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»Neunundneunzig«, zählte Isaac Bell rückwärts.
Der Mob wich mit trotzigem Gemurmel zurück.
Ein Straßenbahnwagen näherte sich und ließ seine Warnklingel ertönen, um die Männer von den Schienen zu vertreiben. Bell schwang sich hinein und zog Louis Loh hinter sich her.
»Sie dürfen nicht einsteigen«, protestierte der Fahrer. »Der Japs ist triefnass!«
Bell hielt dem Straßenbahnfahrer die breite Mündung des doppelläufigen Derringers vor die Nase. »Nicht anhalten. In einem durch bis zum Benicia Terminal.«
Indem sie bei den zahlreichen Haltestellen unterwegs an vielen wartenden Fahrgästen vorbeifuhren, erreichten sie die Landungsbrücke der Southern Pacific Fähre bereits nach zehn Minuten. Auf der anderen Seite der gut eine Meile breiten Wasserstraße sah Bell, wie die Solano, das größte Eisenbahnfährschiff der Welt, vor Port Costa gerade eine Lokomotive und einige Pullmanwagen des Overland Limited aufnahm, der nach Osten fuhr. Er zog Loh hinter sich her zum Büro des Bahnhofsvorstehers, wies sich aus, löste für die Reise quer über den Kontinent zwei Eisenbahnfahrkarten und ließ sich gleichzeitig ein Privatabteil reservieren. Danach verschickte er einige Telegramme. Die Überfahrt der Fähre dauerte neun Minuten, dann legte sie an, und die Gleisverbindung wurde wieder geschlossen. Die Lok zog die vordere Zughälfte an Land. Eine Rangierlok schob die letzten vier Wagen vom Schiff herunter. Innerhalb von zehn Minuten war der Zug wieder vollständig und dampfte aus dem Benicia Terminal.
Bell fand sein Abteil und fesselte Louis an ein Heizungsrohr.
Während der Transkontinentalzug das Sacramento Valley hinauffuhr, ergriff Louis Loh endlich das Wort. »Wohin bringen Sie mich?«
»Louis, zu welcher Tong gehören Sie?«
»Ich bin kein Tong.«
»Warum haben Sie versucht, es so aussehen zu lassen, als würden die Japaner das Munitionslager in die Luft sprengen?«
»Ich werde Ihnen nichts sagen.«
»Natürlich werden Sie das. Sie werden mir alles erzählen, was ich wissen will – was Sie vorhatten und warum und wer Ihnen Ihre Befehle gab.«
»Menschen wie mich werden Sie nie verstehen. Ich werde nicht reden. Nicht einmal, wenn Sie mich foltern.«
»›Das ist nicht mein Stil‹«, zitierte Bell aus einem populären Gedicht.
»››Eins aus‹, rief der Schiedsrichter‹«, konterte Louis Loh selbstgefällig. »Ich kenne Ihr Casey ist am Schlag auswendig.«
»Sie haben mir schon längst etwas verraten«, erwiderte Bell. »Sie wissen es nur nicht.«
»Was?«
Der hochgewachsene Detektiv schwieg. Tatsächlich hatte Louis Loh seinen Verdacht bestätigt, dass er mehr war als nur ein ordinärer Allerwelts-Tong-Gangster. Er glaubte nicht, dass der Chinese der eigentliche Spion war, aber hinter Louis Lohs Sabotageversuch auf Mare Island steckte mehr, als auf den ersten Blick zu erkennen war.
»Sie verschaffen mir einen großen Vorteil«, sagte Loh.
»Wie das?«
»Indem Sie zugeben, dass Sie nicht Manns genug sind, mich zu foltern.«
»Muss man dazu fähig sein, um bei den Hip Sing als richtiger Mann zu gelten?«
»Was ist Hip Sing?«
»Das werden Sie mir verraten.«
»Wenn sich das Blatt gewendet hat«, erklärte Louis Loh, »und Sie mein Gefangener sind, werde ich Sie foltern.«
Bell streckte sich auf dem Bett aus und schloss die Augen. Er hatte Kopfschmerzen und sah gelegentlich immer noch Schafe Purzelbäume schlagen.
»Ich werde mit einem Wiegemesser anfangen«, begann Loh. »Mit einem Hackmesser, um genau zu sein. Scharf wie ein Rasiermesser. Zuerst nehme ich mir Ihre Nase vor …«, fuhr Louis Loh mit der Beschreibung der Grässlichkeiten fort, die er Bell antun würde. Bell begann zu schnarchen.
Der Detektiv schlug die Augen auf, als der Zug in Sacramento hielt. Es klopfte an der Abteiltür. Bell ließ zwei stämmige Agenten der Protection Services aus dem Sacramento-Büro eintreten. »Schaffen Sie ihn in den Gepäckwagen und fesseln Sie ihn an Händen und Füßen. Einer von Ihnen bleibt die ganze Zeit in seiner Nähe. Der andere schläft. Ich habe ein Pullmanbett für Sie reservieren lassen. Sie werden sich nicht dadurch ablenken, dass Sie mit dem Zugpersonal reden. Wenn er auch nur einen winzigen blauen Fleck oder einen Kratzer abbekommt, ziehe ich Sie zur Rechenschaft. Ich werde regelmäßig bei Ihnen vorbeischauen. Und immer wenn der Zug anhält, werden wir besonders wachsam sein.«
»Bis nach New York?«
»Wir müssen in Chicago umsteigen.«
»Meinen Sie, dass seine Freunde versuchen werden, ihn rauszuhauen?«
Bell suchte bei Loh nach einer Reaktion, konnte aber nichts feststellen. »Haben Sie Schrotflinten mitgebracht?«
»Autolader, wie Sie verlangt haben. Und auch eine für Sie.«
»Sollen sie es ruhig versuchen. Okay, Louis. Auf geht’s. Ich hoffe, es gefällt Ihnen, für die nächsten fünf Tage ein Gepäckstück zu sein.«
»Sie werden mich niemals zum Reden bringen.«
»Wir werden schon einen Weg finden«, versprach Bell.
