10

Isaac Bell entdeckte John Scullys rotes Taschentuch an einer Hecke. Es war an einem Zweig befestigt. Bell bog mit dem Locomobile auf die schmale Straße ab, auf die das Zeichen hinwies, nahm zum ersten Mal, seit er Weehawken verlassen hatte, den Fuß vom Gaspedal und schloss die Auspuffklappe, so dass das laute Röhren und Knattern zu einem leisen Brummen herabsank.

Er lenkte den Wagen einen steilen Hügel hinauf und fuhr etwa eine Meile weit durch brachliegende Äcker, die auf die Frühjahrssaat warteten. Einfallsreich wie immer hatte Scully mit einem Milchkannenlaster genau die Art von Fahrzeug aufgetrieben, das auf einer Landstraße in New Jersey keinen Verdacht erregen würde. Bell setzte sich dicht daneben, so dass der Locomobile von der Hauptstraße aus nicht zu sehen war. Dann hievte er die Golftasche vom Beifahrersitz und schleppte sie auf die Hügelkuppe, wo der Van-Dorn-Detektiv auf dem Bauch im braunen Gras lag.

Der wortkarge Einzelgänger war ein eher kleiner rundlicher Mann mit einem Mondgesicht, der ebenso gut als frommer Prediger oder Ladenbesitzer wie auch als Safeknacker oder Mörder durchgegangen wäre. An die dreißig Pfund Speck auf den Rippen verbargen steinharte, zähe Muskeln, und sein fast schüchtern zu nennendes Lächeln kaschierte einen wachen Geist, der schneller funktionierte als eine Bärenfalle. Er hatte ein Fernglas auf ein Haus am Fuß des Hügels gerichtet. Rauch stieg aus dem Küchenkamin auf. Ein großer Marmon-Tourenwagen, über und über mit Schlamm bespritzt, parkte draußen.

»Was ist in der Tasche?«, begrüßte Scully seinen Kollegen.

»Zwei Fünfer-Eisen«, erwiderte Bell grinsend und holte ein Paar Kaliber .12 Browning-Auto-5-Schrotflinten heraus. »Wie viele sind im Haus?«

»Alle drei.«

»Wohnt dort jemand?«

»Kein Rauch, ehe sie raufkamen.«

Bell nahm mit einem zufriedenen Kopfnicken zur Kenntnis, dass somit keine Unbeteiligten ins Kreuzfeuer geraten würden. Scully reichte ihm das Fernglas. Er studierte das Haus und das Automobil. »Ist das der Marmon, den sie in Ohio gestohlen haben?«

»Könnte auch ein anderer sein. Sie haben eine Vorliebe für Marmons.«

»Wie sind Sie ihnen auf die Spur gekommen?«

»Bin Ihrem Tipp zum ersten Überfall nachgegangen. Ihr richtiger Name lautet Williard, und wenn Sie und ich nur halb so clever wären, wie wir glauben, hätten wir schon vor einem Monat darauf kommen müssen.«

»Dem kann ich nicht widersprechen«, gab Bell zu. »Warum fangen wir nicht damit an, zuerst mal ihren Wagen stillzulegen?«

»Den treffen wir mit diesen Flinten von hier aus doch niemals.«

Bell griff abermals in seine Golftasche und zog ein altmodisches Kaliber .50 Sharps-Büffelgewehr heraus. John Scullys Augen glänzten wie Stahlkugeln. »Wo haben Sie denn diese Kanone her?«

»Der Hausdetektiv im Knickerbocker hat sie einem Cowboy der Pawnee Bill Wildwest Show abgenommen, als der besoffen vom Times Square ins Hotel kam.« Bell öffnete die Kammer, schob eine Schwarzpulverpatrone hinein und zielte mit der schweren Flinte auf den Marmon.

»Setzen Sie nicht gleich den ganzen Schlitten in Brand«, warnte Scully. »Er ist mit der gesamten Beute beladen.«

»Ich sorge nur dafür, dass er sich nicht mehr in Gang setzen lässt.«

»Moment mal, wer kommt denn da?«

Ein Sechszylinder Ford K fuhr schwankend die Straße entlang, die zum Farmhaus führte. Auf dem Kühler war ein Suchscheinwerfer montiert.

