13
Füße stampften über das Deck. Ein Lieutenant erschien an der Tür, und Falconer wechselte einige eilige Worte mit ihm. »Farley«, rief er dann, »Sie können ruhig in Ihren Zeichensaal zurückkehren.« Der Konstrukteur verließ wortlos die Kabine. Falconer sagte: »Bitte warten Sie hier, Bell. Es dauert keine Minute.« Er ging mit seinem Lieutenant hinaus.
Bell hatte das Reuterdahl-Gemälde von der Großen Weißen Flotte im vorangegangenen Januar auf der Titelseite des Collier’s Magazine gesehen. Die Flotte ankerte im Hafen von Rio de Janeiro. Ein mit Einheimischen besetztes Ruderboot hielt auf den strahlend weißen Rumpf des Flaggschiffs Connecticut zu, und ein Mann im Bug hielt ein Schild hoch, auf dem in großen Lettern zu lesen war:
AMERICAN
DRINKS. SQUARE
DEAL
at JS GUVIDOR
Rauch und Schatten in einem dunklen Bereich des sonnendurchfluteten Hafens verbargen den schlanken Rumpf eines deutschen Kreuzers.
Das Deck bewegte sich unter Bells Füßen. Die Jacht verließ in Rückwärtsfahrt ihren Liegeplatz und schob sich in den East River. Als ihre Schrauben in Vorausfahrt gingen und die Jacht stromabwärts Geschwindigkeit aufnahm, spürte Bell keinerlei Erschütterung, die Maschinen erzeugten keine wahrnehmbare Vibration. Captain Falconer kehrte in die Kabine zurück, und Bell sah seinen Gastgeber fragend an. »Ich bin noch nie zuvor auf einer Dampfjacht gewesen, die so ruhig durchs Wasser gleitet.«
Falconer lächelte stolz. »Turbinen«, sagte er. »Insgesamt drei Stück, verbunden mit neun Schiffsschrauben.«
Er deutete auf ein anderes Gemälde, das Bell durch das Bullauge nicht hatte sehen können. Es zeigte die Turbinia, das berühmte turbinengetriebene Testschiff, mit dem Alasdair MacDonalds Lehrer und Förderer seinerzeit unangekündigt an einer internationalen Flottenparade in Spitshead, England, teilnahm, um die überlegene Geschwindigkeit seiner Erfindung zu demonstrieren.
»Charles Parsons hat nichts dem Zufall überlassen. Für den Fall, dass die Turbinia zu Schaden kommen sollte, hatte er gleich zwei Turbinenschiffe gebaut. Dies hier ist die Dyname. Wie gut ist Ihr Griechisch?«
»Der Begriff bezeichnet das Zusammenwirken mehrerer Kräfte, nicht wahr?«
»Sehr gut! Die Dyname ist eigentlich die große Schwester der Turbinia. Sie ist ein wenig breiter und orientiert sich konstruktionstechnisch an den Torpedobooten der neunziger Jahre. Ich habe sie zu einer Jacht umbauen und die Kessel mit Ölbrennern ausstatten lassen, wodurch in den ehemaligen Kohlebunkern eine Menge Platz geschaffen wurde. Der arme Alasdair hat sie als Testschiff eingesetzt und die Turbinen modifiziert. Dank ihm verbraucht sie weniger Öl und macht schnellere Fahrt, obgleich sie breiter ist als die Turbinia.«
»Wie schnell?«
Falconer legte geradezu zärtlich eine Hand auf die matt glänzende Mahagonitäfelung der Dyname und lächelte. »Sie würden es nicht glauben, wenn ich es Ihnen verriete.«
Der hochgewachsene Detektiv erwiderte das Lächeln. »Ich hätte nichts dagegen, wenn ich sie mal lenken dürfte.«
»Warten Sie, bis diese verkehrsreichen Gewässer hinter uns liegen. Ich wage nicht, ihr schon im Hafen die Sporen zu geben.«
Die Jacht dampfte den East River hinunter in die Upper Bay und steigerte das Tempo dramatisch. »Ganz schön schnell«, sagte Bell.
Falconer lachte glucksend. »Wir halten sie an der kurzen Leine, bis wir das offene Meer erreichen.«
Die Lichter von Manhattan Island verblassten hinter ihnen. Ein Steward kam mit einem Tablett voll zugedeckter Schüsseln herein, die er auf dem Tisch verteilte. Captain Falconer bat Bell, ihm gegenüber Platz zu nehmen.