Fahrkarten für einen Luxuszug, einen Anzug aus »englischem Schriftsteller-Tweed«, eine goldene Taschenuhr, teures Gepäck und einhundert Dollar waren alles, was nötig gewesen war, um den aus dem Priesterstand verstoßenen J. L. Skelton als Double für Arnold Bennett zu engagieren. Das berichtete Horace Bronson, der Chef des Büros in San Francisco, in einem Telegramm, das in Ogden auf Isaac Bell wartete. Aber auch wenn ihn die Aussicht auf eine lange Gefängnisstrafe so weit eingeschüchtert hatte, dass er redete wie ein Wasserfall, hatte Skelton nicht die geringste Ahnung, weshalb er auch dafür bezahlt worden war, so zu tun, als begleite er die beiden sogenannten Theologiestudenten.
»Er hat auf einen ganzen Stapel Bibeln geschworen«, schrieb Bronson mit trockenem Humor, »dass er nicht wisse, weshalb er weitere einhundert Dollar dafür erhalten hat, um wieder in seinen Priesterstand zurückzukehren und eine Messe in der Kapelle auf Mare Island zu zelebrieren. Und er könne auch beim besten Willen nicht erklären, weshalb Harold Wing und Louis Loh es so hatten aussehen lassen wollen, als hätten Japaner das Munitionslager auf Mare Island gesprengt, um Schiffe der Großen Weißen Flotte lahmzulegen.« Horace Bronson glaubte ihm. Isaac Bell tat es ebenfalls. Der Spion war ein Experte darin, andere seine Drecksarbeit machen zu lassen. Genauso wie es bei Arthur Langners schweren Kanonen der Fall war: Er hielt sich meilenweit von der Explosion fern.
Die Herkunft des Passierscheins, den Loh benutzt hatte, um sein Fuhrwerk auf die Fähre und weiter auf die Werft zu schmuggeln, hätte sicherlich wichtige Hinweise geliefert. Aber das Dokument war zusammen mit dem Fuhrwerk und dem Lastwagen bei der Explosion verbrannt. Nicht einmal das Maultier war eine Hilfe. Es war am Tag zuvor in Vaca gestohlen worden. Die Wächter, die Hunderte von Lastwagen und Fuhrwerken kontrolliert hatten, konnten keine weiteren hilfreichen Informationen über die Passierscheine oder die Ladung Erdbeeren, die sie auf die Insel gelassen hatten, liefern.
Zwei Tage später, als der Zug durch Illinois donnerte, besorgte Bell für Louis Loh eine Zeitung aus Chicago. Der Tong-Gangster lag auf einem Klappbett im dunklen, fensterlosen Gepäckwagen, mit Handgelenk und Fußknöchel an den Stahlrahmen gefesselt. Der PS-Agent, der ihn bewachte, saß vor sich hindösend auf einem Stuhl daneben. »Gönnen Sie sich einen Kaffee«, sagte Bell zu ihm und zeigte Loh die Zeitung, als sie allein waren: »Frisch aus der Druckerei. Nachrichten aus Tokio.«
»Was interessiert mich Tokio?«
»Der Kaiser von Japan hat die Große Weiße Flotte zu einem offiziellen Besuch eingeladen, wenn sie den Pazifik überquert hat.«
Der gleichgültige Ausdruck, den Louis Lohs Gesicht gewöhnlich zeigte, wurde für einen kurzen Moment brüchig. Bell nahm ein winziges Absacken seiner Schultern wahr, das seine enttäuschte Hoffnung darüber widerspiegelte, dass sein fehlgeschlagenes Attentat trotzdem zu keinem Bruch zwischen Japan und den Vereinigten Staaten geführt hatte.
Bell war verwirrt. Weshalb war Louis das so wichtig? Er war geschnappt worden. Auf ihn wartete das Gefängnis, wenn nicht gar der Henker, und er hatte das Geld verloren, mit dem er für einen Erfolg belohnt worden wäre. Weshalb nahm er an der Entwicklung immer noch Anteil? War es denn tatsächlich so, dass er seine Tat aus anderen Gründen als aus Habgier begangen hatte.
»Wir können wohl davon ausgehen, Louis, dass Seine Kaiserliche Majestät die Flotte sicher nicht eingeladen hätte, wenn Sie es geschafft hätten, den Mare Island Naval Shipyard in seinem Namen in Schutt und Asche zu legen.«
»Was interessiert mich der Kaiser von Japan?«
»Das ist meine Frage. Warum sollte ein chinesischer Tong-Gangster versuchen, amerikanisch-japanische Ressentiments zu wecken?«
»Fahren Sie zur Hölle.«
»Und für wen? Für wen haben Sie es getan, Louis?«
Louis Loh lächelte spöttisch. »Sparen Sie sich Ihren Atem. Foltern Sie mich doch. Nichts wird mich zum Reden bringen.«
»Wir werden schon noch einen Weg finden«, versprach Bell abermals. »In New York.«
Unterstützt von Angehörigen der Eisenbahnpolizei transferierten schwer bewaffnete Van-Dorn-Agenten Louis Loh vom Overland Limited quer durch die LaSalle Station in den 20th Century Limited. Niemand versuchte, Louis Loh zu befreien oder zu töten, womit Bell fast schon gerechnet hatte. Er entschied, ihn in der Obhut der Protection Services zu belassen, bis der 20th Century in New York eintraf. Und Bell hielt sich im Grand Central Terminal von Louis fern, während ein anderer Trupp Van-Dorn-Agenten Louis in einen Lastwagen verfrachtete und zum Brooklyn Navy Yard hinausfuhr. Lowell Falconer hielt sich schon bereit, um dafür zu sorgen, dass Louis Loh seine erste Nacht in einer Brigg der Navy verbringen konnte.