»Ich glaub es nicht«, sagte Scully. »Das ist Schwager Sheriff.«

Zwei Männer mit Sheriffsternen an den Mänteln stiegen mit Körben in der Hand aus dem Ford. Scully studierte sie durch das Fernglas. »Sie bringen das Abendessen. Damit sind sie schon zu fünft.«

»Ist auf dem Milchwagen genug Platz?«

»Wenn wir sie ganz dicht stapeln.«

»Was halten Sie davon, wenn wir ihnen genug Zeit lassen, mit dem Essen anzufangen, damit sie dann abgelenkt sind?«

»Ein guter Plan«, sagte Scully und behielt das Haus im Auge.

Bell beobachtete die Straße, die zum Haus führte, drehte sich wiederholt um und vergewisserte sich, dass keine weiteren Verwandten die Nebenstraße heraufkamen, die er benutzt hatte.

Er fragte sich gerade, woher Dorothy Langner das Geld gehabt hatte, um ihrem Vater ein Klavier zu kaufen, als ihm einfiel, dass sie es ihm erst vor kurzem geschenkt hatte.

Scully wurde ungewöhnlich mitteilsam. »Was meinen Sie, Isaac«, sagte er und deutete auf das Farmhaus und die beiden Automobile, »wäre es für Situationen wie diese nicht nett, wenn jemand ein Maschinengewehr erfinden würde, das leicht genug ist, um es überallhin mitzunehmen?«

»Sie meinen ein Mini-Maschinengewehr?«

»Genau. Eine Maschinenpistole sozusagen. Die Frage ist nur, wie soll man die Wassermenge mitschleppen, die nötig ist, um den Lauf zu kühlen?«

»Das brauchte man gar nicht, wenn diese Waffe Pistolenmunition verschießt.«

Scully nickte nachdenklich. »Mit einem Trommelmagazin wäre die Waffe sogar ziemlich kompakt.«

»Sollen wir mit der Vorstellung anfangen?«, fragte Bell und brachte das Sharps-Gewehr in Position. Beide Detektive konzentrierten sich auf den Wald in der Nähe des Hauses, in den die Frye Boys flüchten würden, sobald Bell ihre Wagen zerstört hätte.

»Warten Sie, bis ich sie von der Seite im Visier habe«, sagte Scully. Er setzte seine Worte sofort in die Tat um und watschelte den Hügel hinab, wobei er, wie Bell fand, wie ein Maurer auf dem Weg zur Arbeit aussah. Scully winkte ihm schließlich zu, als er seinen Posten bezogen hatte.

Bell stützte die Ellbogen auf den höchsten Punkt des Hügels, spannte den Hahn und zielte mit dem Sharps auf die Motorhaube des Marmon. Er betätigte den Abzug in einer ruhigen, fließenden Bewegung. Das schwere Projektil versetzte den Marmon ins Schaukeln. Der Knall des Gewehrs hallte wie Geschützdonner, und eine Wolke schwarzen Qualms wallte aus der Gewehrmündung und trieb hangabwärts. Bell lud nach und feuerte erneut. Abermals wurde der Marmon durchgeschüttelt, ein Vorderreifen verlor zischend die Luft. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit dem Streifenwagen zu.

Polizisten rannten mit weit aufgerissenen Augen aus dem Haus und fuchtelten mit ihren Pistolen herum. Die Bankräuber blieben drinnen. Gewehrläufe schoben sich aus dem Fenster. Eine Salve Winchesterfeuer durchsiebte die Schwarzpulverwolke, die aus Isaac Bells Sharps gekommen war.

Bell ignorierte die Bleigeschosse, die an seinem Kopf vorbeipfiffen, lud konzentriert und in aller Ruhe das einschüssige Sharps-Gewehr nach und schoss auf die Motorhaube des Ford. Dampf drang zischend aus dem heißen Kühler. Jetzt konnte sich ihr Jagdwild nur noch zu Fuß weiterbewegen.

Alle drei Bankräuber stürmten aus dem Haus und schossen mit ihren Gewehren wie wild um sich.

