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»Die Hausherrin ist keine Wahrsagerin«, versicherte Eyes O’Shay dem nervösen Kapitän seines Holland-Unterseetorpedobootes.
Hunt Hatch war jedoch nicht beruhigt. »Überall im Haus hängen Schilder, dass Madame Nettie einem die Zukunft voraussagt. Tag und Nacht gehen Kunden ein und aus. Sie haben uns in eine gefährliche Situation gebracht, indem Sie uns hier einquartierten, O’Shay. Das kann ich nicht gutheißen.«
»Die Wahrsagerei ist nur eine Tarnung. Sie sagt niemandem die Zukunft voraus.«
»Und wofür ist es eine Tarnung?«
»Für eine Fälscherwerkstatt.«
»Fälscher? Sind Sie verrückt, Mann?«
»Deren Mitglieder wären in Bayonne die Letzten, die sich bei der Polizei beschweren würden. Deshalb habe ich Sie hier untergebracht. Und die Frau, die Ihr Essen zubereitet, ist aus einem Staatsgefängnis ausgebrochen. Sie wird Sie ebenfalls an niemanden verraten. Außerdem ist Ihr Schiff von den Häusern aus nicht zu sehen. Es wird durch die Schute verdeckt.«
Eine gemähte Rasenfläche erstreckte sich vom Fachwerkhaus der Fälscher am Ende der Lord Street bis zum Kill Van Kull. Der Kill war eine schmale tiefe Wasserstraße zwischen Staten Island und Bayonne. Die Schute war am Ufer vertäut.
Das Holland-U-Boot befand sich unter der Schute. Sein Turm war durch eine Öffnung im Rumpf der Schute zugänglich. Die Entfernung bis zur Upper Bay von New York betrug vier Meilen, und bis zum Brooklyn Navy Yard war es eine Fahrstrecke von fünf Meilen.
Hunt Hatch war noch immer nicht beruhigt. »Selbst wenn die Leute im Haus nicht zur Polizei gehen können, auf dem Kill wimmelt es von Austernfischern. Ich habe sie auf ihren flachen Booten gesehen. Sie kommen bis dicht an die Schute heran.«
»Es sind Männer von Staten Island«, erwiderte O’Shay geduldig. »Sie interessieren sich nicht für Sie. Sie schnüffeln bloß herum, wo sie etwas stehlen können.«
Er deutete auf die Hügel am gegenüberliegenden Ufer der dreihundert Meter breiten Wasserstraße. »Staten Island wurde vor zehn Jahren zu einem Teil New Yorks. Aber die Schiffer von Staten Island haben das offenbar nicht mitbekommen. Das sind die gleichen Kohlepiraten, Schmuggler und Diebe wie eh und je. Ich verspreche Ihnen, die reden auch nicht mit den Cops.«
»Ich finde, wir sollten sofort angreifen und es endlich hinter uns bringen.«
»Wir greifen an«, sagte O’Shay ganz ruhig, »wenn ich es für richtig halte.«
»Ich setze nicht Leben und Freiheit aufs Spiel, um wegen einer Ihrer verrückten Marotten erwischt zu werden. Ich bin der Kapitän des Schiffes, und ich sage, dass wir jetzt angreifen, ehe jemand darüber stolpert, wo wir das verdammte Ding versteckt haben.«
O’Shay trat auf ihn zu. Er hob eine Hand, als wolle er den Kapitän schlagen. Hatch hielt schnell beide Hände hoch. Eine, um den erwarteten Schlag abzuwehren, die andere jedoch, um ihn sofort zu kontern. Dadurch war sein Bauch ungedeckt. Mittlerweile hatte O’Shay mit der anderen Hand ein Butterflymesser aufgeklappt. Er rammte es Hatch unterhalb des Brustbeins bis zum Heft in den Leib, drückte die rasiermesserscharfe Klinge mit aller Kraft nach unten und machte jedoch einen schnellen Schritt rückwärts, ehe die herausquellenden Eingeweide seine Kleidung mit Blut besudeln konnten.
Der Kapitän presste die Hände auf die grässliche Wunde und ächzte entsetzt. Seine Knie gaben nach. Er sackte auf den Teppich. »Aber wer wird jetzt die Holland lenken?«, flüsterte er.