Bell erwartete den Captain auf seiner Turbinenjacht. Die Dyname lag an einem Pier der Marinewerft zwischen der Hull-44-Helling und einer großen Schute aus Holz, die von einem seetüchtigen Schlepper versorgt wurde. Auf der Schute errichteten Techniker einen Gittermast. Er war eine maßstabsgetreue Version des Eins-zu-zwölf-Modells, das Bell in Farley Kents Zeichensaal gesehen hatte.
Hoch über ihm füllte Hull 44 den blauen Himmel aus. Die Rumpfpanzerung wanderte an dem Stahlgerüst Stück für Stück nach oben, und das Gebilde nahm mehr und mehr die Gestalt eines Schiffes an. Wenn es auch nur zur Hälfte das Schlachtschiff werden würde, das Falconer sich vorstellte und das Alasdair MacDonald und Arthur Langner mit ihren Ideen und ihrer Arbeit schnell und tödlich hatten werden lassen, dachte Bell, dann wäre dieser Anblick seines Hecks etwas, das seine Feinde niemals sehen würden, bis ihre eigenen Schiffe steuerlos dahintrieben und in Flammen standen.
Falconer kam an Bord, nachdem er den Gefangenen untergebracht hatte. Er berichtete, dass Louis’ letzte Worte, ehe die Tür seines neuen Gefängnisses zufiel, gelautet hätten: »Bestellen Sie Isaac Bell, dass ich nichts sagen werde.«
»Er wird reden.«
»Darauf würde ich mich nicht verlassen«, warnte Falconer. »Als ich im Fernen Osten gedient habe, sezierten Japse und Chinesen gefangene Spione regelrecht bei lebendigem Leib. Sie bekamen aber trotzdem keinen Ton aus ihnen heraus.«
Der Van-Dorn-Detektiv und der Navy-Captain standen auf dem Vorderdeck, während sich die Dyname rückwärts in den East River schob, wobei sich ihre neun Schrauben mit einer Geschmeidigkeit drehten, die Bell immer noch geradezu unheimlich vorkam.
»Hinter Lois Loh steckt mehr, als man auf den ersten Blick erkennen kann«, meinte er nachdenklich. »Noch kann ich nicht genau sagen, was ihn so anders erscheinen lässt.«
»Mir kommt er wie jemand vor, der in der Hierarchie ziemlich weit unten rangiert.«
»Das glaube ich nicht«, widersprach Bell. »Er legt einen enormen Stolz an den Tag, so wie jemand, der in einer wichtigen Mission unterwegs ist.«
»Für die New Yorker Banden ist es ein ständiges Auf und Ab«, sagte Harry Warren, und die Handvoll Van-Dorn-Detektive, die sie überwachten, nickte zustimmend. »Heute sind sie groß und mächtig, und schon morgen kann man sie aus der Gosse fischen.«
Die Luft im Einsatzraum der Zentrale im Knickerbocker Hotel war vom Zigarren- und Zigarettenrauch ganz grau. Eine Flasche Whiskey, die Isaac Bell spendiert hatte, machte die Runde.
»Wer sitzt denn zurzeit in der Gosse?«, wollte er wissen.
»Die Hudson Dusters, die Marginals und die Pearl Buttons. Die Eastmans sind in Schwierigkeiten, da Monk Eastman gerade in Sing-Sing schmort, und sie machen es für sich zunehmend schlimm, indem sie sich weiterhin ständig mit den Five Pointers anlegen.«
»Sie haben kürzlich eine wunderschöne Schießerei unter der Third Avenue El veranstaltet«, berichtete ein Detektiv. »Leider gab es keine Toten.«
»In Chinatown«, fuhr Harry fort, »überholen die Hip Sing gerade die On Leongs. Auf der West Side drehen Tommy Thompsons Gophers das große Rad. Oder besser, sie drehten es. Diese Mistkerle haben jetzt alle Hände voll zu tun, seit Sie, Isaac, ihnen die Eisenbahnpolizei auf den Hals gehetzt haben, weil sie Eddie Tobin so übel zugerichtet haben.«
Diese Meldung wurde mit begeistertem Kopfnicken und einer widerstrebend bewundernden Bemerkung quittiert: »Diese Schwellen-Cops aus dem Westen sind die härtesten und schlimmsten Burschen, die ich je gesehen habe.«
»Sie haben die Gophers derart aufgemischt, dass die Hip Sing mitten im Territorium der Gophers eine neue Opiumhöhle eröffnet haben.«
»Nicht so schnell«, bremste Harry Warren. »Ich habe Gophers in einem Laden der Hip Sing in der Stadt gesehen. Dort wo Scully war, Isaac? Ich hatte das Gefühl, dass zwischen den Hip Sing und den Gophers irgendwas im Gange war. Vielleicht hatte Scully den gleichen Eindruck.«
Ein paar Detektive murmelten zustimmend. Sie hatten entsprechende Gerüchte gehört.