Bell lud und feuerte, lud und feuerte. Eine lange Flinte wirbelte durch die Luft, und der Mann, dem sie gehörte, taumelte und umklammerte seinen Arm. Ein anderer machte kehrt und rannte auf den Wald zu. Eine schnelle Schussfolge aus Scullys Kaliber .12 Browning bewirkte jedoch, dass er es sich anders überlegte. Er stoppte abrupt, schaute sich gehetzt um, schleuderte seine Waffe zu Boden und streckte die Hände in die Luft. Die Polizisten, die nach ihren Pistolen griffen, erstarrten mitten in der Bewegung. Bell erhob sich und zielte mit dem Sharps durch den schwarzen Qualm. Scully kam aus dem Wald herausgeschlendert und hielt seine Schrotflinte im Anschlag.

»Mein Schätzchen ist eine Kaliber .12 Autoload«, meinte Scully im lässigen Konversationstonfall. »Der Kollege oben auf dem Hügel hat ein Sharps. Es wird also Zeit, dass ihr vernünftig werdet.«

Die Polizisten ließen ihre Pistolen fallen. Der dritte Frye Boy pumpte eine frische Patrone in die Kammer seiner Winchester und zielte. Bell hatte ihn sofort im Visier, aber Scully feuerte zuerst, zog den Lauf seiner Schrotflinte ein wenig höher, um die Schussweite zu erhöhen. Die Schrotkugeln wurden bei dieser Distanz breit gestreut. Die meisten pfiffen an dem Bankräuber vorbei. Zwei jedoch nicht, sie durchlöcherten seine Schulter.

Keiner der angeschossenen Männer war tödlich verwundet. Bell vergewisserte sich, dass sie nicht verbluten würden, fesselte sie ebenso wie die anderen mit Handschellen und verfrachtete sie in den Milchwagen. Dann fuhren sie den Berg hinab, wobei Scully den Lastwagen lenkte und Bell ihm in seinem Locomobile folgte. Als sie den Cranbury Turnpike erreichten, tauchten Mike und Eddie, die Van-Dorn-Agenten, die abkommandiert worden waren, um Scully zu helfen, in einem Oldsmobile auf, und die Karawane nahm Kurs auf Trenton, um die Bankräuber und die korrupten Cops dem Staatsanwalt zu übergeben.

Zwei Stunden später, kurz vor Trenton, entdeckte Bell ein Straßenschild, das sein fotografisches Gedächtnis weckte. Das Schild war eine Ansammlung von Orts- und Straßennamen, mit schwarzen Lettern auf weißen Richtungspfeilen, die nach Süden wiesen: Hamilton Turnpike, Bordentown Road, Burlington Pike und Westfield Turnpike nach Camden.

Arthur Langner hatte auf einem Wandkalender Termine und Verabredungen eingetragen. Zwei Tage vor seinem Tod war er mit Alasdair MacDonald zusammengetroffen, dem Spezialisten für Turbinenantriebe, der vom Steam Engine Bureau der Navy unter Vertrag genommen worden war. MacDonalds Fabrik stand in Camden.

Ihr Vater habe seine Kanonen geliebt, hatte Dorothy Langner mit Nachdruck erklärt. Ebenso wie Farley Kent seine Schiffsrümpfe liebte. Und Alasdair MacDonald seine Turbinen. Als Hexenmeister hatte sie MacDonald bezeichnet und damit ausdrücken wollen, dass er ihrem Vater ebenbürtig war. Bell fragte sich, was die beiden Männer wohl sonst noch gemeinsam hatten.

Er betätigte die Hupe des Locomobile. Oldsmobil und Milchwagen bremsten in einer Staubwolke. »In Camden gibt es jemanden, den ich mal besuchen sollte«, setzte Bell Scully ins Bild.

»Brauchen Sie Hilfe?«

»Klar! Könnten Sie, sobald Sie diese Bande abgeliefert haben, umgehend den Brooklyn Navy Yard aufsuchen? Im dortigen Konstruktionsbüro arbeitet ein Schiffbauingenieur namens Farley Kent. Schauen Sie nach, ob er wohlauf ist.«

Dann lenkte Bell den Locomobile nach Süden.