»Ich habe soeben Ihren ersten Offizier zum Kapitän befördert.«
»Das ist der neueste Kirchenbau, den ich je betreten habe«, sagte Isaac Bell zu Pfarrer Jack Mulrooney.
Die Church of St. Michael’s roch nach frischer Farbe, Schellack und Zement. Die Fenster glänzten, und die Steine waren neu und noch nicht von Ruß beschmutzt.
»Wir sind gerade erst eingezogen«, sagte Pfarrer Mulrooney. »Die Gemeindemitglieder kneifen sich immer wieder selbst, weil sie es einfach nicht glauben wollen. Die einzige Möglichkeit, uns aus der 31st Street zu vertreiben, um den Sackbahnhof zu bauen, ohne den Zorn Gottes – ganz zu schweigen von Tammany Hall und Seiner Eminenz dem Kardinal – auf ihre Schultern zu laden, bestand für die Pennsylvania Railroad Company darin, uns eine nagelneue Kirche mitsamt Pfarrhaus, Nonnenkloster und Schule zu bauen.«
Bell stellte sich vor. »Ich bin Privatdetektiv, Hochwürden, und arbeite für die Van Dorn Agency. Ich würde Ihnen gerne einige Fragen über Personen stellen, die früher in Ihrer Pfarrei gelebt haben.«
»Wenn Sie sich unterhalten wollen, müssen wir das aber tun, während wir gehen. Ich habe meinen Rundgang zu machen, und Sie werden sehen, dass unsere Schäfchen an Orten leben, die bei weitem nicht so schön sind wie diese neue Kirche. Kommen Sie.« Er setzte sich mit Schritten in Bewegung, die für einen Mann seines Alters erstaunlich energisch waren, bog um eine Ecke und gelangte in eine Gegend, die meilenweit von seiner neuen Kirche entfernt schien.
»Sind Sie schon lange hier, Hochwürden?«
»Seit den Draft Riots.«
»Die liegen doch fünfundvierzig Jahre zurück.«
»Einiges hat sich in diesem Viertel verändert, das meiste nicht. Wir sind immer noch arm.«
Der Priester betrat ein Mietshaus mit einem kunstvoll gestalteten Steinportal und stieg eine wacklige Treppe hinauf. Im dritten Stock atmete er hörbar mühsamer. Im sechsten Stock blieb er für einen Moment stehen, um mehrmals Luft zu holen, und als sein Schnaufen etwas nachgelassen hatte, klopfte er an eine Tür und rief: »Guten Morgen! Hier ist Pfarrer Jack!«
Ein Mädchen mit einem Säugling auf dem Arm öffnete. »Danke, dass Sie kommen, Hochwürden.«
»Wie geht es deiner Mutter?«
»Nicht gut, Hochwürden, überhaupt nicht gut.«
Der Priester ließ Bell im vorderen Raum stehen und verschwand in einem Zimmer. Ein einziges Fenster, das auf einen düsteren Hinterhof hinausging, auf dem kreuz und quer Wäscheleinen gespannt waren, ließ den Gestank einer Außentoilette, die sich sechs Stockwerke tiefer befand, herein. Bell faltete einige Dollarscheine zusammen und drückte sie dem Mädchen in die Hand, als sie die Wohnung wieder verließen.
Am Fuß der Treppe musste Jack Mulrooney wieder eine Pause einlegen, um zu Atem zu kommen. »Über wen wollen Sie etwas wissen?«
»Brian O’Shay und Billy Collins.«
»Brian ist schon lange nicht mehr hier.«
»Fünfzehn Jahre, wie ich hörte.«
»Wenn Gott diesem Viertel jemals etwas Gutes getan hat, dann an dem Tag, als O’Shay verschwand. Ich sage so etwas nicht so schnell. Aber Brian O’Shay war die rechte Hand des Satans.«
»Ich habe gehört, er sei wieder zurückgekehrt.«
»Solche Gerüchte gibt es«, sagte der Priester düster und geleitete Bell zurück auf die Straße.
