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»Taxi, Sir?«, fragte der Portier des Waldorf Astoria einen Hotelgast, der gerade in Zylinder und lodengrünem Bratenrock auf die Straße trat.
»Ich gehe ein wenig spazieren«, sagte Eyes O’Shay.
Einen Gehstock mit edelsteinbesetztem Knauf schwingend, schlenderte er die Fifth Avenue hinauf und blieb wie ein Tourist gelegentlich stehen, um die eine oder andere Villa eingehender zu betrachten oder sich die Auslagen in einem Ladenschaufenster anzusehen. Als er einigermaßen sicher sein konnte, nicht verfolgt zu werden, betrat er die St. Patrick’s Cathedral durch den hohen gotischen Vordereingang. Im Kirchenschiff machte er eine Kniebeuge, als wäre es eine tägliche Gewohnheit, ließ ein paar Münzen in den Opferstock fallen und zündete einige Kerzen an. Dann warf er den Kopf in den Nacken, betrachtete sinnierend die fleckigen Glasscheiben des Rosenfensters und imitierte den stolzen Blick eines Pfarreimitglieds, das soeben eine beträchtliche Summe für den Renovierungsfond gespendet hatte.
Seit Isaac Bell Tommy Thompson geschnappt hatte, musste er davon ausgehen, dass jeder Van-Dorn-Agent in New York – plus zweihundert Bahnpolizisten und der Teufel mochte wissen wie viele weitere bezahlten Informanten noch – die Jagd auf ihn eröffnet hatten oder es in Kürze tun würden. Er verließ die Kirche durch den Hinterausgang, suchte sich seinen Weg zwischen Laufgängen und Baugerüsten, auf denen Maurer und Steinmetze an der Fertigstellung der Muttergottes-Kapelle arbeiteten, und gelangte auf die Madison Avenue.
Er ging die Madison Avenue hinauf, achtete weiterhin auf das, was hinter ihm geschah, bog in die 55th Street ein und machte am St. Regis Hotel Halt. In der Bar genehmigte er sich einen Drink und schwatzte mit dem Barkeeper, dem er wie immer ein reichliches Trinkgeld zukommen ließ, während er das Foyer beobachtete. Dann drückte er einem Pagen ein paar Münzen in die Hand, damit dieser ihn durch den Personaleingang wieder hinausließ.
Nur kurze Zeit später betrat er das Plaza Hotel. Auf dem Palm Court in der Mitte des Parterres blieb er stehen. Die Gäste, die an den kleinen Tischen saßen und ihren Nachmittagstee einnahmen, waren Mütter mit Kindern, Tanten und Nichten – und hier und da auch ein älterer Gentleman, der offenbar in seine eigene Tochter verliebt war und mit ihr herumschäkerte. Der Empfangschef verbeugte sich tief.
»Ihr gewohnter Tisch, Herr Riker?«
»Danke sehr.«
Herrn Rikers gewohnter Tisch gestattete ihm, das Foyer in beiden Richtungen zu überblicken, während er sich hinter einem Wald aus Topfpalmen verstecken konnte, in dem Dr. Livingstone und Henry Stanley sich hätten zu Hause fühlen können.
»Wird Ihr Mündel Ihnen Gesellschaft leisten, Sir?«
»Das hoffe ich doch von ganzem Herzen«, erwiderte er mit einem vornehmen Lächeln. »Bestellen Sie Ihrem Kellner, dass wir an unserem Tisch nur etwas Süßes haben wollen. Keins von diesen kleinen Sandwiches. Bloß Kuchen und Schlagsahne.«
»Natürlich, Herr Riker. Wie immer, Herr Riker.«
Katherine verspätete sich wie üblich, und er nutzte die Zeit, um sich auf eine, wie er wusste, schwierige Diskussion vorzubereiten. Dazu fühlte er sich in jeder Hinsicht bereit, als sie aus dem Fahrstuhl kam. Ihr Nachmittagskleid war eine Wolke aus blauer Seide, die zu ihren Augen passte und der Farbe ihres Haars schmeichelte.