»ON CAMDEN SUPPLIES, THE WORLD RELIES«

wurde Isaac Bell von einer Reklametafel begrüßt, als er die Industriestadt erreichte, die gegenüber von Philadelphia am Ostufer des Delaware River lag. Er fuhr an Fabriken vorbei, in denen von Zigarren über Arzneimittel bis hin zu Linoleum, Tongeschirr und Dosensuppen so gut wie alles hergestellt wurde. Aber es war die Schiffswerft, die die größte Fläche einnahm. Die New York Shipbuilding Company säumte den Delaware River und den Newton Creek mit modernen überdachten Hellingen und gigantischen Kränen, die in den dunstigen Himmel ragten. Ihren kuriosen Namen verdankte die Werft der Tatsache, dass ihr Inhaber, Henry G. Morse, sie ursprünglich auf Staten Island hatte ansiedeln wollen, sich aber dann aus verschiedenen Gründen für Camden entschieden hatte. Auf der anderen Seite des Flusses breiteten sich Cramp Ship Builders und der Philadelphia Navy Yard aus.

Der Abend brach bereits herein, ehe Bell die MacDonald Marine Steam Turbine Company ein gutes Stück vom Flussufer entfernt in einer Ansammlung kleinerer Fabriken fand, die die Werft mit verschiedenen hochwertigen Schiffsbauelementen belieferten. Er parkte den Locomobile vor dem Fabriktor und fragte nach Alasdair MacDonald. MacDonald war nicht im Haus. Ein freundlicher Büroangestellter sagte: »Sie finden den Professor unten in Gloucester City, nur ein paar Blocks von hier.«

»Weshalb nennen Sie ihn Professor?«

»Weil er so gescheit ist. Er war Lehrling beim Erfinder der Schiffsturbine, Charles Parsons, der den Hochgeschwindigkeitsantrieb für Schiffe revolutioniert hat. Als der Professor schließlich nach Amerika auswanderte, wusste er mehr über Turbinen als sein Lehrmeister.«

»Wo in Gloucester City finde ich ihn?«

»In Del Rossi’s Dance Hall – allerdings ist er nicht zum Tanzen dort. Es ist eher ein Saloon als eine Tanzhalle, wenn Sie wissen, was ich meine.«

»Ich habe im Westen schon ausreichend ähnliche Etablissements besucht«, sagte Bell trocken.

»Fahren Sie zur King Street. Sie können es nicht verfehlen.«

Gloucester City lag flussabwärts, nicht weit von Camden entfernt, so dass die beiden Städte nahtlos ineinander übergingen. Die King Street befand sich ziemlich nahe am Wasser. Saloons, schmuddelige Garküchen und Stundenhotels boten den Werft- und Hafenarbeitern jede gewünschte Zerstreuung. Das Del Rossi’s war mit seiner falschen Fassade, die dem Proszeniumsbogen eines Broadwaytheaters nachempfunden worden war, wirklich nicht zu übersehen, wie MacDonalds Buchhalter prophezeit hatte.

Im Innern ging es wie in einem Tollhaus zu: mit dem lautesten Piano, das Bell je gehört hatte, mit hysterisch lachenden und kreischenden Frauen, schwitzenden Barkeepern, die Flaschenhälse abschlugen, um schneller einschenken zu können, erschöpften Rausschmeißern und dicht gedrängten Matrosen und Werftarbeitern – insgesamt mindestens fünfhundert Männer –, die offenbar miteinander um die Wette tranken. Bell ließ den Blick über ein Meer geröteter Gesichter unter dichten Wolken von blauem Tabaksrauch schweifen. Die einzigen Gäste des Saloons, die sich nicht in Hemdsärmeln befanden, waren er selbst in seinem weißen Anzug, ein gepflegt aussehender Gentleman mit silbergrauem Haar in einem roten Frack, in dem er den Inhaber vermutete, und ein Trio stutzerhaft herausgeputzter Gangster, mit braunen Hüten, lila Oberhemden, hellbeigen Jacketts und gestreiften Krawatten. Ihre Schuhe konnte Bell nicht sehen, doch er vermutete, dass sie gelb waren.

Er drängte sich zwischen breiten Schultern hindurch zum Frackträger.