»Aber keiner von Ihnen kann mir etwas über Louis Loh erzählen, oder?«
»Das hat nicht viel zu bedeuten, Isaac. Die Kriminellen in Chinatown sind nun mal um einiges verschwiegener und heimlichtuerischer.«
»Und besser organisiert. Um nicht zu sagen cleverer.«
»Und in ständiger Verbindung mit den anderen Chinatowns in ganz Amerika und Asien.«
»Die internationalen Verbindungen sind angesichts der Tatsache, dass wir es mit einem Spionagefall zu tun haben, ein interessanter Faktor«, gab Bell zu. »Bis auf einen ganz wesentlichen Punkt. Warum werden zwei Männer von New York aus quer über den Kontinent geschickt, wenn sie genauso gut einheimische Chinesen aus der Chinatown in San Francisco, die das Territorium kennen, hätten einsetzen können?«
Darauf gab niemand eine Antwort. Die Detektive saßen in unbehaglicher Stille da, die nur gelegentlich vom Klirren eines Trinkglases oder dem Scharren eines Streichholzes unterbrochen wurde. Bell ließ den Blick über Harrys Veteranenteam schweifen. Er vermisste John Scully schmerzlich. Er war der Magier unter den Kopfarbeitern gewesen.
»Warum diese Scharade im Zug?«, fragte er. »Sie ergibt doch keinen Sinn.«
Erneut herrschte betretenes Schweigen. Bell fragte: »Wie geht es Eddie?«
»Er ist immer noch auf der Kippe.«
»Man soll ihm sagen, dass ich ihn besuche, sobald ich die Zeit dazu finde.«
»Ich bezweifle, dass er überhaupt mitbekommt, dass Sie bei ihm im Raum sind.«
Harry Warren sagte: »Das ist eine andere seltsame Geschichte, soweit ich es beurteilen kann. Warum gehen die Gophers ein solches Risiko ein, die Van Dorns gegen sich aufzubringen?«
»Sie sind eben dämlich«, beantwortete ein Detektiv die Frage, und alle lachten schallend.
»Aber doch nicht so dämlich. Wie Isaac über Louis Lohs lange Reise über den Kontinent sagte. Einen Halbwüchsigen zusammenzuschlagen ergibt keinen Sinn. Die Banden meiden außerhalb ihrer Kreise jegliche Gewalt.«
Isaac Bell sagte daraufhin: »Sie haben mir erzählt, es sei merkwürdig, dass der Iceman nach Camden gereist ist.«
Harry nickte heftig. »Gophers verlassen ihr heimisches Gebiet niemals.«
»Und Sie sagten, dass Gophers keine Warnungen schicken oder Rache üben, wodurch sie Gefahren von Seiten Außenstehender ausgesetzt wären. Ist es möglich, dass der Spion sie dafür bezahlt hat, sich zu rächen, wie er auch Killer dafür bezahlt hat, dass sie nach Camden reisen?«
»Wer weiß schon, wie Spione denken?«
»Ich kenne jemanden, der es weiß«, sagte Bell.
Commander Abbington-Westlake kam im Schlenderschritt aus dem Harvard Club, wo er sich eine freie Ehrenmitgliedschaft ergattert hatte, und winkte gerade lässig einem Taxi. Ein rotes Darraq-Benzintaxi flitzte an einem Mann vorbei, der vor dem New York Yacht Club stand und ebenfalls nach einem Taxi winkte, und hielt vor dem beleibten Engländer an.
»Hey, das ist mein Taxi!«
»Offensichtlich nicht«, meinte Abbington-Westlake affektiert, während er in den Darraq einstieg. »Und jetzt schnell, Fahrer, ehe uns dieser verärgerte Segelsportler einholt.«
Das Taxi startete. Abbington-Westlake nannte eine Adresse auf der oberen Fifth Avenue und machte es sich für die Fahrt gemütlich. An der 59th Street bog das Taxi plötzlich in den Central Park ab. Er klopfte mit dem Knauf seines Gehstocks gegen das Trennfenster.
»Nein, nein, nein, ich bin kein dummer Tourist, mit dem Sie eine Rundfahrt durch den Park machen können. Wenn ich das gewollt hätte, hätte ich es Ihnen ausdrücklich gesagt. Kehren Sie sofort zur Fifth Avenue zurück!«
Der Fahrer rammte den Fuß aufs Bremspedal, so dass Abbington-Westlake von seinem Sitz rutschte. Als er sich von seinem Schreck erholt hatte, blickte er in die kalten Augen eines offensichtlich wütenden Isaac Bell.
»Ich warne Sie, Bell, ich habe Freunde, die mir jederzeit zu Hilfe kommen.«
»Ich werde Ihnen keine wohlverdiente rechte Gerade auf die Nase verpassen, weil Sie mich an Yamamoto Kenta verraten haben, wenn Sie mir eine Frage beantworten.«
»Waren Sie es, der Yamamoto getötet hat?«, fragte der Engländer furchtsam.
»Er ist in Washington gestorben. Zu der Zeit war ich in New York.«
»Haben Sie seinen Tod angeordnet?«
»Ich gehöre nicht zu Ihrer Sorte«, sagte Bell.