O’Shay erhob sich, während sie zu seinem Tisch kam, ergriff ihre behandschuhten Hände und sagte: »Sie sind eine wahre Schönheit, Miss Dee.«
»Vielen Dank, Herr Riker.«
Katherine Dee lächelte und bekam kleine Grübchen. Doch als sie sich niederließ, blickte sie ihm auf ihre direkte Art ins Gesicht und sagte: »Du siehst so ernst aus – so Mündel-und-Beschützer-ernst. Was ist mit dir, Brian?«
»Selbsternannte ›gute Kämpfer‹, die ›gute Kriege‹ ausfechten, beschuldigen mich voller Verachtung, ein Söldner zu sein. Ich betrachte es als Bestätigung meiner Intelligenz. Denn für einen Söldner ist der Krieg vorbei, wenn er ihn für beendet erklärt. Er zieht sich dann als Sieger zurück.«
»Ich hoffe, du hast Whiskey und keinen Tee bestellt«, sagte sie.
O’Shay lächelte. »Ja, ich weiß, ich schwadroniere wieder. Dabei versuche ich doch nur, dir klarzumachen, dass wir uns im Endspiel befinden, Liebste.«
»Was meinst du?«
»Es wird Zeit zu verschwinden. Wir werden uns zurückziehen – unsere Zukunft sichern –, und zwar mit einem Knall, den sie nie vergessen werden.«
»Wohin?«
»Wo sie uns wie Fürsten behandeln werden.«
»Oh, nicht nach Deutschland!«
»Natürlich nach Deutschland. Welches Land würde uns denn sonst aufnehmen?«
»Wir könnten nach Russland gehen.«
»Russland ist ein Pulverfass, das nur darauf wartet, gezündet zu werden. Ich werde dich ganz sicher nicht vom Regen, möglicherweise entlarvt zu werden, in die Traufe einer Revolution bringen.«
»Oh, Brian.«
»Wir werden leben wie die Könige. Und die Königinnen. Wir werden sehr reich sein und dich mit jemandem aus königlichem Geschlecht verheiraten … Was ist los? Warum weinst du?«
»Ich weine nicht«, sagte sie, während ihre blauen Augen von Tränen überquollen.
»Was ist los?«
»Ich möchte keinen Prinzen heiraten.«
»Wärst du denn mit einem preußischen Adligen mit einer tausend Jahre alten Burg zufrieden?«
»Hör damit auf!«
»Ich habe so einen im Sinn. Er ist attraktiv, bemerkenswert gescheit, wenn man seine Ahnenreihe bedenkt, und dazu noch überraschend einfühlsam. Seine Mutter könnte einem gelegentlich lästig fallen, aber da sind auch noch ein Stall voller Araberpferde und eine wunderschöne Sommerresidenz an der Ostsee, wo eine junge Frau nach Herzenslust segeln kann. Dort könnte sie sogar für den olympischen Segelwettbewerb trainieren … Warum weinst du?«
Katherine Dee legte ihre kräftigen Hände auf den Tisch und sagte mit klarer, gleichmäßiger Stimme. »Ich will dich heiraten.«
»Liebe, liebe Katherine. Das wäre so, als würdest du deinen eigenen Bruder heiraten.«
»Das ist mir egal. Außerdem bist du nicht mein Bruder. Du tust nur so.«
»Ich bin dein Beschützer«, sagte er. »Ich habe geschworen, dass dir niemand je ein Leid zufügen wird.«
»Was denkst du denn, was du im Augenblick tust?«
»Hör auf mit diesem Unsinn, mich heiraten zu wollen. Du weißt, dass ich dich liebe. Aber nicht auf diese Art und Weise.«
Tränen funkelten wie Diamanten zwischen ihren Wimpern.