»Mr Del Rossi!«, rief er über den Lärm und streckte eine Hand aus.

»Guten Abend, Sir. Nennen Sie mich Angelo.«

»Isaac.«

Sie tauschten einen Händedruck. Del Rossis Hand war weich, aber die Narben längst verheilter Blessuren, die von der Werftarbeit in seiner Jugend herrührten, waren nicht zu übersehen.

»Viel Betrieb heute Abend.«

»Gott segne unsere ›Neue Navy‹. So wie heute ist es jeden Abend. New York Ship lässt im nächsten Monat die Michigan vom Stapel laufen und hat soeben einen neuen achtundzwanzig Knoten schnellen Zerstörer auf Kiel gelegt. Auf der anderen Seite des Flusses baut die Philadelphia Navy Yard ein neues Trockendock, bei Cramp läuft im nächsten Sommer die South Carolina vom Stapel, und dann haben sie soeben einen Vertrag über sechs 700-Tonnen-Zerstörer abgeschlossen – Sie haben richtig gehört: sechs. Was kann ich für Sie tun, Sir?«

»Ich suche einen gewissen Alasdair MacDonald.«

Del Rossi runzelte die Stirn. »Den Professor? Folgen Sie nur dem Geräusch klatschender Fäuste und brechender Kinnladen«, antwortete er und deutete gleichzeitig mit einem Kopfnicken zum Ende des Gastraums.

»Dann entschuldigen Sie mich. Ich sollte wohl lieber rübergehen, ehe ihn jemand auf die Bretter legt.«

»Das ist eher unwahrscheinlich«, wiegelte Del Rossi ab. »Er war Schwergewichtschampion bei der Royal Navy.«

Bell taxierte MacDonald, während er sich seinen Weg durch das Gedränge suchte, und schloss den imposanten Schotten sofort ins Herz. Dem Aussehen nach war er um die vierzig, hochgewachsen, von freundlichem Wesen und mit eindrucksvollen Muskelpaketen ausgestattet, die sich unter seinem nass geschwitzten Hemd deutlich abzeichneten. Er hatte mehrere Boxnarben über den Augen – aber nicht eine einzige in seinem restlichen Gesicht, wie Bell gleichzeitig feststellte – und mächtige Hände mit breit gespreizten Knöcheln. In einer Hand hielt er ein Glas, in der anderen eine Whiskeyflasche, und während sich Bell ihm näherte, füllte er das Glas und stellte die Flasche hinter sich auf die Bar, wobei er die Schar der Gäste vor sich stets im Auge behielt. Plötzlich teilte sich die Menge, und ein gut dreihundert Pfund schwerer Schläger schob sich auf MacDonald zu. In seinen Augen funkelte die nackte Mordgier.

MacDonald verfolgte seinen Weg mit einem amüsierten Grinsen, als hätten sie beide sich zu einem gemeinsamen Scherz verabredet. Er trank einen kräftigen Schluck aus seinem Glas und schloss dann, ohne es auch nur ein bisschen eilig zu haben, seine leere Hand zu einer riesigen Faust und schlug damit so schnell zu, dass Bell kaum mit den Augen folgen konnte.

Der Schläger brach auf dem mit Sägemehl bestreuten Fußboden zusammen. MacDonald blickte mit freundlicher Miene auf ihn hinab. Er hatte einen nicht zu überhörenden schottischen Akzent. »Jake, mein Freund, du bist wirklich ein ganz feiner Kerl, solange dir der Fusel nicht in den Kopf steigt.« Dann fragte er in die Runde: »Ist jemand so nett und bringt Jake nach Hause?«

Jakes Freunde schleppten ihn hinaus. Bell stellte sich Alasdair MacDonald vor, der, wie er vermutete, erheblich betrunkener war, als er aussah.

»Kenne ich Sie, Freundchen?«

»Isaac Bell«, wiederholte der Detektiv. »Dorothy Langner erzählte mir, Sie wären ein sehr guter Freund ihres Vaters gewesen.«

»Das war ich. Der arme Artie. Ein Jammer, dass es den Gunner erwischen musste. Er war einer der Letzten vom alten Schlag. Trinken Sie einen mit!«

Er rief nach einem leeren Glas, schenkte es bis zum Rand voll und reichte es Bell mit einem schottischen Prosit. »Slanj.«

»Slanj-uh va«, sagte Bell und kippte den feurigen Alkohol in einem Zug hinunter, ebenso schnell wie MacDonald.