Bell blieb jedoch stehen und fragte: »Was ist Hull 44?«
»Bitte, leisten Sie mir beim Abendessen Gesellschaft, und während wir aufs offene Meer hinausdampfen, verrate ich Ihnen das Geheimnis, weshalb Hull 44.«
Falconer begann, indem er Alasdair MacDonalds Klage wiederholte. »Es ist jetzt zehn Jahre her, dass Deutschland mit dem Aufbau einer neuen Marine begonnen hat. Im selben Jahr eroberten wir die Philippinen und annektierten das Königreich Hawaii. Heute besitzen die Deutschen Großkampfschiffe, sogenannte Dreadnoughts. Die Briten verfügen ebenfalls über Dreadnoughts, und die Japaner bauen und kaufen Dreadnought-Schlachtschiffe. Wenn nun die US Navy in See sticht, um auf die weite Reise zu gehen und die neuen Territorien Amerikas im Pazifik zu verteidigen, sind wir den Deutschen, den Engländern und dem Kaiserreich Japan, was die Schiffsklasse und die Geschützleistung angeht, hoffnungslos unterlegen.«
Von seiner Idee derart beseelt, dass er sein Steak unberührt auf dem Teller liegen ließ, skizzierte Captain Falconer für Isaac Bell den Traum, der Hull 44 geboren hatte. »Das Dreadnought-Wettrennen lehrt uns, dass Veränderungen stets durch die allgemein vorherrschende Überzeugung, dass es unter der Sonne nichts Neues gebe, verhindert werden. Ehe die Briten die HMS Dreadnought vom Stapel laufen ließen, galten im Schlachtschiffbau zwei Faustregeln, die wie in Stein gehauen waren: Erstens, der Bau eines Schlachtschiffs dauert mehrere Jahre, und zweitens, sie müssen mit Geschützen unterschiedlichen Kalibers ausgerüstet sein, um sich selbst verteidigen zu können. Die HMS Dreadnought verfügt ausschließlich über Geschütze größten Kalibers. Außerdem wurde sie in nur einem Jahr erbaut, was die Welt für immer veränderte.
Hull 44 ist meine Antwort darauf. Amerikas Antwort.
Ich habe die hellsten Köpfe im Kriegsschiffbau zusammengetrommelt. Ich forderte sie auf, alles Menschenmögliche zu versuchen! Männer wie Artie Langner, der ›Gunner‹, und Alasdair, den Sie ja kennengelernt haben.«
»Und sterben sah«, meinte Bell grimmig.
»Jeder von ihnen ist ein Künstler auf seinem Gebiet. Aber wie alle Künstler sind sie auch Sonderlinge. Bohemiens, Exzentriker, wenn nicht sogar vollkommen spinnert. Also nicht gerade von der Art, die sich in der regulären Navy problemlos zurechtfinden würde. Aber dank meiner eigenwilligen Genies, die am laufenden Band neue Ideen hervorbrachten und alte Vorstellungen verfeinerten, wird Hull 44 ein Dreadnought-Schlachtschiff sein, wie noch nie eines die Ozeane der Welt befahren hat – ein amerikanisches schifffahrtstechnisches Wunderwerk, das die englischen Dreadnoughts und die deutschen Nassau und Posen und das Stärkste, was die Japaner ihm entgegenwerfen können, übertreffen wird … Warum schütteln Sie den Kopf, Mr Bell?«
»Das ist eine viel zu große Sache, um sie geheim halten zu können. Sie sind offenbar ein reicher Mann. Aber kein Individuum ist reich genug, sein eigenes Schlachtschiff vom Stapel laufen zu lassen. Woher haben Sie das Geld für Hull 44? Irgendjemand in der Regierung muss etwas darüber wissen.«
Captain Falconer antwortete ausweichend. »Vor elf Jahren hatte ich das Privileg, einem stellvertretenden Marineminister als Berater dienen zu dürfen.«
»Bravo!« Bell grinste verstehend. Das erklärte Lowell Falconers Unabhängigkeit. Heute war dieser stellvertretende Marineminister niemand anderer als der leidenschaftlichste Befürworter einer starken Navy – Präsident Theodore Roosevelt.