»Ich habe Billy Collins gestern Abend getroffen.«
Jack Mulrooney blieb abrupt stehen und sah den hochgewachsenen Detektiv voller Respekt an. »Tatsächlich? Unten in dem Loch?«
»Sie wissen, dass er dort haust?«
»Billy ist – wie sagt man? – ganz unten angelangt. Wo sollte er sonst hingehen?«
»Wer ist sein kleines Mädchen?«
»Sein kleines Mädchen?«
»Er hat immer wieder von seinem kleinen Mädchen gesprochen. Aber er hat gleichzeitig geschworen, dass er keine Kinder habe.«
»Das ist eine sehr zweifelhafte Behauptung, wenn man bedenkt, wie er in seiner Jugend gelebt hat. In jenen Jahren geschah es selten, dass ich einen rothaarigen Säugling taufte und mich nicht gefragt habe, ob Billy nicht sein Vater war.«
»Ich habe mich gefragt, ob er rotes Haar hat. Im trüben Licht wirkte es eher grau.«
»Ich nehme schon an«, fügte Jack Mulrooney mit dem Anflug eines Lächelns hinzu, »dass Billy auf gewisse Art und Weise die Wahrheit sagt, wenn er meint, dass er nicht weiß, dass er Kinder hat. Es wäre von einem Mädchen auch ungewöhnlich mutig gewesen, ihn als Vater ihres Kindes zu benennen. Trotzdem verstehe ich, was er meint. Nachdem er seit seinem zwölften Lebensjahr herumgehurt und getrunken hat, woran sollte er sich denn noch erinnern können?«
»Er beharrte darauf, dass er keine Kinder habe.«
»Dann müsste das kleine Mädchen seine Schwester sein.«
»Natürlich. Er trauert um sie.«
»Das kann ich mir vorstellen.«
»Was ist mit ihr geschehen?«, fragte Bell.
»Warten Sie hier«, sagte der Priester. »Es dauert nur einen Moment.« Er betrat das Gebäude und kam wenig später wieder heraus. Während sie weitergingen, sagte Jack Mulrooney: »In dieser Gemeinde gibt es sehr böse Männer, die davon leben, dass sie arme, ahnungslose Menschen bestehlen. Sie stehlen ihr Geld, und wenn sie kein Geld haben, dann stehlen sie ihnen ihre Drinks. Wenn sie aber nichts zu trinken haben, dann stehlen sie ihre Kinder. Was immer die Bösen verkaufen oder selbst verwenden können. Das Kind wurde entführt.«
»Billys Schwester?«
»Von der Straße aufgelesen – keine fünf Jahre alt – und nie wieder gesehen. Natürlich kreist sie durch sein Gehirn, wenn er sich das Morphium spritzt. Wo war er, als sie entführt wurde? Wo war er überhaupt, wenn das arme Kind ihn brauchte? Jetzt blickt er zurück und liebt die Vorstellung von diesem kleinen Kind. Liebt sie mehr, als er das Kind selbst geliebt hat.«
Der alte Priester schüttelte mit einem Ausdruck des Zorns und des Abscheus den Kopf: »Wenn ich an die Tage denke, die ich für dieses Kind … und all die anderen Kinder, die das gleiche Schicksal hatten, gebetet habe.«
Bell wartete ab, weil er spürte, dass der alte Mann von einer inneren Heiterkeit und Zuversicht gelenkt wurde, die sicherlich schon bald wieder durchbräche. Und so geschah es auch nach einer Weile. Seine Miene hellte sich auf.
»Tatsächlich war es Brian O’Shay, der sich um das kleine Mädchen kümmerte.«
»Eyes O’Shay?«
»Er sorgte für die Kleine, wenn Billy und seine völlig haltlosen Eltern betrunken waren.« Jack Mulrooney senkte die Stimme. »Es wird erzählt, dass O’Shay ihren Vater wegen der Verbrechen an diesem Kind, die nur einem Teufel einfallen können, erschlug. Sie war das einzige menschliche Wesen, das Brian O’Shay jemals geliebt hat. Es war ein Segen, dass er niemals erfuhr, was mit ihr geschehen ist.«
»Könnte Brian O’Shay sie entführt haben?«
»Niemals im Leben! Selbst wenn er nicht schon längst in der Hölle schmorte!«
»Aber wenn er nun gar nicht getötet worden wäre, als er verschwand? Wenn er zurückkam? Könnte er sie nicht doch entführt haben?«
»Er würde ihr niemals ein Leid zufügen«, sagte der Priester.