»Wie lautet Ihre Frage?«
»Wer immer dieser Spion ist, der auf eigene Rechnung arbeitet, er handelt auf jeden Fall seltsam, finde ich. Sehen Sie sich das mal an.«
Er zeigte Abbington-Westlake den kurzen Brief. »Das hat er bei der Leiche meines Detektivs zurückgelassen. Weshalb könnte er das getan haben?«
Der Engländer las den Text. »Offenbar schickt er Ihnen eine Nachricht.«
»Würden Sie so etwas tun?«
»Mit solchen kindischen Spielchen habe ich nichts im Sinn.«
»Würden Sie meinen Mann aus Rache töten?«
»Rache ist ein Luxus, den man sich in meinem Gewerbe nicht leisten kann.«
»Und als Drohung? Um mich aufzuhalten?«
»Er hätte Sie töten sollen, dann hätte alles ein Ende gehabt.«
»Würden Sie zu solchen Mitteln greifen?«
Abbington-Westlake lächelte. »Ich würde empfehlen, dass erfolgreiche Spione möglichst unsichtbar sind. Idealerweise kopiert man einen geheimen Plan, anstatt ihn zu stehlen, so dass der Feind niemals erfährt, dass man sich in seinem Besitz befindet. Sollte der Tod eines Feindes unvermeidbar sein, dann sollte es so aussehen wie ein Unfall. Herabfallender Schutt auf einer Baustelle kann einen Menschen zerschmettern, ohne Verdacht zu erwecken. Ein Stich mit einer Hutnadel ins Gehirn ist ein Signal.«
»Von der Hutnadel war in den Zeitungen niemals die Rede«, sagte Bell eisig.
»Man kann schließlich zwischen den Zeilen lesen«, entgegnete der Engländer. »Wie ich Ihnen bereits im Knickerbocker sagte: Willkommen in der Welt der Spionage, Mr Bell. Sie haben schon eine Menge gelernt. Ihr Gefühl sagt Ihnen, dass der unabhängig agierende Spion nicht in erster Linie Spion ist.«
»Er denkt nicht wie ein Spion«, sagte Bell. »Er denkt wie ein Gangster.«
»Wer wäre dann besser geeignet als ein Detektiv, um einen Gangster zu fangen? Guten Tag, Sir. Darf ich Ihnen eine gute Jagd wünschen?« Er stieg aus dem Taxi und entfernte sich in Richtung Fifth Avenue.
Bell kehrte eilends zum Knickerbocker Hotel zurück und rief Archie Abbott zu sich.
»Fahr sofort nach Newport rauf, zur Torpedofabrik.«
»Die Jungs aus Boston sind doch schon …«
»Ich will dich dort haben. Ich habe bei dieser Attacke ein seltsames Gefühl.«
»Was für ein Gefühl?«
»Was, wenn das Ganze nun gar kein Sabotageakt war? Sondern ein Raubüberfall? Bleib so lange dort, bis du genau weißt, was sie mitgenommen haben.«
Er begleitete Archie zum Zug im Grand Central Terminal und kehrte dann nachdenklich in sein Büro zurück. Abbington-Westlake hatte seinen Verdacht bestätigt. Der Spion war in erster Linie ein Gangster. Aber Commodore Tommy konnte es niemals sein. Der Gopher hatte sein ganzes bisheriges Leben in den engen, verwinkelten Straßen und Gassen von Hell’s Kitchen verbracht und dort sein Unwesen getrieben. Die Antwort musste eher bei Louis Loh zu suchen sein. Er konnte der Tong sein. Sogar der Spion. Vielleicht war es das, was Louis in seinen Augen von allen anderen unterschied: Er handelte, als verfolge er ein ganz bestimmtes Ziel. Es wurde Zeit, ihm dazu einige Fragen zu stellen.
Bell holte Louis Loh spätnachts vom Brooklyn Navy Yard ab und fesselte ihm die Hände auf dem Rücken.
Loh erlebte seine erste Überraschung, als Bell ihn zum Fluss hinunterführte, anstatt ihn in einen Lastwagen oder ein Automobil zu setzen. Sie warteten am Wasser. Hinter ihnen ragte Hull 44 in den Nachthimmel. Der Wind trug den Klang der Schiffsmotoren, der flatternden Segel, der Dampfpfeifen und Nebelhörner zu ihnen herüber. Abgedunkelt bis auf ihre Fahrtbeleuchtung näherte sich Lowell Falconers Turbinenjacht Dyname beinahe lautlos dem Ufer.
Matrosen halfen Bell und seinem Gefangenen an Bord, ohne ein Wort zu sprechen. Die Jacht kreuzte in den Fluss und nahm stromabwärts Fahrt auf. Sie fuhr unter der Brooklyn Bridge hindurch, passierte die Battery und beschleunigte auf der Upper Bay.
»Wenn Sie vorhaben, mich über Bord zu werfen«, sagte Louis Loh, »sollten Sie nicht vergessen, dass ich ganz gut schwimmen kann.«
»Auch mit den Fesseln?«
»Ich dachte mir, dass Sie sie mir abnehmen, weil Foltern nicht Ihr Stil ist.«
Der Steuermann steigerte das Tempo auf dreißig Knoten. Bell brachte Loh in die abgedunkelte Kabine, wo sie sich geschützt vor dem Wind und der Gischt schweigend hinsetzten. Die Dyname überquerte die Lower Bay. Bell sah das Lichtzeichen des Feuerschiffs durchs Bullauge. Als die Dyname mit den ersten hohen Atlantikwellen Bekanntschaft machte, fragte Louis Loh: »Wohin bringen Sie mich?«
»Aufs Meer.«
»Wie weit aufs Meer?«
»Etwa fünfzig Meilen.«
»Dafür brauchen wir die ganze Nacht.«
»Nicht mit diesem Schiff.«
Der Steuermann ging auf volle Kraft. Eine Stunde verging. Dann wurden die Turbinen gedrosselt, die Jacht wurde langsamer und sank tiefer in die Wellen ein. Plötzlich stieß sie gegen ein hartes Hindernis und stoppte vollständig. Bell ergriff Louis’ Arm und vergewisserte sich, dass er die Handschellen nicht auf irgendeine Art und Weise geöffnet hatte, und führte ihn dann aufs Deck hinaus. Stumme Matrosen halfen ihnen beim Umsteigen auf das Holzdeck einer Schute. Dann wendete die Dyname und entfernte sich mit schneller Fahrt. Nach wenigen Minuten waren nur noch die Flammen zu sehen, die gelegentlich aus ihrem Schornstein schlugen, und schon bald verschwand die Jacht vollständig in der Dunkelheit.