»Der Präsident ist der Überzeugung, dass unsere Navy ungebunden sein sollte. Die Army soll die Häfen und Stützpunkte verteidigen – wir bauen ihr sogar die dazu notwendigen Geschütze. Aber die Navy sollte nur auf See kämpfen.«
»Nach dem zu urteilen, was ich bei der Navy gesehen und erlebt habe«, sagte Bell, »müssen Sie zuallererst gegen die Navy kämpfen. Und um diesen Kampf zu gewinnen, müssen Sie so clever sein wie Machiavelli persönlich.«
»Oh, das bin ich«, erwiderte Falconer lächelnd. »Wobei ich das Wort gerissen dem Wort clever vorziehe.«
»Stehen Sie denn immer noch im Dienst der Navy?«
»Ich bin, ganz offiziell, Sonderbeauftragter für das Schießübungswesen.«
»Ein wundervoll vager Titel«, bemerkte Bell.
»Ich weiß, wie man Bürokraten überlistet und austrickst«, konterte Falconer. »Ich kenne mich im Kongress aus«, fügte er mit einem spöttischen Lächeln hinzu und zeigte Bell seine verstümmelte Hand. »Welcher Politiker würde es wagen, einem Kriegshelden zu widersprechen?«
Dann erklärte er detailliert, wie er einen Stab ähnlich denkender junger Offiziere in den Abteilungen für Schiffsbewaffnung und Schiffsbau in Schlüsselpositionen lanciert hatte. Gemeinsam arbeiteten sie daran, das gesamte Dreadnought-Bauprogramm neu zu organisieren.
»Sind wir wirklich so weit im Hintertreffen, wie Alasdair MacDonald behauptet hat?«
»Ja. Wir lassen im nächsten Monat die Michigan vom Stapel laufen, aber sie ist keine Lösung. Delaware, North Dakota, Utah, Florida, Arkansas und Wyoming, allesamt erstklassige Dreadnoughts, existieren vorerst noch auf dem Zeichenbrett. Aber das ist nicht grundsätzlich von Nachteil. Die Fortschritte in der Weiterentwicklung des Seekriegswesens folgen derart schnell aufeinander, dass man sagen kann, dass je später unsere Schiffe vom Stapel laufen, sie umso moderner sind. Wir kennen bereits die Schwachpunkte der Großen Weißen Flotte, ehe sie in San Francisco eintrifft. Das Erste, was wir ändern werden, sobald die Schiffe in die Heimat zurückkehren, ist ihre äußere Erscheinung. Wir werden sie mit grauer Farbe anstreichen lassen, damit feindliche Schützen sie nicht so schnell entdecken.
Aber der Farbanstrich ist nur ein simpler Punkt. Ehe wir unsere neuen Erkenntnisse in den Kriegsschiffbau einfließen lassen können, müssen wir noch das Navy Board of Construction und den Kongress überzeugen. Das Navy Board of Construction hasst alles, was nach Veränderung riecht, und der Kongress hasst alles, was zusätzliches Geld kostet.«
Falconer deutete mit einem Kopfnicken auf das Reuterdahl-Gemälde. »Mein Freund Henry hat sich ganz schön in Schwierigkeiten gebracht. Die Navy hat ihn mitgenommen, damit er Bilder von der Großen Weißen Flotte malt. Sie haben aber nicht damit gerechnet, dass er dem McClure’s Magazine einige Berichte schicken würde, in denen er die Öffentlichkeit über die Mängel der Flotte aufklärt. Henry kann von Glück reden, wenn er irgendeinen Trampdampfer findet, der ihn nach Hause mitnimmt. Doch er hat recht, und ich habe ebenfalls recht: Es ist völlig okay, aus Erfahrungen zu lernen. Und es ist gleichfalls okay, aus Fehlern klug zu werden. Aber es ist nicht okay, sich dem Fortschritt und der Verbesserung zu verschließen. Deshalb treibe ich den Schiffsbau im Geheimen voran.«
»Jetzt haben Sie mir das Warum erklärt. Aber was Hull 44 eigentlich ist, haben Sie mir noch immer nicht verraten.«
»Nicht so ungeduldig, Mr Bell.«