»Wie wird die Kleine damit fertig?«

»Dorothy klammert sich an die Hoffnung, dass ihr Vater weder Selbstmord begangen hat noch sich hat bestechen lassen.«

»Zu dem Selbstmord kann ich nicht viel sagen – wer kann einem Menschen auf den Grund seiner Seele blicken? Aber eins weiß ich mit Sicherheit: Der Gunner hätte eher seine Hand in eine Stanzpresse gesteckt, als sie aufzuhalten, um Schmiergeld anzunehmen.«

»Haben Sie eng zusammengearbeitet?«

»Sagen wir mal so, wir haben einander respektiert.«

»Ich nehme an, Sie verfolgten die gleichen Ziele.«

»Wir beide lieben Dreadnoughts, wenn Sie das meinen. Ganz gleich, ob man es liebt oder hasst, das Dreadnought-Schlachtschiff ist das Wunder unserer Zeit.«

Bell bemerkte, dass MacDonald, mochte er betrunken sein oder nicht, seiner Frage geschickt auswich. Er machte einen Rückzieher, indem er meinte: »Ich kann mir vorstellen, dass Sie die Fortschritte der Großen Weißen Flotte mit gespanntem Interesse verfolgen.«

Alasdair schnaubte abfällig. »Die Vormacht auf See hängt von Bewaffnung, Panzerung und Geschwindigkeit ab. Man muss weiter schießen können als der Feind, mehr Treffer aushalten und schneller kreuzen können. Daran gemessen ist die Große Weiße Flotte hoffnungslos veraltet.«

Er schenkte mehr Whiskey in Bells Glas und füllte sein eigenes auf. »Englands HMS Dreadnought und die deutschen Dreadnought-Kopien haben eine größere Schussweite, eine stärkere Panzerung und erreichen eine unglaubliche Geschwindigkeit. Unsere ›Flotte‹, die im Grunde nichts anderes ist als das alte Atlantik-Geschwader im aufpolierten Zustand, besteht aus ein paar Vor-Dreadnought-Schlachtschiffen.«

»Wo liegt der Unterschied?«

»Ein Vor-Dreadnought-Schlachtschiff ist wie ein Mittelgewichtler, der das Boxen auf dem College gelernt hat. Er hat in einem Profi-Ring als Gegner von Schwergewichtschampion Jack Johnson nichts zu melden.« MacDonald grinste Bell, der um mindestens vierzig Pfund leichter war, herausfordernd an.

»Es sei denn, er hat auf der West Side von Chicago studiert«, erwiderte Bell die Herausforderung.

»Und hat sich paar Pfund zusätzlicher Muskeln antrainiert«, räumte MacDonald anerkennend ein.

Obgleich es eigentlich unmöglich war, wurde das Piano plötzlich lauter. Jemand schlug auf eine Trommel. Die Gästeschar machte Platz für Angelo Del Rossi, der auf die niedrige Bühne gegenüber der Bar kletterte. Aus seinem Frack holte er einen Dirigentenstab.

Kellner und Rausschmeißer legten Serviertabletts und Totschläger beiseite und griffen dafür zu Banjos, Gitarren und Ziehharmonikas. Serviererinnen sprang auf die Bühne, legten ihre Schürzen ab und standen plötzlich in Röckchen da, die so kurz waren, dass die Polizei in einer Stadt mit mehr als einer Kirche sofort das Lokal geschlossen hätte. Del Rossi hob den Taktstock. Die Musiker stimmten George M. Cohans »Come On Down« an, und die Ladys führten eine, wie Bell fand, hervorragende Imitation des Pariser Cancans auf.

»Was wollten Sie sagen?«, rief Bell.