»Was nun?«, fragte Louis Loh. Weiße Schaumkronen leuchteten im Sternenschein auf den Wellenkämmen. Die Schute wiegte sich in der Dünung des Atlantiks.
»Und jetzt klettern wir ein wenig.«
»Klettern? Was meinen Sie? Wo?«
»Auf diesen Mast.«
Bell lenkte Louis’ Blick auf den Gittermast. Die luftige Konstruktion war so hoch, dass ihre Spitze die Sterne zu berühren schien. »Was ist das? Wo sind wir?«
»Wir befinden uns auf einer Zielschute der US Navy Atlantic Firing Range. Ingenieure haben diesen vierzig Meter hohen Gittermast zu Testzwecken auf der Schute errichtet. Er stellt die neueste Entwicklung auf dem Gebiet der Beobachtungsmasten für Richtschützen auf Dreadnoughts dar.«
Bell kletterte zwei Sprossen hoch, schloss Louis Lohs rechte Handschelle auf und legte sie sich ums rechte Fußgelenk.
»Bereit? Los geht’s.«
»Wohin?«
»Diese Leitern hinauf. Wenn ich mein Bein anziehe, dann heben Sie Ihren Arm.«
»Warum?«
»Für die Morgendämmerung ist ein Test angesetzt, um zu sehen, wie sich der Mast unter Schlachtbedingungen bei einem Beschuss mit Zwölf-Zoll-Geschützen verhält. Jeder Spion, der sein Geld wert ist, würde alles dafür geben, um diesem Test beizuwohnen. Also los, packen wir es an.«
Bis zur Mastspitze war es eine lange Kletterpartie, aber keiner der beiden Männer atmete auch nur einen Deut schneller, als sie die Aussichtsplattform erreichten. »Sie sind hervorragend in Form, Louis.« Bell löste die Handschelle von seinem Fußknöchel und hängte sie dafür an eine der röhrenförmigen Verstrebungen des Mastes.
»Was jetzt?«
»Wir warten auf die Morgendämmerung.«
Ein kalter Wind kam auf. Der Mast schwankte, als die Böen durch die Gitterkonstruktion pfiffen.
Beim ersten Licht des Tages nahm die Silhouette eines Schlachtschiffes am Horizont Gestalt an.
»Die New Hampshire«, sagte Bell. »Sie erkennen sie gewiss an ihren drei Schornsteinen und dem altmodischen Rammsporn. Sie werden sich erinnern, dass sie mit 7- und 8-Zoll-Geschützen sowie vier 12-Zoll-Geschützen bestückt ist. Es wird sicher gleich losgehen.«
Auf dem Schlachtschiff zuckte ein roter Blitz auf. Ein Fünfhundert-Pfund-Geschoss donnerte wie ein Güterzug vorbei. Louis duckte sich. »Was?«, brüllte er. »Was?« Jetzt erst erreichte sie der Geschützknall.
Ein weiterer Blitz. Ein weiteres Geschoss raste vorbei, diesmal jedoch erheblich näher.
»Bald haben sie die richtige Entfernung!«, erklärte Bell seinem unfreiwilligen Begleiter.
Das 12-Zoll-Geschütz blitzte rot auf. Ein Geschoss schlug in einem Funkenregen knapp zwanzig Meter unter ihnen ein. Der Mast erbebte, Louis Loh jammerte: »Sie sind wahnsinnig!«
»Es heißt, diese Konstruktion sei erstaunlich stabil«, erwiderte Bell.
Weitere Geschosse rauschten vorüber. Als wieder eines das angepeilte Ziel traf, schlug Louis die Hände vors Gesicht.
Nicht lange, und der Himmel hatte sich so weit aufgehellt, dass Bell seine goldene Uhr lesen konnte. »Nur noch ein paar einzelne Schüsse. Danach sollen Salven abgefeuert werden. Ehe sie die Übung mit einigen Breitseiten beenden.«
»Okay, okay. Ich gebe zu, ich bin ein Tong.«
»Sie sind mehr als ein Tong«, widersprach Bell eisig. Er wurde durch einen überraschten Ausdruck auf Louis Lohs sonst so unbeweglichem Gesicht belohnt.
»Was meinen Sie?«
»Sun-tzu über die Kunst des Krieges. Ich darf Ihren Landsmann zitieren: ›Übe die Kunst der Verstohlenheit, so dass du unsichtbar bist.‹«
»Ich weiß nicht, was Sie meinen.«
»Sie haben mir im Zug gesagt: ›Sie denken, dass wir alle Opiumsüchtige oder Tong-Gangster sind.‹ Da klangen Sie wie jemand, der alles von einer höheren Warte aus betrachtet. Wer sind Sie wirklich?«
Eine Salve donnerte heran. Zwei Geschosse rasten durch die Konstruktion. Noch stand der Mast, aber er schwankte heftig hin und her.