»Böse Menschen tun böse Dinge, Hochwürden. Sie haben selbst gesagt, wie schlecht er war.«
»Selbst der böseste Mensch hat einen göttlichen Funken in sich.« Der Priester ergriff Bells Arm. »Wenn Sie sich das merken und nicht vergessen, werden Sie ein besserer Detektiv sein. Und auch ein besserer Mensch. Dieses kleine Kind war Brian O’Shays göttlicher Funken.«
»War ihr Name Katherine?«
Jack Mulrooney musterte ihn neugierig. »Wie kommen Sie darauf?«
»Ich weiß es nicht. Aber ich frage Sie, hieß sie so?«
Mulrooney setzte zu einer Antwort an. Auf dem Dach eines Mietshauses fiel ein Pistolenschuss. Der Priester machte einen taumelnden Schritt und stürzte aufs Pflaster. Eine zweite Kugel durchbohrte die Luft dort, wo Bell eben noch gestanden hatte. Er rollte sich bereits über den Gehsteig, zückte die Browning, richtete sich auf den Knien auf und hob die Waffe, um zu feuern.
Aber alles, was er sehen konnte, waren Frauen und Kinder, die aus den Fenstern ihrer Wohnungen schauten und darüber wehklagten, dass ihr Priester ermordet worden war.
»Ich brauche sofort eine direkte Telefonverbindung mit dem Chef des Büros in Baltimore!«, brüllte Isaac Bell, als er in die Van-Dorn-Zentrale stürmte. »Sagen Sie ihm, er soll seine Katherine-Dee-Akte hervorholen.«
Es dauerte eine Stunde, bis Baltimore zurückrief. »Bell? Entschuldigen Sie, dass ich so lange gebraucht habe. Hier regnet es mal wieder in Strömen, und die halbe Stadt ist überschwemmt. Sie werden auch noch etwas davon mitkriegen. Das Unwetter wandert mit dem Nordostwind in Ihre Richtung.«
»Ich will genau wissen, wer Katherine Dee ist, und ich will es jetzt wissen.«
»Nun, wie wir schon berichtet hatten, kehrte ihr Vater mit einer Menge Geld, das er mit dem Bau von Schulen für die Diözese verdient hatte, nach Irland zurück und nahm sie mit.«
»Das weiß ich bereits. Und als er starb, besuchte sie eine Klosterschule in der Schweiz. Welche Schule?«
»Ich gehe das Ganze gerade noch einmal durch. Die Akte liegt hier vor mir. Die Jungs haben sie auf den neuesten Stand gebracht, seit wir den letzten Bericht nach New York geschickt haben … dieses Hin und Her zwischen hier und Dublin dauert immer so lange … Mal sehen … nicht zu glauben. Nein, nein, nein, das kann doch nicht sein!«
»Was?«
»Irgendein Dummkopf hat einiges durcheinandergebracht. Hier steht, die Tochter sei gestorben. Das kann aber gar nicht sein. Wir haben Aufzeichnungen über sie in der Schule gefunden. Mr Bell, ich muss das erst klären. Ich melde mich.«
»Aber umgehend«, sagte Bell und legte auf.
Archie kam herein, das Gesicht immer noch rot von der Indianerschminke. »Du siehst ja aus wie der wandelnde Tod, Isaac.«
»Wo ist Marion?«
»Oben.« Bell hatte für die Zeit, die sie sich in New York aufhielt, eine Suite für sie gemietet. »Der Regen hat unseren Drehplan schon wieder gekippt. Bist du okay? Was ist passiert?«
»Ein Priester wurde vor meinen Augen erschossen. Weil er sich mit mir unterhielt.«
»Der Spion?«
»Wer sonst? Der Block ist von einer ganzen Armee Polizisten abgesucht worden, aber er konnte sich aus dem Staub machen.«
Ein Lehrling näherte sich zaghaft den beiden finster dreinschauenden Detektiven. »Ein Bote hat dies hier am Empfang abgegeben, Mr Bell.«
Bell riss den Umschlag auf. Auf einem Bogen Briefpapier des Waldorf Astoria hatte Erhard Riker geschrieben:
ICH HAB’S GEFUNDEN!
ABSOLUTE
PERFEKTION FÜR
DIE PERFEKTE
BRAUT!
Ich erwarte Sie mit einem einzigartigen Smaragd gegen fünfzehn Uhr in Solomon Barlowes Juweliergeschäft, falls diese Nachricht Sie in New York erreicht.
Beste Grüße,
Erhard Riker