»Wollte ich das?«

»Über die Dreadnoughts, die Sie und der Gunner …«

»Nehmen Sie die Michigan. Wenn sie in Dienst gestellt wird, wird unser neuestes Schlachtschiff die beste Geschützanordnung der Welt haben – alle großkalibrigen Geschütze auf übereinanderliegenden Türmen. Aber eine papierdünne Panzerung und klapprige Kolbenmotoren verdammen sie zu einem Dasein bestenfalls als Semi-Dreadnought – ein ideales Ziel für Schießübungen englischer und deutscher Dreadnoughts.«

MacDonald leerte sein Glas.

»Umso schlimmer ist es, dass das Bureau of Ordnance mit Artie Langner einen hervorragenden Konstrukteur verloren hat. Die technischen Abteilungen hassen jede Veränderung, jeden Wechsel. Artie hat sich aber für Veränderungen stark gemacht und sie forciert … Lassen Sie mich lieber nicht davon anfangen, mein Freund. Es war ein schlimmer Monat für Amerikas Kriegsschiffe.«

»Abgesehen vom Tod Arthur Langners?«, fragte Bell.

»Der Gunner war nur der erste Todesfall. Eine Woche später haben wir Chad Gordon, unseren Panzerschmied in den Bethlehem Iron Works, verloren. Ein grässlicher Unfall. Sechs Männer wurden bei lebendigem Leib geröstet – Chad und seine sämtlichen Helfer. Dann, in der vergangenen Woche, stürzte Grover Lakewood, dieser verdammte Narr, beim Bergsteigen ab. Der cleverste Feuerleit-Experte der Nation. Und noch so verdammt jung. Was für eine Zukunft hätten wir mit ihm gehabt – aber er musste unbedingt in irgendwelchen Felsen herumklettern und hatte einen Unfall.«

»Moment mal!«, sagte Bell. »Soll das heißen, dass drei Ingenieure, die auf den Bau von Dreadnought-Schlachtschiffen spezialisiert waren, im vergangenen Monat den Tod gefunden haben?«

»Klingt fast wie ein böser Fluch, nicht wahr?« MacDonald zeichnete mit seiner großen Hand so etwas wie ein Kreuz auf seine Brust. »Ich würde niemals behaupten, dass unsere Schiffe verhext sind. Aber zum Wohle der United States Navy hoffe ich, dass Farley Kent und Ron Wheeler nicht die Nächsten sein werden!«

»Schiffsrümpfe im Brooklyn Navy Yard«, sagte Bell. »Torpedos in Newport.«

MacDonald musterte ihn argwöhnisch. »Sie kommen aber weit herum.«

»Dorothy Langner hat Kent und Wheeler erwähnt. Ich vermute, dass sie in gewisser Weise Langners Konkurrenten und zugleich Mitstreiter waren.«

»Konkurrenten?« MacDonald lachte. »Das ist der Witz des Dreadnought-Wettrennens, verstehen Sie?«

»Nein, ich verstehe nicht. Was meinen Sie?«

»Es ist wie ein Hütchenspiel mit einer Erbse unter jeder Nussschale, und jede Erbse ist mit Dynamit gefüllt. Farley Kent entwickelt wasserdichte Kammern, um seine Schiffsrümpfe vor Torpedos zu schützen. Aber oben in Newport arbeitet Ron Wheeler an der Verbesserung von Torpedos – er baut zurzeit einen Langstreckentorpedo, der mit einer stärkeren Sprengladung ausgerüstet ist, und er denkt sogar daran, für die Sprengladung TNT zu verwenden. Daher muss – musste – Artie die Schussweite steigern, damit das Schiff in größerer Distanz operieren kann, und Chad Gordon musste die Panzerung verstärken, damit sie möglichen Treffern standhält. Darüber kann man glatt zum Trinker werden …« MacDonald füllte ihre Gläser erneut. »Gott weiß, wie wir ohne diese Männer zurechtkommen sollen.«

»Aber Sie meinten, dass Geschwindigkeit ebenso wichtig sei. Was ist denn mit Ihren Dampfmaschinen?«, fragte Bell. »Es heißt, Sie seien ein wahrer Zauberkünstler, was Turbinen betrifft. Wäre der Verlust Alasdair MacDonalds für das Dreadnought-Programm nicht genauso verheerend?«

MacDonald lachte. »Ich bin unzerstörbar.«

Ein weiterer Faustkampf kündigte sich auf der anderen Seite der Tanzhalle an.