»Ich bin kein Tong.«
»Gerade haben Sie mir noch das Gegenteil gestanden. Also was ist jetzt richtig?«
»Ich bin kein Gangster.«
»Hören Sie auf, mir zu erzählen, was Sie nicht sind, und verraten Sie endlich, was Sie sind.«
»Ich bin Mitglied der Tongmenghui.«
»Was ist die Tongmenghui?«
»Die Chinesische Revolutionsarmee. Wir sind eine geheime Widerstandsbewegung. Wir haben uns der Wiederbelebung der chinesischen Gesellschaft verschrieben.«
»Erklären Sie mir das«, verlangte Isaac Bell.
In einem aufgeregten Redeschwall gestand Louis Loh, ein leidenschaftlicher chinesischer Nationalist zu sein und dass er den Plan verfolge, die korrupte Kaiserin zu stürzen. »Sie ist im Begriff, China zu erwürgen. England, Deutschland, ganz Europa und sogar die Vereinigten Staaten zehren von dem, was von der sterbenden chinesischen Nation noch übrig ist.«
»Wenn Sie wirklich ein Revolutionär sind, was haben Sie dann in Amerika zu suchen?«
»Dreadnought-Schlachtschiffe. China muss eine moderne Flotte aufbauen, um koloniale Eindringlinge abzuwehren.«
»Indem die Große Weiße Flotte in San Francisco versenkt wird?«
»Das geschah nicht für China! Das geschah für ihn.«
»›Ihn‹? Von wem reden Sie?«
Mit einem besorgten Blick zur New Hampshire sagte Loh: »Es gibt einen Mann – einen Spion. Er bezahlt dafür. Nicht mit Geld, sondern mit wertvollen Informationen über die Dreadnoughts der anderen Nationen. Wir, Harold Wing und ich, geben diese Informationen an die chinesischen Schiffsingenieure weiter.«
»Und Sie bezahlen dafür, indem Sie tun, was er von Ihnen verlangt.«
»Genau, Sir. Können wir jetzt wieder nach unten klettern?«
Bell wusste sofort, dass er damit einen wichtigen Durchbruch in diesem Fall erzielt hatte. Dies war der freie Spion, den Yamamoto Kenta als Gegenleistung für seine ungehinderte Flucht verraten wollte. Louis Loh hatte ihn wieder näher an ihn herangeführt.
»Demnach arbeiten Sie für drei Herren. Die chinesische Marine. Für Ihre Tongmenghui-Widerstandsbewegung. Und für den Spion, der Sie dafür bezahlt hat, das Munitionslager auf Mare Island in die Luft zu sprengen. Wer ist dieser Mann?«
Ein weiterer Güterzug rumpelte in Form einer schweren Geschützgranate vorbei. Die Schute mitsamt dem Turm tanzte geradezu auf den Wellen.
»Ich weiß nicht, wer er ist.«
»Wer ist Ihr Mittelsmann? Wer gibt Ihnen die Befehle und die Informationen?«
»Wir haben Briefkästen. Er ließ uns Informationen, Befehle und Geld für notwendige Ausgaben mittels Briefkästen zukommen.« Loh zog den Kopf ein, als die nächste Granate einschlug. »Bitte, können wir endlich von dem Mast runtersteigen?«
Am Horizont – im funkelnden Licht der ersten Sonnenstrahlen – richteten sich sämtliche Geschützrohre der New Hampshire auf den Gittermast. »Jetzt kommt eine Breitseite«, kündigte Bell an.
»Sie müssen mir glauben.«
Bell sagte: »Ich hege durchaus Sympathien für Sie, Louis. Sie haben nicht auf mich geschossen, bis ich von dem Zug abgesprungen bin.«
Louis Loh blickte ängstlich zu dem Schlachtschiff hinüber. »Ich habe nicht Ihr Leben geschont. Ich hatte nur nicht den Mut abzudrücken.«
»Ich bin fast bereit, Sie runterzulassen, Louis. Aber Sie haben mir nicht alles erzählt, was Sie wissen. Ich glaube nicht, dass alles mit der Post gekommen ist.«
Louis Loh warf einen weiteren verzagten Blick auf das weiße Schlachtschiff und brach völlig zusammen. »Commodore Tommy Thompson hat uns befohlen, das Munitionslager auf Mare Island anzugreifen.«
»Wie sind Sie mit der Gopher-Gang zusammengekommen?«
»Der Spion hat die Hip Sing entsprechend geschmiert, damit sie zuließen, dass wir uns in ihrem Namen an Commodore Tommy Thompson heranmachten, indem wir so taten, als seien wir Mitglieder der Tong.«
Bell reichte Louis Loh ein schneeweißes Taschentuch. »Winken Sie damit.«
Er half Loh beim Abstieg. Als sie wieder auf der Schute standen, näherte sich ein Boot mit vor Wut rasenden Navy-Offizieren. »Wie zum Teufel sind Sie …?«
»Ich dachte schon, die Schießerei würde niemals aufhören. Wir haben da oben allmählich Hunger bekommen.«
»Ich glaube nicht eine Sekunde lang, dass Commodore Tommy Thompson der Spion ist«, sagte Isaac Bell zu Joseph Van Dorn. »Aber ich würde fast darauf wetten, dass Tommy eine recht gute Vorstellung hat, wer es ist.«
»Das würde ich ihm auch raten«, sagte Van Dorn. »Auf seinem Hoheitsgebiet eine Razzia durchzuführen kostet uns Unmengen von Geld, das an die Polizei geht, und einige sehr teure Gefälligkeiten, um Tammany Hall vom Protestieren abzuhalten.« Der hochgewachsene Detektiv und sein athletischer Boss beaufsichtigten die Vorbereitungen für die Razzia aus dem Inneren eines Marmon, der gegenüber Commodore Tommy’s Saloon in der West 39th Street parkte.