»Ein Mann hat den Tod gefunden«, erwiderte Bell mit grimmiger Miene. »Und ich verliere jede Geduld, wenn Männer ermordet werden.«
»Sie sagen Männer.« Captain Falconer sah Bell misstrauisch an. »Wollen Sie damit andeuten, dass Langner ebenfalls ermordet wurde?«
»In seinem Fall halte ich einen Mord für zunehmend wahrscheinlich.«
»Was ist mit Grover Lakewood?«
»Van-Dorn-Agenten sind in Westchester dabei, die Umstände seines Todes genauestens unter die Lupe zu nehmen. Und in Bethlehem, Pennsylvania, untersuchen wir den Unfall, der Chad Gordon zum Verhängnis wurde. Erzählen Sie mir nun endlich von Hull 44?«
»Lassen Sie uns nach oben gehen. Dann werden Sie sehen, was ich meine.«
Die Dyname hatte ihre Geschwindigkeit ständig gesteigert. Noch immer war von ihren Maschinen keinerlei Vibration wahrzunehmen, trotz eines lauten Dröhnens, das von der tobenden See und dem heftigen Wind herrührte. Der Steward und ein Matrose erschienen mit Gummistiefeln und Ölzeug. »Das sollten Sie lieber anziehen, Sir. Dieses Schiff ist keine Luxusjacht mehr, sobald es richtig Fahrt macht. Dann ist es eher ein Torpedoboot.«
»Von wegen Torpedoboot«, murmelte der Matrose. »Ein U-Boot ist es.«
Falconer reichte Bell so etwas wie eine Motorradbrille mit Gläsern, die so dunkel waren, dass sie undurchsichtig erschienen, und streifte sich selbst die gleiche Brille über den Kopf.
»Wofür ist die?«
»Sie werden froh sein, dass Sie sie haben, wenn es so weit ist«, antwortete der Captain geheimnisvoll. »Alles bereit? Dann lassen Sie uns die Brücke aufsuchen, solange es zu Fuß noch möglich ist.« Der Matrose und der Steward drückten mit Mühe die Tür auf, und Falconer und Bell traten aufs Deck hinaus.
Der Fahrtwind war wie ein Schlag ins Gesicht.
Bell tastete sich auf dem schmalen Seitendeck nach vorn. Dabei befand er sich höchstens anderthalb Meter über dem Wasser, das rasend schnell unter ihnen vorbeiflog. »Das dürften an die dreißig Knoten sein.«
»Noch bummeln wir ein wenig herum«, rief Falconer über dem Getöse. »Erst wenn wir an Sandy Hook vorbei sind, lassen wir es krachen.«
Bell schaute nach hinten. Feuerzungen leckten aus dem Schornstein, und die Kiellinie schäumte derart, dass sie in der Dunkelheit leuchtete. Sie stiegen in die offene Kommandobrücke hinauf, wo dicke Glasscheiben den Steuermann abschirmten, der sich an ein kleines Speichenrad klammerte. Captain Falconer schob ihn mit der Schulter beiseite.
Vor ihnen blinkte in einiger Entfernung alle fünfzehn Sekunden ein weißes Licht.
»Das ist das Feuerschiff von Sandy Hook«, erklärte Kapitän Falconer. »Dies ist das letzte Jahr, in dem wir es sehen können. Sie verlegen das Schiff, um den neuen Ambrose Channel zu markieren.«
Die Dyname näherte sich dem Fünfzehn-Sekunden-Leuchtfeuer. In seinem Lichtschein konnte Bell die in weißen Lettern ausgeführte Inschrift »Sandy Hook« und »No. 51« auf der ihnen zugewandten Rumpfseite des schwarzen Schiffes lesen, das nun schnell hinter ihnen zurückblieb.
»Festhalten!«, warnte Kapitän Falconer.
Er legte die Hand mit den fehlenden Fingern auf einen langen Hebel. »Das ist eine direkte Bowdenzugverbindung zu den Turbinen. Ähnlich wie die flexiblen Kabelzugbremsen an einem Fahrrad. Ich kann den Dampfdruck vom Ruderstand aus regeln, ohne den Maschinenraum rufen zu müssen. Das entspricht dem Gashebel bei einem Automobil.«
»Alasdairs Idee?«, fragte Bell.
»Nein, die stammt von mir. Alasdairs Beitrag werden Sie gleich zu spüren bekommen.«