »Sie sind ein Söldner.«

»Sie stehen auf meiner Lohnliste«, kam die noch eisigere Erwiderung. »Und wenn Sie Ihrer Regierung die wertvolle Information überbringen, die Sie in der Waffenfabrik des Washington Navy Yard aufgeschnappt haben – während Sie für mich arbeiteten –, wird Ihre Regierung Sie abermals entlohnen.«

»Ich spioniere nicht für Geld. Ich spioniere für das Kaiserreich Japan!«

»Und für mich.«

»Einen wunderschönen Sonntagmorgen für alle, die es vorziehen, Musik zu hören, ohne von einer Predigt begleitet zu werden«, begrüßte Arthur Langner seine Freunde in der Naval Gun Factory.

In seinem ausgebeulten Straßenanzug sah er ziemlich zerknittert aus, das Haar war zerzaust, und er hatte einen stets neugierigen Ausdruck in den wachen Augen. So grinste der Star-Designer des Naval Ordnance Bureau wie jemand, der sich für alles interessierte, was er sah, und der vor allem die seltsamen Dinge liebte. Der Gunner war Vegetarier, ein leidenschaftlicher Agnostiker und glaubte an die Richtigkeit der Theorie vom Unbewussten, die der Wiener Neurologe Sigmund Freud aufgestellt hatte.

Er hatte Patente für eine Erfindung angemeldet, die er »Elektrische Saug-Reinigungsmaschine« nannte, nachdem er seine fruchtbare Phantasie in den Dienst seiner festen Überzeugung gestellt hatte, dass naturwissenschaftlich fundierte Haustechnik Frauen aus der Isolation der Hausarbeit zu befreien vermochte. Außerdem vertrat er die Meinung, dass Frauen das Recht zugestanden werden sollte zu wählen, außerhalb ihres Haushalts einer Arbeit nachzugehen und sogar die Geburtenkontrolle zu praktizieren. Weit verbreiteten abfälligen Gerüchten zufolge war seine Tochter, die sich in Washington und New York vorwiegend in den Kreisen des vergnügungssüchtigen Partyvolks bewegte, die Hauptnutznießerin dieser Forderung.

»Eine wandelnde Ein-Mann-Extremistenbewegung«, beklagte sich der Kommandant der Werft regelmäßig.

Aber nachdem er hatte miterleben müssen, wie Langners jüngste Entwicklung eines zwölf Zoll/Kaliber .50-Geschützes sein vor Sandy Hook im Atlantik gelegenes Schießübungsgelände aufgewühlt hatte, erwiderte der Chef der Entwicklungsabteilung für Schiffsartillerie: »Gott sei Dank arbeitet er für uns und nicht für den Feind.«

Seine Musikerkollegen, mit denen er sich am Sonntagvormittag regelmäßig traf – ein buntes Gemisch von Angestellten der Gun Factory –, lachten zustimmend, als Langner scherzte: »Nur um irgendwelchen gespannt lauschenden Puritanern zu versichern, dass wir keine kompletten Heiden sind, sollten wir mit ›Amazing Grace‹ beginnen! In G-Dur, bitte.«

Er nahm am Konzertflügel Platz.

»Darf ich zuerst ein A haben, Sir?«, fragte der Cellist, ein Experte für panzerbrechende Sprengköpfe.

Langner schlug ein mittleres A an, nach dem die Saiteninstrumente gestimmt werden konnten. Er verdrehte die Augen mit einem Ausdruck übertriebener Ungeduld, während die Musiker an den Stimmwirbeln ihrer Instrumente herumdrehten. »Sind die Herren etwa dabei, eins dieser neuen atonalen Tonsysteme zu erschaffen?«

»Noch ein A, wenn Sie es entbehren können, Arthur. Geht es ein wenig lauter?«

Langer schlug das mittlere A ein wenig kraftvoller an und wiederholte es mehrmals. Schließlich waren die Streicher zufrieden.

Der Cellist intonierte die einleitenden Noten von »Amazing Grace«.

Zu Beginn des zehnten Taktes stimmten die Geiger – ein Spezialist für Torpedoantriebe und ein stämmiger Heizungsinstallateur – bei »once was lost« ein. Sie spielten die Strophe zu Ende und begannen von neuem.

Langner hob die mächtigen Hände über den Tasten, trat auf das Dämpferpedal und beendete die Zeile »a wretch like me« mit einem strahlenden G-Dur-Akkord.

Im Flügel war Yamamoto Kentas Paste aus Stickstoffjodid zu einer explosiven harten Kruste getrocknet. Als Langner die Tasten niederdrückte, prallten Filzhämmer auf G-, B- und D-Saiten und versetzten sie in Schwingung. In sechs weiteren ober- und unterhalb gelegenen Oktaven begannen G-, B- und D-Saiten zu schwingen und erschütterten das Stickstoffjodid.

Es explodierte mit einem scharfen, trockenen Knall, erzeugte eine violette Qualmwolke, die aus dem Resonanzkasten drang, und brachte gleichzeitig den Sack Kordit zur Zündung. Das Kordit zertrümmerte den Flügel zu einer Wolke von Tausenden Splittern und Partikeln Holz, Draht und Elfenbein, die Arthur Langners Kopf und Brust durchlöcherten und ihn auf der Stelle töteten.