»Aber die Eisenbahnlinien werden uns lieben«, sagte Bell, und der Boss räumte ein, dass sich mehrere Eisenbahnpräsidenten bereits persönlich bei ihm dafür bedankt hatten, dass er die schlimmsten Plünderungen durch die Gopher-Gang erheblich eingeschränkt hatte. »Betrachten Sie das Ganze doch mal von der positiven Seite – nach dieser Aktion dürfte die Organisation unseres geheimnisvollen Spions um einiges geschrumpft sein.«
»Darauf will ich mich nicht verlassen«, sagte Isaac Bell eingedenk der Explosion in der Newport Torpedo Factory, die erfolgt war, während er im Zug nach San Francisco gesessen hatte.
Ein Dutzend Eisenbahnpolizisten führten die Razzia durch, brachen die Saloontür auf, zertrümmerten das Mobiliar, zerschmetterten Flaschen und schlugen Bierfässer ein. Schüsse fielen. Harry Warrens Leute, die mit Handschellen bereitstanden, trieben ein Dutzend Gophers in einen Gefängniswagen des Police Departments.
»Tommy hat sich mit einer Kugel im Arm im Keller verkrochen«, lautete Harrys Meldung an Bell und Van Dorn. »Er ist allein. Vielleicht ist er jetzt vernünftig genug, um zuzuhören und zu reden.«
Bell ging als Erster die Holztreppe in einen feuchten Keller hinunter. Tommy Thompson hing zusammengesunken auf einem Stuhl – wie ein Berg, der von einem Erdbeben zum Einsturz gebracht worden war. Eine Pistole befand sich in seiner Hand. Er schlug die Augen auf, starrte mit trübem Blick auf Bells Waffe, die auf seinen Kopf zielte, und ließ seine eigene Pistole auf den festgestampften Lehmboden fallen.
»Ich bin Isaac Bell.«
»Was ist in die Van Dorns gefahren?«, fragte Tommy ungehalten. »Es hieß doch immer leben und leben lassen. Man bezahlt die Cops und kommt sich gegenseitig nicht ins Gehege. Wir hatten ein so schönes System, und jetzt kommen ein paar private Plattfüße und machen alles kaputt.«
»Haben Sie deshalb einen meiner Jungs ins Krankenhaus gebracht?«, fragte Bell mit kalter Stimme.
»Das war nicht meine Idee!«, protestierte Tommy.
»Nicht Ihre Idee?«, wiederholte Bell. »Wer führt denn die Gophers? Wer gibt ihnen die Befehle?«
»Es war nicht meine Idee«, wiederholte Tommy mürrisch.
»Sie erwarten von mir, dass ich glaube, dass sich der berühmte Commodore Tommy Thompson, der jeden Rivalen abserviert hat, um die härteste Bande in New York zu leiten, von jemand anderem herumkommandieren lässt?«
Wut und Scham flackerten hinter Tommys harter Fassade auf. Bell machte sich das zunutze und lachte. »Vielleicht sagen Sie tatsächlich die Wahrheit. Vielleicht sind Sie wirklich nur ein harmloser Saloonwirt.«
»Verdammt noch mal!«, fauchte Tommy Thompson. Er versuchte sich aus dem Sessel hochzustemmen. Der hochgewachsene Detektiv stoppte ihn jedoch mit einer warnenden Geste. »Commodore Tommy nimmt von niemandem Befehle an.«
Bell rief nach Unterstützung, und Harry Warren und zwei seiner Männer kamen die Treppe heruntergepoltert. »Tommy behauptet, es sei nicht seine Idee gewesen, Eddie Tobin zusammenzuschlagen. Jemand habe ihn dazu gezwungen.«
»Jemand?«, wiederholte Harry spöttisch. »War dieser ›Jemand‹, der befohlen hat, einen Van-Dorn-Agenten zu verprügeln, zufälligerweise derselbe Jemand, der dir auch befohlen hat, Louis Loh und Harold Wing loszuschicken, damit sie das Munitionsdepot auf Mare Island in die Luft sprengen?«
»Er hat es mir nicht befohlen. Er hat mich dafür bezahlt. Das ist etwas ganz anderes.«
»Wer?«, wollte Bell wissen.
»Der Bastard ist abgehauen und lässt mich nun den Mist ausbaden.«
»Wer?«
»Der verdammte Eyes O’Shay. Der war es.«
»Eyes O’Shay?«, fragte Harry Warren ungläubig. »Hältst du uns für Idioten? Eyes O’Shay ist seit fünfzehn Jahren tot!«
»Nein, das ist er nicht.«
»Harry«, schnappte Bell. »Wer ist Eyes O’Shay?«
»Ein junger Gopher, vor Jahren. Ein ziemlich übler Bursche. Aufsteiger. Bis er verschwand.«
»Ich habe Gerüchte gehört, er sei zurückgekehrt«, murmelte einer von Harrys Detektiven. »Ich hab’s aber nicht geglaubt.«
»Ich glaub’s immer noch nicht.«
»Ich schon«, sagte Isaac Bell. »Der Spion verhält sich schon die ganze Zeit wie ein Gangster.«