Er reichte ihr ein Taschentuch. »Trockne deine Augen. Wir haben noch einiges zu tun.«
Sie tupfte die Augen ab, so dass die Tränen von dem schneeweißen Leinen aufgesogen wurden. »Ich dachte, wir wollten verschwinden.«
»Mit einem Knall zu verschwinden macht noch einiges an Arbeit erforderlich.«
»Was soll ich tun?«, fragte sie mürrisch.
»Ich darf diesmal nicht zulassen, dass mir Isaac Bell in die Quere kommt.«
»Warum tötest du ihn nicht?«
O’Shay nickte nachdenklich. Katherine war tödlich, eine perfekt konstruierte und justierte Maschine, die überhaupt nicht durch Gewissensbisse oder Reue beeinträchtigt wurde. Aber jede Maschine hatte ihre physikalischen Grenzen. »Du würdest nur Schaden nehmen. Bell ist mir zu ähnlich, ein Mann, der nicht leicht zu töten ist. Nein, ich will nicht, dass du das Risiko eingehst, das der Versuch, ihn zu töten, bedeuten würde. Aber ich will, dass er abgelenkt wird.«
»Möchtest du, dass ich ihn verführe?«, fragte Katherine. Sie zuckte vor dem wütenden Ausdruck zurück, der O’Shays Gesicht plötzlich zu einer Fratze verzerrte.
»Habe ich jemals von dir verlangt, so etwas zu tun?«
»Nein.«
»Würde ich so etwas jemals von dir verlangen?«
»Nein.«
»Es trifft mich tief, dass du so etwas überhaupt sagen kannst.«
»Es tut mir leid, Brian. Es war dumm von mir.« Sie griff nach seiner Hand. Er zog sie weg, sein normalerweise glattes und kontrolliertes Gesicht war gerötet, die Lippen hatte er zu einer schmalen, harten Linie zusammengepresst, die Augen blickten eisig kalt.
»Brian, ich bin kein kleines Kind.«
»Wie und wo du deine Verführungskünste einsetzt, ist ganz allein deine Sache«, sagte er kühl. »Ich habe dafür gesorgt, dass du über die Mittel und die Eigenschaften verfügst, wie nur privilegierte Frauen sie besitzen. Aber ich will, dass eines ganz klar ist, nämlich dass ich dich niemals auf diese Art und Weise benutzen würde.«
»Welche Art und Weise? Als Verführerin? Oder als in Aussicht gestellte Belohnung?«
»Junge Dame, du fängst an, mich zu ärgern.«
Katherine Dee ignorierte den gefährlichen Unterton in seiner Stimme, da sie wusste, dass er zu vorsichtig war, um seine Wut an den Möbeln im Palm Court auszulassen. »Nenn mich nicht so. Du bist nur zehn Jahre älter als ich.«
»Zwölf. Und meine Jahre zählen sicherlich doppelt, während ich mich bemüht habe, Himmel und Erde zu bewegen, um dir unbeschwerte junge Jahre zu ermöglichen.«
Kellner eilten herbei. Mündel und Beschützer saßen in eisigem Schweigen, bis der Kuchen serviert und der Tee eingeschenkt war.
»Wie möchtest du, dass ich ihn ablenke?« Wenn er in diese Stimmung geriet und diesen Ton anschlug, konnte man nichts anderes tun, als klein beizugeben.
»Die Verlobte ist der Schlüssel.«
»Sie traut mir nicht.«
»Wie meinst du das?«, fragte O’Shay scharf.
»Als ich während des Stapellaufs der Michigan versucht habe, ihr gegenüber ein wenig vertraulicher zu werden, hat sie sich zurückgezogen. Sie spürt etwas bei mir, das ihr Angst macht.«
»Vielleicht hat sie übersinnliche Fähigkeiten«, sagte O’Shay, »und kann deine Gedanken lesen.«
Ein Ausdruck, zutiefst trostlos und wissend zugleich, verwandelte Katherine Dees Gesicht in eine leblose Maske aus antikem Marmor. »Sie liest in meinem Herzen.«