»Entschuldigen Sie mich, Isaac«, sagte MacDonald und stürzte sich ins Gewühl, um die Herausforderung anzunehmen.

Bell folgte ihm durch das Gedränge der Trinker. Die stutzerhaft gekleideten Gangster, die ihm beim Betreten des Etablissements aufgefallen waren, drückten sich am äußeren Rand des improvisierten Boxrings herum, der von johlenden Männern gebildet wurde. MacDonald befand sich bereits in einem ersten Schlagabtausch mit einem jungen Schwergewichtler, der sich durch Arme wie ein Hufschmied und eine bewundernswert schnelle Beinarbeit auszeichnete. Der Schotte schien deutlich langsamer zu sein als dieser jüngere Mann. Aber Bell erkannte, dass Alasdair MacDonald seinem Gegner gestattete, einige Treffer zu landen, um abschätzen zu können, wie gut er war. Dabei bewegte er sich derart geschmeidig, dass keiner der Boxhiebe seines Gegners einen Schaden anrichtete. Plötzlich wusste Alasdair MacDonald anscheinend alles, was er wissen wollte. Abrupt schaltete er auf schnell und tödlich um und konterte mit rasenden Kombinationen. Bell musste zugeben, dass sie seine eigenen besten Attacken aus der Zeit deklassierten, als er für Yale in den Boxring gestiegen war, und er erinnerte sich mit einem dankbaren Lächeln an die Fortbildungsmaßnahmen, zu denen Joe Van Dorn ihn in die Chicagoer Saloons mitgenommen hatte.

Der Hufschmied geriet ins Wanken. MacDonald servierte ihn mit einem Uppercut ab, der nicht härter war, als er sein musste, um das Duell zu beenden. Danach half er dem jungen Mann auf die Füße, klopfte ihm auf den Rücken und verkündete so laut, dass alle ihn hören konnten: »Du warst gut, mein Junge. Ich hatte nur Glück … Isaac, haben Sie die schnellen Füße dieses Burschen gesehen? Meinen Sie, er könnte es im Ring weit bringen?«

»Er hätte Gentleman Jim Corbett zu seiner besten Zeit auf die Bretter geschickt.«

Der Hufschmied, der immer noch einen glasigen Blick hatte, bedankte sich mit einem mühsamen Lächeln für das Kompliment.

MacDonald, dessen Blick weiterhin aufmerksam über die Menge schweifte, bemerkte die Gangster, die zielstrebig auf ihn zukamen. »Oh, da kommt schon ein weiterer Herausforderer – gleich zwei, wie ich sehe. Sie lassen einem aber auch keine Ruhe. Na schön, Leute, ihr seid nur halbe Portionen, aber dafür zu zweit. Dann zeigt mal, was ihr könnt.«

Sie waren ganz sicher keine halben Portionen, obgleich MacDonald ihnen an Gewicht deutlich überlegen war, aber sie bewegten sich selbstsicher und benutzten die Hände geschickt als Deckung. Und als sie angriffen, war deutlich zu erkennen, dass sie nicht das erste Mal ein Team bildeten. Bell schätzte sie als talentierte Straßenkämpfer ein, zähe Burschen aus den Slums, die sich wahrscheinlich in die oberen Ränge einer Gang geprügelt hatten. Mittlerweile gestandene Gangster, waren sie offenbar losgezogen, um Streit zu suchen. Bell rückte näher an den Boxring heran – für den Fall, dass die Dinge außer Kontrolle gerieten.

Während sie wüste Flüche gegen Alasdair MacDonald ausstießen, griffen sie ihn gleichzeitig von beiden Seiten an. Die Bösartigkeit ihrer Beleidigungen brachte den Schotten offensichtlich in Rage. Mit gerötetem Gesicht täuschte er einen Rückzug vor, der seine Gegner in einen mächtigen linken Haken und eine vernichtende rechte Gerade hineinlockte. Ein Gangster stolperte rückwärts, während Blut aus seiner Nase schoss. Der andere krümmte sich und hielt sich das Ohr.

Hinter Alasdair MacDonald sah Bell plötzlich Stahl aufblitzen.